Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Es wird immer schlimmer
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Heute bin ich früh unterwegs, draußen dämmert's noch. Muss mit der Bahn nach Süddeutschland. Am Berliner Hauptbahnhof hatten die ersten Imbissstände aber zum Glück schon geöffnet, hab schnell was eingepackt, bevor der Zug seltsamerweise pünktlich einrollte: Becher Kaffee, Wasser, Sandwich, ein bisschen Obst. Ich mag Ananas.
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Im Zug ist's noch relativ leer, die Massen steigen wohl erst später zu. Also habe ich genug Zeit, mir den Schlamassel anzuschauen, den ich in meiner Gedankenlosigkeit angerichtet habe: einen Wegwerfbecher (immerhin ohne Deckel, den hab ich zurückgegeben), eine Plastikflasche, mindestens einen halben Meter Klarsichtfolie, eine Plastikschale (mit Deckel) und dann auch noch die Tüte (aus Papier, okay). Wenn ich den Verpackungsberg, den ich mit meinem mobilen Frühstück verursache, gleich in den Mülleimer neben den Zugtoiletten stopfe, ist der schon zu einem Viertel gefüllt. Und wenn die Dame gegenüber ihre beiden Joghurtbecher und der Herr dort hinten seine diversen Behältnisse vom Asia-Imbiss auch noch hinterherwirft, ist der Eimer voll.
Vor meinem inneren Auge lasse ich all die Bahnfahrer vorüberziehen, die heute Zigtausende Plastikflaschen, Plastikbecher, Plastikfolien und Plastikirgendwas kaufen und wenig später wegwerfen werden. Und dann die Pendler an den Autobahnraststätten, die Passagiere auf den Flughäfen und die Einkäufer in den Supermärkten: Alle gemeinsam verhalten wir uns wie die Ferkel.
Fast drei Milliarden Einweg-Kaffeebecher werden jedes Jahr in Deutschland verbraucht: gekauft, ausgetrunken, weggeworfen. Ob mit Pfand oder ohne spielt keine Rolle, sie landen so oder so fast alle im Müll. Dort werden sie keinesfalls recycelt, wie wir Einkäufer uns das in unserem naiven Gutmenschentum vorstellen, sondern in der Regel verbrannt. Alles andere wäre viel zu teuer, schließlich sind die Becher beschichtet, damit der heiße Kaffee sie nicht sofort aufweicht. Und wenn sie verbrannt worden sind, wobei klimaschädliches CO2 entsteht, werden neue Becher hergestellt, wofür noch mehr Holz, Plastik, Wasser und Energie notwendig sind. So wie auch für all die anderen Kunststoffprodukte, die uns an jeder Ecke angeboten werden. Die wir gedankenlos kaufen, wegwerfen und so den Planeten mit immer mehr Müll überschwemmen.
Sage und schreibe 430 Millionen Tonnen Kunststoff werden weltweit hergestellt – pro Jahr. Doppelt so viel wie noch im Jahr 2000. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen rechnet damit, dass sich die Menge bis 2040 verdoppeln und bis 2060 verdreifachen wird. Daran wird auch das bereits erfolgte EU-weite Verbot von Plastikgeschirr und -besteck nichts ändern.
Und gerade einmal neun (!) Prozent aller Plastikprodukte lassen sich mechanisch recyceln. Bei allen anderen wäre es zu aufwendig, weil sie viele verschiedene Chemikalien enthalten. Also werden sie verbrannt, in Mülldeponien zu immer höheren Bergen gestapelt oder irgendwo in die Umwelt gekippt. Die Weltmeere sind voll von Plastik; Fische und Algen sterben daran.
Nachdem ich mir das nun also alles vorgestellt habe, während ich durch die Morgensonne rolle, frage ich mich: Muss das sein? Sind wir Zweibeiner wirklich so behämmert, dass wir unseren eigenen Lebensraum und den aller anderen Lebewesen mutwillig auf Jahrzehnte hinaus vermüllen?
