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Loch Ness und andere Monster: Darum werden wir Nessie nicht los


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Sommerdelirium
Warum wir an Putins Lügen und Urzeitmonster glauben

MeinungVon Philipp Kohlhöfer

14.08.2022Lesedauer: 6 Min.
Collage: Putin auf einem Pferd und das Urzeitmonster Nessie.Vergrößern des Bildes
Putin auf einem Pferd und das angebliche Monster von Loch Ness: Das menschliche Gehirn phantasiert sich gerne allerhand Absurdes zusammen, schreibt Philipp Kohlhöfer. (Quelle: Itar-Tass/Everett Collection/imago-images-bilder)

Krokodile, Riesenwelse, Monster: Im Sommer kann es in Gewässern hoch hergehen. Oder doch nicht? Denn allerlei Sommerlochtiere sind frei erfunden. Unser Gehirn spielt uns einen Streich.

In meinem Heimatdorf gibt es einen Baggersee. Ich schwimme dort fast nie, da kann es noch so heiß sein. Dort gibt es nämlich Riesenwelse, zwei Meter lang mindestens, obwohl noch nie jemand einen gesehen, geschweige denn gefangen hat. Die Tiere tauchen dort vor allem im Sommer auf, bedrohen Hunde und Schwimmer und sind dann im Herbst und Winter wieder weg.

Auch Krokodile würden mich nicht überraschen, schließlich ist der See sehr tief, knapp vierzig Meter, weil dort früher Braunkohle abgebaut wurde. Angeblich stehen noch Bagger auf dem Grund und immer wieder ist auch von Toten die Rede, die dort versenkt wurden, wer weiß also, was in dieser unheimlichen Atmosphäre noch alles schwimmt.

Mit Widerspruch kommt das Hirn nicht gut klar

Ungewöhnlich? Ach was … in anderen Breitengraden werden schließlich Bigfoot gesichtet oder Nessie, ebenfalls oft im Sommer, aber auch realistischere Tiere: Beutelwolf, Wandertaube, Kaiserspecht, Riesenalk. Leider alle ausgestorben.

Aber warum sollen die nicht wieder auftauchen? Der Baggersee ist tief, die Welt ist groß. Und manchmal passiert das ja auch wirklich. Das beste Beispiel ist der Quastenflosser. Seit 70 Millionen Jahren sei der ausgestorben, das war die Lehrmeinung, bis er 1938 vor den Komoren wiederentdeckt wurde. Ähnliches gilt für die Galapagos-Riesenschildkröte und die Bayerische Kurzohrmaus, die beide doch nicht ausgestorben sind, obwohl man lange davon ausgegangen war.

Philipp Kohlhöfer ist Autor und Kolumnist und lebt in Hamburg. Er arbeitet unter anderem für das Magazin "Geo" und das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Kohlhöfer verfasst zudem Drehbücher und entwirft Kommunikationskonzepte. Für eine Geschichte im Pazifik wurde er beschossen, für eine andere marschierte er tagelang durch den Regenwald. 2021 hat er den Bestseller "Pandemien. Wie Viren die Welt verändern" veröffentlicht.

Könnte also der Beutelwolf noch irgendwo rumlaufen, obwohl das letzte Exemplar 1936 starb? Schließlich gibt es immer wieder Menschen, die eine Sichtung bestätigen. Aber: So einfach ist es dann doch nicht. Menschliche Erinnerungen sind nicht zuverlässig. Zeugen werden von ihren Emotionen beeinflusst und von der Welt, die sie sich wünschen. Menschen überschätzen ihre Fähigkeit, sich an Dinge zu erinnern, sie übersehen Details, verzerren sie oder mischen sie mit Ereignissen, die sie im Kino gesehen haben. Das Gehirn sucht außerdem Erklärungen für Ereignisse, die es sich nicht erklären kann. Glaubt man zudem, dass Dinge existieren, obwohl es keinen Beweis gibt, dann existieren sie eben.

