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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Forensik und Body Farms Wo Leichen für die Forschung verwesen
Mord oder Unfall? Die Aufklärung von Gewalttaten braucht Forschung. Diese geschieht auf Body Farms, wo Körper der Verwesung überlassen werden.
Nachdem der Arzt den Tod ihres Mannes festgestellt hatte, rief seine Frau nicht das Bestattungsinstitut an. Sie verfolgte einen anderen Plan. Denn sie kannte den letzten Wunsch ihres Gatten, der gerne zur Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse beigetragen hätte. Zu Lebzeiten war ihm das in seiner Tätigkeit als Hausmeister nie möglich gewesen. Aber jetzt, nach dem letzten Atemzug, konnte sie ihm diesen Wunsch erfüllen.
Sie brachte seinen Körper nach Carbondale, Illinois, übergab ihn dem Complex for Forensic Anthropology Research (CFAR) der Southern Illinois University. Auf dem Freigelände für Verwesung würde sein Körper zerfallen, genauestens beobachtet von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Studentinnen und Studenten. Sie würden an ihm studieren, wann Zersetzungsprozesse einsetzen, welche Insekten sich auf und in ihm niederlassen oder welche Spuren der Zerfall im Boden unter seinem Körper hinterlässt.
Bekommt Deutschland eine Body Farm?
Diese Erkenntnisse würden sie veröffentlichen – und damit seinen großen Wunsch erfüllen, ein Teil der Forschung zu werden. Und vielleicht würden die Veröffentlichungen ja sogar Kriminalbeamten und Forensikern helfen, Morde aufzuklären und dieser Welt ein Stück mehr Gerechtigkeit zu bringen.
Der betreffende Hausmeister war 2012 einer der ersten Körperspender gewesen, dessen sterbliche Hülle auf dem Gelände des CFAR der Forschung diente. Zuvor hatten die Forscher dort mit Schweinekadavern gearbeitet, die dem menschlichen Körper recht ähnlich sind. Doch letzten Endes eben nur ähnlich. Um die unterschiedlichen Verwesungsprozesse von dicken Leichen, dünnen Leichen, jungen Leichen, alten Leichen, frei liegenden Leichen, tief vergrabenen Leichen, Leichen mit offenen Wunden, verkohlten Leichen oder Leichen von Menschen, die vor ihrem Tod unterschiedliche Medikamente einnehmen mussten, zu verstehen, braucht man eben genau das: unterschiedliche menschliche Körper.
Hinzu kommt, dass eine Leiche, die sieben Tage lang im verschlossenen Kofferraum eines Autos auf einem Parkplatz in der prallen Sonne lag, anders aussieht als ein Verstorbener, der eine Woche nach dem Tod unter einer Schneewehe gefunden wurde. In beliebten Fernsehserien lösen Forensiker Mordfälle mit genau diesem Wissen – doch in der Realität muss es erst einmal mühsam, Leiche für Leiche, zusammengetragen werden.
Sieben wissenschaftliche Einrichtungen für die Verwesungsforschung, umgangssprachlich oft Body Farms genannt, gibt es derzeit in den USA. Seit einigen Jahren bemüht sich die Goethe-Universität Frankfurt um ein entsprechendes Gelände in Deutschland, doch die Hürden sind hoch. Anders als beispielsweise in den USA herrscht bei uns eine Bestattungspflicht sowie in den meisten Bundesländern ein Friedhofszwang.
Große Unterschiede
Hinzu kommt, dass die Bevölkerungsdichte bei uns deutlich höher ist als in den Staaten, die bereits Body Farms betreiben. Und damit werden die Nachbarn zum Problem, denn der Tod ist für uns mit einem starken Tabu belegt. Die Vorstellung, dass auf dem Nachbargrundstück gar unbestattete Leichen herumliegen, wäre für viele kaum zu ertragen.
Muss Deutschland denn überhaupt eine eigene Body Farm betreiben? Können die Gerichtsmediziner hierzulande nicht einfach die Forschungsergebnisse aus anderen Ländern nachlesen? Das funktioniert leider nur begrenzt. Denn das Ökosystem und das Klima unterscheiden sich gravierend von den meisten anderen Orten, an denen Verwesungsforschung betrieben wird.
Die Bedingungen an der Mecklenburgischen Seenplatte sind nun einmal ganz andere als im extrem windigen südlichen Illinois, im subtropischen Florida oder gar im glühend heißen Texas, wo nicht etwa Aaskäfer, Ameisen, Speckkäfer, Fliegenmaden und Fadenwürmer langsam und stetig das Muskelfleisch von den Knochen entfernen – sondern Aasgeier binnen weniger Stunden.
An Körperspenden mangelt es keiner der Einrichtungen. Wie der Hausmeister, dessen größter Wunsch es war, der Wissenschaft zu dienen, empfinden viele Spenderinnen und Spender wie auch deren Angehörige es als Ehre, zum Forschungsobjekt zu werden. Seinen Körper kann jeder spenden, der unmittelbar vor seinem Tod nicht an einer ansteckenden Krankheit litt. Gesunde Menschen, die eines plötzlichen Todes starben, sind ebenso willkommen wie Spender, die vor ihrem Tod eine lange, schwere Krankheit durchgemacht haben.
Legende der Forensik
Gerade sie können für die Forschung besonders interessant sein. Denn hat ein Mensch vor seinem Tod Antibiotika oder zellschädigende Stoffe, wie sie beispielsweise bei einer Chemotherapie verabreicht werden, zu sich genommen, wird das Wachstum der Bakterien in seinem Körper stark behindert und er verwest entscheidend langsamer als ein "kerngesunder" Toter.
Der vermutlich berühmteste Körperspender war der US-Anthropologe Grover Krantz, dessen Leichnam im Jahr 2002 auf dem Gelände der University of Tennessee Anthropological Research Facility deponiert wurde. Als nur noch die Knochen übrig waren, kamen sie ins Smithonian National Museum of Natural History in Washington DC, wo sie 2009 zusammen mit dem Skelett eines seiner Irischen Wolfshunde ausgestellt wurden.
Die Body Farm der University of Tennessee ist die älteste Einrichtung dieser Art. Der forensische Anthropologe Bill Bass gründete sie in den frühen 1970er-Jahren, als die Behörden den Professor immer öfter um Hilfe baten, wenn bereits verweste Leichen gefunden wurden. Da Bass damals keine Forschungsergebnisse hatte, auf die er bei den Untersuchungen zurückgreifen konnte, beschloss er kurzerhand, selbst zu forschen.
Mittlerweile hat Bass nicht nur Bücher über seine spannendsten Kriminalfälle geschrieben, sondern gemeinsam mit dem Journalisten Jon Jefferson auch mehrere Romane. Durch die Bücher und die Fernsehserien, in denen forensische Anthropologen Helden sind, ist die Verwesungsforschung zumindest in den USA, aber auch in Europa in der Popkultur angekommen. Bass vertreibt auf seiner Webseite mittlerweile neben Büchern auch Baseball-Kappen mit der Aufschrift "Dr. Bill Bass Groupie". Es dürfte weltweit nur wenige über 90-jährige Koryphäen der Forschung geben, die es ähnlich weit gebracht haben.
- Eigene Recherche
- University of Tennessee: "Forensic Anthropology Center"
- Texas State University: "Forensic Anthropology Center"
- Western Carolina: "Forensic Anthropology Program"
- bonezones.com: "Dr. William M. Bass"
- deutschlandfunknova.de: "Verwesen für die Wissenschaft"
- vox.com: "The science of human decay"
- austinchronicle.com: "Listening to the Bones"