Vielleicht heben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nun den Zeigefinger und wenden ein, dass man all das Plastikzeugs ja nicht kaufen muss. AUCH SIE NICHT, HERR HARMS, DER SIE HIER IM TAGESANBRUCH SO GERN DIE MORALKEULE SCHWINGEN! Natürlich haben Sie recht. Niemand ist gezwungen, Kunststoffverpackungen zu kaufen. Trotzdem machen es (fast) alle. Oder haben Sie wirklich schon mal an der Käsetheke Ihre Tupperbox über den Tresen gereicht, damit Ihnen der Gouda nicht in Folie gewickelt wird? Und wenn es schnell gehen muss, morgens am Bahnhof, haben Sie dann immer und überall Ihren eigenen Mehrwegbecher zur Hand? Sehen Sie, (fast) niemand ist perfekt.
Selbst die lautesten Appelle helfen nicht, uns aus unserer Bequemlichkeit zu reißen. Nur eines hilft: Strafen. Plastikverpackungen jedweder Art müssen so teuer sein, dass wir es uns zweimal überlegen, ob wir sie uns wirklich leisten. Das wiederum geht nur über eine staatliche Abgabe. Und genau darüber diskutieren die Parlamentarier des Bundestages heute. Das Thema kommt allerdings in den Schlagzeilen der anderen Medien kaum vor, dort werden Sie heute eher über Migration, Wohnraummangel, China-Strategien und all die anderen Themen lesen, die in diesem Land seit Wochen hoch und runtergebetet werden. Dabei ist das Plastikproblem mindestens genauso dringend – mit dem Unterschied, dass es sich viel schneller lösen ließe, wenn die Abgeordneten es wirklich wollten.
Leider sind die Lobbyisten der Chemie- und Kunststofffirmen pfiffige Leute mit dicken Portemonnaies. Deshalb hat sich bis dato keine Partei getraut, das Verbot sämtlicher Einwegverpackungen zu fordern. Noch nicht einmal die Grünen. Immerhin eine Sonderabgabe für Produkte aus Einwegplastik hat der Bundestag im Frühjahr beschlossen. Nun müssen die Parlamentarier nur noch entscheiden, wie hoch die Abgabe sein soll. Kommt alles wie es immer kommt, werden es für jedes Produkt – ob Becher oder Flasche – wohl nur ein paar Cent sein. Dann wird sich nichts ändern, denn das spüren wir Einkäufer kaum.
Falls Sie nun wie ich denken: Wie schön wäre es, die Gesetzesmacher bewiesen endlich einmal Mut und würden sich zu einer wegweisenden Regel aufraffen – so etwas in der Art wie 3 Euro pro Einwegbecher – dann sollten Sie und ich uns vielleicht erst mal an die eigene Nase fassen und uns vornehmen, beim nächsten Einkauf oder Imbiss konsequenter zu sein. "Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass Menschheitsprobleme gelöst werden. Sie werden von einer gelangweilten Menschheit liegen gelassen", hat Kurt Tucholsky geschrieben. Wäre doch schön, wir könnten den alten Spötter eines Besseren belehren, oder?
Ohrenschmaus
Apropos Plastik: Kennen Sie den?
Zitat des Tages
"Demokratien können untergehen. Sie sterben, wenn es Politiker – auf allen Ebenen – versäumen, aufzustehen und laut zu widersprechen, wenn die Freiheiten und Rechte des Einzelnen in Gefahr sind."
Ringen um den Migrationskurs
Auf nahezu allen Ebenen wird heute um den weiteren Kurs in der Migrationspolitik gerungen. Der Bundestag debattiert zunächst über den AfD-Antrag "Bewältigung der Massenmigration" und befasst sich im Anschluss in einer Aktuellen Stunde mit der Unions-Forderung nach einem "Deutschland-Pakt zum Stopp der irregulären Migration".