Was nichts daran ändert, dass es, vor allem im Sommer, ständig Zeugen gibt, die behaupten, Nessie gesehen zu haben oder eben Bigfoot. Nessie treibt sogar schon seit dem sechsten Jahrhundert ihr Unwesen, da wurde das Tier erstmals gesichtet – und ist seither nicht totzukriegen. 1933 gab es erstmals den Vorschlag, eine staatliche Untersuchung in die Wege zu leiten und in den folgenden Jahrzehnten debattierte sogar das schottische Parlament immer mal wieder über das Monster.

Wem gehört das Urzeitmonster überhaupt?

Denn was wäre, wenn es tot angespült wird: Gehen die Überreste dann an die Krone? Oder ist Nessie, weil älter als die Krone, Besitz der Menschen Schottlands? Die Debatte drehte sich später dann um die Frage, was ein "königlicher Fisch" ist, denn dann würde es von einem Gesetz abgedeckt, aber weil nicht klar ist, ob Nessie unter die Definition "Fisch" fällt, kam die Diskussion zu keinem Ergebnis.

Dabei ist "tot angespült werden" eher unwahrscheinlich. Es gibt keine prähistorische DNA im gesamten See, von so einem Nessie-Wesen. Dafür, das ist seit einer Studie 2019 klar, reichlich Aal-DNA. Nessie könnte also ein Riesenaal sein. Um sich genetisch zu erhalten, kann es natürlich nicht nur ein Tier sein und auch nicht zwei, sondern es müsste eine Population von mehreren sich kreuzenden Tieren sein, die sich irgendwo aufhalten muss, schließlich ist der See seit mindestens 10.000 Jahren vom Meer getrennt. Hinzu kommt: Tiere sterben. Wo sind die Kadaver und die Knochen?

Und das gilt natürlich fast genauso für den Beutelwolf, den Riesenalk, die Wandertaube und den riesigen Wels im Baggersee. Aber warum werden sie trotzdem ständig gesehen? Weil wir das einfach wollen. Weil wir unzuverlässige, irrationale und vor allem soziokulturelle Wesen sind.

Um kurz bei Nessie zu bleiben: Das berühmteste Foto ist von 1934. Kennt jeder. Man sieht den Hals und einen kleinen Kopf von irgendetwas. Der Fotograf Robert Wilson war einerseits Colonel der Armee, andererseits Chirurg. Wäre er Alkoholiker und Landarbeiter gewesen, wäre er vermutlich sehr viel weniger Menschen als vertrauenswürdige Quelle vorgekommen. Im Sommer 1933 kam zudem King Kong ins Kino – der nicht nur von dem Affen handelt, sondern auch Dinosaurier featuret.

Der "Nessie"-Entdecker ein Scherzkeks

Der Film wurde ein Riesenhit. Urzeitviecher waren danach in aller Munde – auch weil der Film ein bereits existierendes Feuer noch mehr anfacht: Rund fünfzig Jahre zuvor beschrieb der englische Paläontologe William Conybeare zum ersten Mal das Fossil eines Plesiosaurus und fesselte damit die Vorstellungskraft der Gesellschaft. Wenig überraschend, dass Nessie einem Plesiosaurus dann sehr ähnlich sah. Aus einem biologischen Phänomen wird so im Grunde ein soziales.

Da ist es auch egal, dass seit Mitte der 1990er klar ist, dass es sich bei dem Monsterkopf auf dem Nessie-Foto um ein Spielzeug-U-Boot handelt, gekauft bei Woolworth, dessen Schnauze aus Holzkitt geformt wurde. Wilson war nämlich eben nicht nur Chirurg und Colonel. Er war auch: Witzbold.

