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Flutkatastrophe: Kreis in NRW löste Sirenen bewusst nicht aus – "Angst vor Panik"


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"Sonst sorgt der Alarm für Panik"
Kreis in NRW löste Warnsirenen bewusst nicht aus

  • Annika Leister
Von Annika Leister und Sebastian Klemm

Aktualisiert am 21.07.2021Lesedauer: 4 Min.
Hückeswagen, NRW: In dem Ort im Oberbergischen, nahe des Rheinisch-Bergischen Kreises, mussten rund 1.500 Menschen ihre Wohnungen verlassen.Vergrößern des Bildes
Hückeswagen, NRW: In dem Ort im Oberbergischen Kreis, nahe dem Rheinisch-Bergischen Kreis, mussten rund 1.500 Menschen ihre Wohnungen verlassen. (Quelle: dpa)
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Spitzenpolitiker vermitteln zurzeit den Eindruck, dass es in Deutschland keine Warnsirenen mehr gibt. Doch das ist falsch. In einigen gefluteten Orten wurde erst kürzlich nachgerüstet – doch der Alarm wurde absichtlich nicht ausgelöst.

Flutopfer in Deutschland erheben in vielen Orten schwere Vorwürfe: "Wir sind nicht gewarnt worden", kritisierte Tina Rass aus Rösrath in Nordrhein-Westfalen vor Millionenpublikum in der Talkshow von Markus Lanz am Dienstagabend. "Es waren keine Sirenen, keine Warnungen, es war nichts."

Der Talkmaster fragte nicht weiter nach, die Sendezeit war abgelaufen. Und sowohl der Chef des Bundesamts für Bevölkerungsschutz als auch Spitzenpolitiker wie NRW-Ministerpräsident Armin Laschet erwecken bei ihren Aussagen zur Flutkatastrophe den Eindruck, es gebe gar keine Sirenen mehr in Deutschland. Alle fordern sie die "gute, alte Sirene" zurück.

Doch der von der Politik vermittelte Eindruck ist falsch – vielerorts gibt es nicht nur Sirenen, sie wurden sogar neu eingerichtet und modernisiert. Doch: In der Flutkatastrophe wurden sie zum Teil mit Absicht nicht ausgelöst.

Im Rheinisch-Bergischen Kreis in Nordrhein-Westfalen, in dem auch Rösrath liegt, sind in den letzten Jahren in sieben von acht Städten 69 Sirenen wiederaufgebaut worden. Das teilt auf Nachfrage von t-online Birgit Bär mit, Leiterin der Pressestelle der Kreisverwaltung, zurzeit auch Leiterin der Krisenkommunikationszentrale.

Auch in Rösrath, wo Tina Rass nicht gewarnt wurde, gibt es laut Bär acht moderne Sirenen. Im Gegensatz zu vielen anderen Orten, in denen der Warntag 2020 zum Debakel verkam, nahmen die Orte im Kreis Bär zufolge auch erfolgreich am Aktionstag teil.

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"Sonst sorgt der Alarm für Panik"

Aber in der aktuellen Katastrophe: Stille. "Die Sirenen sind aus einem Grund nicht ausgelöst worden", sagt Bär. "Hätten wir die Sirenen ausgelöst, während in den Medien die Berichterstattung noch nicht breit lief, hätten alle Leute die 112 angerufen." Man habe befürchtet, dass die Nachfragen den Notruf lahmlegen. Sirenenalarm könne man "nur Hand in Hand mit der Medienberichterstattung auslösen", erklärt Bär und verweist auf die verspätete und viel kritisierte Berichterstattung des WDR in der Flutnacht. "Sonst sorgt der Alarm für Panik."

Als weiteren Grund für den ausbleibenden Alarm räumt Bär allerdings auch ein: "Niemand hat damit gerechnet, dass es solche Ausmaße annimmt."

Der Rheinisch-Bergische Kreis ist weniger schwer von den Fluten getroffen worden als der Rhein-Erft-Kreis, die Städteregion Aachen und der Kreis Euskirchen. Aber auch hier waren die Schäden gravierend. Ein 80-Jähriger ist Medienberichten zufolge in seinem Keller ertrunken.