In Brüssel steht das Thema beim Treffen der EU-Innenminister auf der Tagesordnung. Dort wollen die deutsche Ressortchefin Nancy Faeser und ihre Amtskollegen darüber beraten, warum es mit der großen europäischen Asylrechtsreform nicht vorangeht, auf die man sich bereits im Juni verständigt hat. Wobei der Grund bekannt ist: Bislang blockieren die Grünen deren letzten großen Baustein, die Krisenverordnung, die im Fall einer besonders großen Zahl von Flüchtlingen noch rigidere Maßnahmen erlauben würde.
Spätestens hier kommt Annalena Baerbock ins Spiel: Hatten die Grünen ihr Veto bislang damit begründet, dass sie keine weitere Einschränkung der Rechte von Geflüchteten wollten, so überraschte die Außenministerin zuletzt mit dem Argument, die Verordnung biete Staaten wie Italien oder Griechenland noch mehr Anreiz, unregistrierte Flüchtlinge nach Deutschland weiterzuschicken. So verschleppte sie eine Einigung.
Gestern hat dann Kanzler Olaf Scholz ein Machtwort gesprochen (auch wenn die Ampelleute es nicht so nennen): Deutschland wird sich einer EU-Regelung nicht mehr in den Weg stellen. Was Innenministerin Faeser zu dem Hin und Her sagt und wie die Bundesregierung nun mit der Migrationsherausforderung weiter umgehen will, erklärt Sie im Interview mit unseren Reporterinnen Annika Leister und Sara Sievert.
Pfeil gegen Putin
Im vergangenen Monat haben die USA den Weg freigemacht, heute wird der Deal in Berlin besiegelt: Israel verkauft Deutschland sein gemeinsam mit den Amerikanern entwickeltes Raketenabwehrsystem Arrow 3. Mit der Unterzeichnung einer Verpflichtungserklärung geben Verteidigungsminister Boris Pistorius und sein israelischer Kollege Joav Galant grünes Licht für den Beginn der Produktion. Das System ist für die Abwehr von Langstreckenraketen konzipiert und kostet knapp vier Milliarden Euro. Das Geld kommt aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen, das die Ampelregierung als Reaktion auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine aufgestellt hat.
Die Feinde unseres Feindes sind unsere Freunde
Und auch bei diesem Termin geht es um die Reaktion auf Putins Krieg: Wenn Olaf Scholz heute den kasachischen Präsidenten Kassim-Schomart Tokajew empfängt, soll die Energiepolitik im Mittelpunkt stehen. Deutschland und Kasachstan bauen ihre Zusammenarbeit bei der Produktion von grünem Wasserstoff aus. Morgen diniert der Kanzler dann mit allen Staatschefs der fünf zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan und Tadschikistan. Fast alle sind Autokraten. Was tut man nicht alles, um einen noch schlimmeren Machthaber zu isolieren …
Lesetipps
Tarek Al-Wazir will in Hessen Ministerpräsident werden, doch seine Grünen erfahren derzeit Gegenwind. Im Interview mit unserem Reporter Johannes Bebermeier erklärt er, was er der Ampel in Berlin vorwirft – und was er in Maghreb-Staaten nicht auf dem Marktplatz tun würde.
Putin führt Krieg mit Soldaten und Waffen, aber auch mit Worten: Der Nato wirft er Wortbruch vor, widerrechtlich habe sich das Bündnis nach Osten erweitert und Russland eingekreist. Warum das nichts weiter als Propaganda ist, erklärt die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.
Forscher haben herausgefunden: Irgendwann wird es auf der ganzen Erde zu heiß, um darauf zu leben. Bis dahin ist es allerdings noch ein Weilchen hin.
Zum Schluss
Wissen Sie, was das Schönste am Morgen ist? Wenn man einfach mal aus vollem Herzen lachen kann (Ton unten rechts anklicken!).
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Morgen schreibt David Digili den Tagesanbruch, von mir hören Sie am Samstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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