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Benito Mussolini: Warum sein Siegeszug vor 100 Jahren eine einzige Lüge war


"Marsch auf Rom" vor 100 Jahren
Warum Mussolinis Siegeszug eine einzige Lüge war

Von dpa, mvl

27.10.2022Lesedauer: 5 Min.
Benito Mussolini (m.): Mit dem angeblichen Marsch auf Rom etablierte der Faschistenführer die Diktatur in Italien.Vergrößern des Bildes
Benito Mussolini (M.): Nach dem angeblichen "Marsch auf Rom" wurde er Regierungschef in Italien. (Quelle: adoc-photos)
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1922 "ergriff" der Faschist Benito Mussolini die Macht in Italien. Vieles daran ist Legende. Die neue ultrarechte Regierung in Rom stört das wenig.

"Entweder sie geben uns die Macht, oder wir ziehen nach Rom!": Unmissverständlich war die Drohung, die Italiens Faschisten am 24. Oktober 1922 in Richtung der Hauptstadt ausstießen. Bedrohlich war die Truppe von "Schwarzhemden" – wie die Paramilitärs der Faschisten bezeichnet wurden –, die in den frühen Stunden des folgenden 28. Oktober vor Rom stand, aber eher nicht. Zunächst waren es 5.000 Mann, später dann immerhin die dreifache Anzahl.

Das waren aber immer noch weit weniger als die gut 300.000 Mann, die zukünftigen Erzählungen zufolge angeblich nach Rom marschiert sind. 15.000 Mann? Mit ihnen hätte die italienische Armee leicht fertigwerden können, um den Staat vor dem Machthunger des Faschistenführers Benito Mussolini zu schützen.

Vergessen und Verdrängung

Doch König Viktor Emanuel III. kratzte nicht ausreichend Mut zusammen, um es zur Konfrontation mit dem "Duce", zu Deutsch: "Führer", kommen zu lassen. Im Gegenteil: Am 29. Oktober 1922 verkündete der Monarch, dass Mussolini Regierungschef werden solle, dieser machte sich in der Folge dann zum Diktator. Eben der "erste Faschist", wie der Historiker Hans Woller in seiner Biografie des "Duce" schreibt.

Als "Marsch auf Rom" glorifizierten die Faschisten ihre Form der "Machtergreifung" vom 27. bis 31. Oktober 1922, was mehr der Fantasie entsprungen war als der Realität. "Der legendäre Marsch auf Rom hat also überhaupt nicht stattgefunden", konstatiert Woller.

Just zum 100. Jahrestag dieses "Ereignisses" hat sich in Italien nun Makaberes zugetragen: Ultrarechte bilden wieder die Regierung. Mit einer Frau an der Spitze, Giorgia Meloni, die Mussolini einmal einen "guten Politiker" nannte. Mit dem Senatspräsidenten Ignazio La Russa, der Nummer zwei im Staat, der Bilder und eine Statue des "Duce" im Wohnzimmer stehen hat. Mit Spitzenfunktionären, die sich einst stolz Faschisten nannten.

"Äußerst besorgt" beobachten Partisanenvereinigungen, deren Gründer einst im Widerstand das Land von der Faschistendiktatur mitbefreit hatten, die Entwicklung – und nicht nur sie.

Italien hat in einem Jahrhundert viel vergessen und verdrängt. Die Herrschaft der Faschisten, die an einem nasskalten Wochenende in den letzten Oktobertagen 1922 per Staatsstreich begonnen hatte, haben viele Italiener unter Folklore und Nostalgie abgespeichert. Als wäre die Regentschaft Mussolinis, der dem deutschen Despoten Adolf Hitler als Vorbild diente, kein historisches Übel gewesen, sondern nur eine Epoche unter vielen.

"Nicht abgerechnet"

"Wir haben mit dem Faschismus nicht abgerechnet", kritisiert Gianfranco Miro Gori vom Partisanenverein Anpi. Etwas Ähnliches wie die Nürnberger Prozesse gab es in Italien nicht. Die faschistischen Funktionäre wurden ab 1945 in die Nachkriegsverwaltung übernommen, in die Gerichte, Polizeistuben, Behörden. Faschistische Bauten stehen noch heute. Während in Deutschland nach Kriegsende zahlreiche Spuren der Nazis aus dem öffentlichen Raum entfernt wurden, passieren in Rom Fußballfans auf dem Weg ins Olympiastadion einen Obelisken mit der Aufschrift "Mussolini Dux" (Mussolini Führer). An einem Bürogebäude prangt gut sichtbar ein Relief Mussolinis als Feldherr hoch zu Ross.