Aber was ist denn jetzt mit dem Beutelwolf? Oder den ganzen Ufos, die ständig gesichtet werden? Der psychologische Begriff dafür lautet "Wahrnehmungserwartung". Weil wir glauben, dass etwas so ist, ist es so. Kultur hat uns etwa dazu gebracht, uns Ungeheuer vorzustellen, wenn wir dunkle Gestalten unter Wasser, Schatten im Wald oder blinkende Lichter am Himmel sehen. Monster sind fest in unserem Bewusstsein verankert, das gilt für jede Kultur, schließlich haben vorhergehende Generationen uns davon erzählt. Jede Anekdote und Kunst wird so über die Zeit zu einer Art Realität. Wir sind Produkte der Kultur, der wir angehören.

Was wir auch sind: Komplexe und verblendete Tiere. Selbst wenn wir wissen, dass unserem Verstand nicht zu trauen ist, weigern wir uns häufig, das auch einzugestehen. Wir glauben einfach nicht, dass unsere Gewissheiten manchmal nicht belastbar sind. Argument ist dann: Vielleicht ist das bei anderen so, aber bei mir doch nicht. In einer Studie, die mittlerweile Klassiker-Status erreicht hat, untersuchte der amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger 1956 eine Weltuntergangssekte in Chicago, die auf ein Ufo wartete, das sie abholen sollte, bevor der Planet zerstört würde.

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Dinge einfach schön reden

Unerwarteterweise kamen die Aliens dann aber doch nicht. Was dennoch nicht dazu führte, dass die Sektenmitglieder ihren ursprünglichen Glauben ablegten. Sie kamen vielmehr zu dem Schluss, dass Gott seine Pläne geändert habe: Ihr Glaube war nach wie vor richtig. Was zur Theorie der kognitiven Dissonanz führte. Menschen versuchen, das innere Unbehagen zu vermeiden, das entsteht, wenn ihre Überzeugungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen miteinander oder mit neuen Informationen in Konflikt geraten. Anders formuliert: Man redet sich Dinge schön und versucht ihnen einen Sinn zu geben, obwohl sie keinen haben.

Wenn man etwas tut, was den eigenen Überzeugungen widerspricht, dann versucht man eben nicht, mit dem Unsinn aufzuhören. Man beginnt stattdessen, das eigene Verhalten zu rationalisieren – auch wenn es irrational ist. Und dann landet man eben nicht nur beim Krokodil im Baggersee, dass dort ganz SICHER schwimmt oder beim Beutelwolf, der einfach in den Wäldern Tasmaniens sein MUSS. Sondern man trägt auch während einer Pandemie keine Maske, erklärt sich selbst lang und breit, warum ein Tempolimit keinen Sinn ergibt, obwohl alles dafür spricht, und setzt sich in Talkshows, um zu verkünden, dass mit Wladimir Putin verhandelt werden muss, obwohl der kurz zuvor zugegeben hat, dass er die Ukraine vernichten und die europäische Sicherheitsarchitektur zerstören will.

Warum soll man von einer schönen Geschichte lassen, an die man sich gewöhnt hat? Vielleicht hat man einfach im falschen Gebiet gesucht – oder auf die falschen Russland-Experten gehört (Pro-Tipp: Im Zweifel immer Richard David Precht fragen, da ist das Thema dann zwar egal, aber man bekommt die Beweise wegerklärt und die Dissonanz zwischen Geschichte und Realität überwunden). Das ist, nebenbei, auch eine der Erklärungen, warum Fakten in Auseinandersetzungen oft nicht mehr relevant sind. Schließlich werden zuverlässige Quellen dann einfach zu Fake News erklärt, wenn einem der Inhalt nicht passt.

Neulich war ich übrigens doch mal im Baggersee schwimmen. Sozusagen, um meinen inneren Riesenwels zu besiegen. Ich bin nie untergetaucht und habe mir immer wieder laut gesagt, dass da schon nichts sein wird im Wasser unter mir. Und als ich fast schon wieder draußen war, ich schwöre, berührte mich irgendwas am Fuß. Ich glaube, es war ein Wels. Was denn sonst?

Beim nächsten Mal gehe ich wieder ins Schwimmbad.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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