Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Nazis an der Macht?
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
kaum hat das Jahr begonnen, durchzucken Schockwellen die europäische Politik. Weil die Parteien der Mitte in Österreich sich heillos zerstritten haben, hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen dem Chef der rechtsextremen FPÖ den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt: Herbert Kickl will ein Bündnis mit der konservativen ÖVP als Juniorpartnerin schmieden und hat beste Chancen, das Kanzleramt in Wien zu übernehmen. Von Berlin über London bis Paris löst die Entwicklung Besorgnis aus: Gelangen nun in einem zwar kleinen, aber zentralen EU-Land Nazis an die Macht?
In aufgeregten Momenten wie diesem empfiehlt es sich, durchzuatmen und Fakten vor Mutmaßungen zu stellen. Also: Ist Kickl, 56 Jahre alt, gebürtig aus Villach, Studienabbrecher, ehemaliger Redenschreiber Jörg Haiders, später Parteikarrierist und Innenminister, verwickelt in mehrere Affären und unrühmlich entlassen, dann Spitzenkandidat der FPÖ und mit ihr Sieger der Nationalratswahl im September, ist dieser Mann ein neuer Nazi?
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Nein, ist er nicht. Weder ist bekannt, dass Herr Kickl die Demokratie abschaffen noch dass er einzelne Bevölkerungsgruppen ausrotten oder andere Länder unterjochen will. Mit dieser Feststellung enden die beruhigenden Gewissheiten aber schon. Mit Worten und Taten hat der Mann sich in den vergangenen Jahren am äußersten rechten Rand positioniert:
- Er vertrat ernsthaft die Ansicht, dass "das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht".
- Er prägte die Parole "Mehr Mut für unser Wiener Blut – zu viel Fremdes tut niemandem gut!"
- Er trat bei einem rechtsextremen Kongress als Redner auf und sympathisierte mit der "Identitären" Bewegung.
- Er bezeichnete es als "Unsinn", Hitlers Waffen-SS kollektiv schuldig zu sprechen.
- Unter seiner Führung verunglimpfte die FPÖ die Weltgesundheitsorganisation und warf dieser während der Pandemie eine "Gesundheitsdiktatur" vor.
- Gleichzeitig biederte sich die Partei Kremlchef Putin an, lehnte ein Ölembargo gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine ab.
Kickl ist kein Nazi, aber ein Nationalist und Populist, ein Geschichtsklitterer und Rechtsstaatsverächter. Das genügt, um ihn zu einer verdächtigen Person und seine anstehende Regierungsübernahme zu einer gefährlichen Angelegenheit für Europas ohnehin gestresste Demokratien zu machen. Vor allem die Spitzenpolitiker deutscher Mitte-Parteien sollten im Bundestagswahlkampf Lehren aus dem österreichischen Menetekel ziehen. Allerdings nicht so holzschnittartig, wie es nun einige Medien nahelegen. In manchen Kommentaren wird ein bemerkenswerter Vergleich gezogen: Kickl als Regierungschef – das ist doch so, als würde der Deutsche Bundestag Björn Höcke zum Bundeskanzler wählen!
Ist das so? Politikwissenschaftler im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) haben AfD und FPÖ kürzlich in einer Studie verglichen. Sie kommen zu dem Schluss: Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Parteien sind deutlich größer als die Unterschiede. Sie schreiben: "Beide Parteien zeigen eine offene Affinität für rechts-autoritäre Regierungen anderer Staaten sowie eindeutige personelle Überschneidungen mit dem rechtsextremen Milieu." Und weiter: "Die Wähler beider Parteien teilen eine im nationalen Vergleich kritische Einstellung zu Migration und europäischer Integration, haben geringere Bedenken bezüglich des Klimawandels und eine höhere Populismusaffinität."
Auch die Feindbilder und die Allianzen ähneln sich: Verteufelung der EU und Verachtung demokratischer Institutionen, Diffamierung von Migranten und Nähe zu Diktatoren wie Putin. Zudem gibt es personelle Überschneidungen mit rechtsextremen Gruppen. Ziemlich viele Parallelen, stimmt schon.
Einen gewichtigen Unterschied jedoch gibt es auch – das ist der Umgang mit den beiden Parteien. Die Autoren der KAS-Studie beschreiben ihn so: "Während die AfD trotz immer größerer Zustimmung an den Wahlurnen, vor allem im Osten Deutschlands, nach wie vor von jeder Regierungsbildung ausgeschlossen wird, kann die FPÖ auf mittlerweile jahrzehntelange Beteiligung an Landes- und Bundesregierungen zurückblicken. An all das, was im deutschen Diskurs rund um die AfD nach wie vor für helle Aufregung sorgt, hat man sich in Österreich weitgehend gewöhnt."
Mangelnde Gewöhnung als einzige Hürde gegen die Machtergreifung von Rechtsextremisten? Bei dem Gedanken mag man erschaudern – oder ihn als Warnung begreifen: Populisten und Extremisten kriegt man nicht klein, indem man sie entweder verteufelt oder als "normale" Kräfte behandelt, ihnen womöglich sogar nacheifert. Vielmehr muss man sie inhaltlich stellen, ihnen mit besseren Argumenten widersprechen, ihre Programme Punkt für Punkt als das entlarven, was sie sind: demokratiegefährdende, wohlstands- und wachstumsschädliche sowie in vielerlei Hinsicht inhumane Parolen-Sammelsurien. Und wo sie Gesetze brechen, sind sie von einem strengen Rechtsstaat konsequent zur Rechenschaft zu ziehen.