So inszenierte sich Mussolini selbst, heroisch wollte er auch seine Machtübernahme geschildert haben. Dabei "marschierte" der "Duce" am 30. Oktober 1922 keineswegs per Pferd in die Ewige Stadt ein, sondern via Zug. Als neuer Ministerpräsident forderte er seine inzwischen Zehntausende von Anhängern im Norden und Osten von Rom auf, in die Hauptstadt zu kommen. Es ereigneten sich etliche Überfälle auf sozialistische und kommunistische Einrichtungen, das Land wurde in eine Diktatur umgewandelt. 1924 gewann Mussolini die Wahlen haushoch, zwei Jahre später wurden andere Parteien verboten.

Rund zwei Jahrzehnte lang herrschte der 1883 in bescheidenen Verhältnissen geborene "Duce" über das Mittelmeerland, verbreitete zusammen mit seinen Schergen Schrecken; Oppositionelle, Minderheiten und Juden wurden verfolgt, ausgegrenzt und während des Zweiten Weltkriegs dann auch in Konzentrationslager verschleppt und umgebracht. Im Angriffskrieg gegen Abessinien ab 1935 scheute der "Duce" zudem nicht vor dem massiven Einsatz von Giftgas gegen Verteidiger und Zivilisten zurück.

Nach der Landung der Alliierten auf Sizilien im Juli 1943 wurde der Hitler-Verbündete Mussolini abgesetzt und verhaftet. Deutsche Elitetruppen befreiten den Diktator, der "Duce" wurde Regierungschef der sogenannten Republik von Salò, eines Marionettenstaates von Hitlers Gnaden, allein gehalten durch deutsche Truppen. Am 28. April 1945 wurde Mussolini schließlich auf der Flucht von Partisanen erschossen und mit dem Kopf nach unten an einer Tankstelle am Piazzale Loreto in Mailand aufgehängt.

Wallfahrtsort für "Duce"-Fans

Mit dem Tod endete die Verherrlichung des Faschismus in Italien aber nicht. Das zeigt sich etwa in Mussolinis früherem Wohnort Forlì. Dort hat Domenico Morosini ein kleines Privatmuseum errichtet. Der Mann, der zur Begrüßung den rechten Arm nach oben streckt, kaufte die alte Villa Mussolinis und stopfte sie mit Fotos, Büsten, Kleidungsstücken und Andenken voll. Seine Frau führt stolz durch das weitgehend originalgetreue Gebäude; Mussolini nennt sie dabei immer nur "il Duce", den "Führer". Das Dachgeschoss haben die Morosinis zu einem "Studierzimmer" ausgebaut und an die Wände "Duce"-Sprüche gemalt. Zum Jahrestag planen sie einige Veranstaltungen auf dem Gelände.

Eine halbe Autostunde entfernt werden anlässlich der 100 Jahre "Marsch auf Rom" viele Bewunderer Mussolinis in dessen Geburtsort Predappio kommen. Die Kleinstadt ist für Mussolini-Fans, Faschisten und Neonazis ein Wallfahrtsort geworden. Am Friedhof kann die Familienkrypta mit dem Sarg des Diktators besichtigt werden, vor dem Eingang stehen Besucher ganzjährig Schlange.

Zwei Umzüge finden nun statt: Die Partisanenverbände feiern am nächsten Freitag den Jahrestag der Befreiung des Ortes durch die Alliierten 1944, der am 28. Oktober ironischerweise auch in diese Herbsttage fällt. Zwei Tage später gedenken Ewiggestrige des "Marsches auf Rom".

Bizarr sind die Souvenirshops an der Hauptstraße von Predappio. Dort gibt es Fahnen, T-Shirts, Babystrampler, Geschirr und andere Andenken zu kaufen, bedruckt mit faschistischen Parolen, Hakenkreuzen oder SS-Runen. Auch Hitler- und Mussolini-Statuen stehen in den Regalen.

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"Erben des Duce"?

Eine ähnliche Statue hat der Senator Ignazio La Russa vor vier Jahren Reportern in seinem Wohnzimmer als Teil einer privaten Sammlung an Mussolini-Andenken gezeigt. Unlängst wurde er zum Vorsitzenden der kleineren Parlamentskammer gewählt, er besetzt damit laut Verfassung das zweithöchste Amt in der Republik. Im Wahlkampf sagte er, dass alle Italiener "Erben des Duce" seien. Er ist einer der engsten Vertrauten von Meloni bei den rechtsradikalen Fratelli d'Italia – in deren Parteiwappen eine Flamme lodert, die an das Grab Mussolinis erinnert. Meloni unterstrich erst unlängst, sie sei "stolz" darauf.

Auch ein Jahrhundert nach dem Aufstieg Mussolinis hat eine Aufarbeitung des dunklen Kapitels nicht stattgefunden. Als es jüngst Aufregung darüber gab, ob Fotos von Mussolini in den Ahnengalerien der Ministerien abgehängt werden sollten, beschwerte sich La Russa über "Cancel Culture". Dabei beweist Italien gerade, dass der Faschismus auch 100 Jahre nach 1922 nicht verschwindet – ganz im Gegenteil.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Hans Woller: "Mussolini. Der erste Faschist", 3. Auflage, München 2019
  • Nachrichtenagentur dpa
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