Vor allem aber müssen Parteien der Mitte beweisen, dass sie bessere Arbeit leisten als die Pinocchio-Politiker – ohne zermürbenden Dauerstreit, naives Gutmenschentum und Vernachlässigung unbequemer Milieus. In Abwandlung eines Satzes von Sigmar Gabriel, der ein feines Gespür für Stimmungen hat, lässt sich sagen: Demokraten müssen auch dahin gehen, wo es laut ist, wo es brodelt, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Sie müssen dahin, wo es anstrengend ist. Denn da ist das Leben.
Diese Mühe wollten weder die Sozialdemokraten noch die Konservativen in Österreich auf sich nehmen. Stattdessen meinten sie, mithilfe der Mehrheitsbeschafferin Neos einfach weiterwursteln zu können. Das hat nicht funktioniert, nun stehen sie gelackmeiert da – und das ganze Land hat den Schaden. "Es ist ein historisches Versagen", schreibt mein Kollege Patrick Diekmann. Friedrich Merz, Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner sollten sich dieses Drama genau ansehen.
Für immer Charlie
Welch ein Schock: Als am 7. Januar 2015 zwei Islamisten in die Pariser Redaktionsräume des Satiremagazins "Charlie Hebdo" eindrangen und zwölf Menschen erschossen, war das Entsetzen nicht nur in Frankreich groß. Ganz Europa, ja, die gesamte westliche Welt blickte fassungslos auf das Massaker, mit dem sich die Täter für Mohammed-Karikaturen rächen wollten, die sie als blasphemisch empfanden. "Je suis Charlie" – "Ich bin Charlie" – wurde daraufhin zur Solidaritätsbekundung all jener, die Meinungs- und Pressefreiheit für unabdingbar halten. Auch für die Redaktion von "Spiegel Online", der ich damals vorstand.
Für Frankreich markierte der Anschlag zugleich den Beginn einer Reihe von mörderischen Terrortaten: Im November folgte der Angriff auf den Konzertsaal Bataclan mit 130 Toten und rund 400 Verletzten. Im Jahr 2016 tötete ein Islamist in Nizza 86 Menschen mit einem Lkw und verletzte 450 teils schwer. Im Oktober 2020 enthauptete ein Tschetschene den Geschichtslehrer Samuel Paty, weil der die umstrittenen Karikaturen im Unterricht thematisiert hatte.
Und heute, zehn Jahre danach? Haben die Redakteure des Satireblatts eine Sonderausgabe mit der Schlagzeile "Nicht totzukriegen!" produziert. Sie zeigt auf vier Seiten Karikaturen zu Gott und zur Rolle der Religionen, die im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs ausgewählt wurden. Zwar geht es "Charlie Hebdo" nicht anders als anderen Print-Publikationen: Die Abonnentenzahl ist (von zeitweise 240.000 nach dem Attentat) auf 30.000 gesunken, weitere 20.000 Ausgaben werden am Kiosk verkauft.
Doch die symbolische Bedeutung der Zeitschrift ist ungebrochen. Im französischen Fernsehen und Radio laufen heute Sondersendungen, der Kanal "France 2" will den Abend zwei Fragen widmen: "Sind wir alle immer noch Charlie? Wo stehen wir bei der Meinungsfreiheit?" Mein Eindruck: Charlie bleiben wir immer, aber um die Meinungsfreiheit ist es angesichts von TikTok und X leider nicht besser bestellt.
Zahlen des Tages
38/88
In einer aktuellen Umfrage spricht sich die Mehrheit der Befragten für ein Verbot von TikTok aus: 38 Prozent sind dafür, 33 Prozent dagegen, 29 Prozent unentschlossen. 88 Prozent wünschen sich eine stärkere Regulierung der sozialen Medien, weil diese die menschliche Psyche beeinträchtigen.
Gebietsverluste und Gegenoffensiven
Ambivalent klingen die jüngsten Nachrichten aus der kriegsgebeutelten Ukraine: Einerseits stehen die Verteidiger im Osten schwer unter Druck, Putins Truppen rücken unerbittlich auf die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk vor und erzielen Geländegewinne. Andererseits scheint den ukrainischen Streitkräften im Gebiet um das westrussische Kursk eine Gegenoffensive geglückt zu sein, die die Kremltruppen und deren nordkoreanische Helfershelfer überrumpelt hat. So sehr man es Wolodymyr Selenskyj und seinen Strategen wünscht, sich auf diese Weise ein wenig Verhandlungsmasse zu erobern – es bleibt die Befürchtung, dass der Preis dafür unverhältnismäßig hoch ist. Warum, erklärt Ihnen mein Kollege Simon Cleven.
Ohrenschmaus
Ich habe immer noch Weihnachten im Gemüt. Und im Ohr einen Wurm.
Lesetipps
Die Grünen sind in ihre Wahlkampftour gestartet. Kanzlerkandidat Robert Habeck mahnt die Demokraten, zusammenzustehen – teilt aber auch aus, wie unser Reporter Johannes Bebermeier berichtet.
In unserem Format "Frag mich" beantworten außergewöhnliche Menschen Leserfragen vor der Kamera. Was der Kampfpilot Gerald Groß erzählt, hat viele Zuschauer beeindruckt.
Als "Tagesanbruch"-Autoren freuen wir uns täglich über 300.000 Leserinnen und Leser. Meine Kollegin Melanie Rannow kann darüber nur müde lächeln. Ihr Bananenartikel hat schon zweieinhalb Millionen Abrufe erreicht.
Zum Schluss
Wie sich die Dinge doch ändern können …
Ich wünsche Ihnen einen frohen Tag ohne Sturmschäden. Morgen kommt der Tagesanbruch von unserem Nachrichtenchef Mauritius Kloft, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.