Sirenen im Kreis Euskirchen und Bad Münstereifel wohl ausgelöst

Auch in Euskirchen, einer Stadt im gleichnamigen Kreis in NRW, erheben Anwohner Vorwürfe, sie seien überhaupt nicht gewarnt worden. "Hier kam keine Warnung, dass das Wasser steigt. Es kam kein THW, Feuerwehr oder Polizei. Es gab keine Evakuierung. Wir waren so überrascht", sagte Maler Andreas S. t-online.

Die Pressestelle der Kreisverwaltung Euskirchen teilt auf Nachfrage von t-online mit, man habe kreisweit Sirenenalarm ausgelöst. Allerdings könne es sein, dass in manchen Orten die Technik bereits gestört gewesen sei und die Alarmierung deswegen ausblieb, räumt der Sprecher ein. Zu welcher Uhrzeit der Alarm ausgelöst wurde, sei zurzeit nicht recherchierbar – ebenso wie die Zahl der Sirenen im Kreis.

Auch im zu großen Teilen zerstörten Bad Münstereifel, wo NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Kanzlerin Angela Merkel sich am Dienstag die "gute, alte Sirene" zurückwünschten, gibt es im Übrigen Sirenen. Erst im April 2020 wurden in drei Ortsteilen neue Sirenen installiert, wie Radio Euskirchen berichtete. Das Netz befinde sich derzeit allerdings noch im Aufbau, sagt ein Wehrleiter auf Nachfrage von t-online. "Aber die Sirenen, die wir haben, die haben ausgelöst, auch mehrfach."

Wie viele Sirenen es in Deutschland gibt, ist unklar. Die Zuständigkeit liegt bei den Kommunen. Rund 360 Gemeinden in Nordrhein-Westfalen seien mit Sirenen ausgerüstet, erklärt das Innenministerium des Landes auf Nachfrage. "Wie vor Ort gewarnt wird, ist den Kommunen überlassen."

Aus dem ebenfalls schwer getroffenen Rheinland-Pfalz heißt es vom Innenministerium: Man kenne die Anzahl der Sirenen nicht, sie seien Teil der kommunalen Selbstverwaltung. Gegebenenfalls könne das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Auskunft geben.

Kein Überblick im Bundesamt

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ist bei der Frage jedoch keine Hilfe. Es hat sich offensichtlich auch nach den letzten großen Hochwasserkatastrophen an der Elbe 2006 und 2013 nicht um eine Bestandsaufnahme bemüht. Auf Nachfrage von t-online meldet sich eine Sprecherin, sie nennt die Zahl von 15.000 Sirenen in Deutschland – allerdings zitiert sie, wie sie zugibt, aus den Medien und weiß nicht, aus welchem Jahr die Zahl stammt.

Sicher sei nur, dass die Anzahl geschrumpft sei – von 80.000 Sirenen zur Zeit des Kalten Kriegs. Man arbeite nun "seit ein paar Wochen" daran, zusammen mit den Ländern ein Warnmittelkataster zu erstellen. Ergebnisse sollten noch Ende des Jahres vorliegen.

"Alles, was Aufmerksamkeit auf sich zieht, hilft"

Kai Vogelmann, Sprecher des Malteser Hilfsdienstes in Nordrhein-Westfalen, kann die Vorsicht des Rheinisch-Bergischen Kreises verstehen. Die Bevölkerung sei nicht mehr gewohnt, auf Sirenenalarm zu reagieren. Man müsse die Menschen wieder sensibilisieren.

Beim Wiederaufbau des Sirenennetzes dringt er dennoch auf Schnelligkeit. "Alles, was Aufmerksamkeit auf sich zieht, hilft", sagt er. Sirenen könnten die Zerstörung, die das Hochwasser nun angerichtet hat, nicht abwenden. "Aber sie retten Menschenleben." Spätestens bei den letzten großen Hochwassern an der Elbe habe man gesehen: "Man braucht großflächig Sirenen."

Solange Deutschland nicht nachgerüstet habe, plädiert Vogelmann für Einfallsreichtum und Alternativen. "Eine Gemeinde hat die Kirchenglocken die ganze Nacht läuten lassen", so Vogelmann. Schon das könne Aufmerksamkeit schaffen.

Verwendete Quellen
  • Anfragen an die betroffenen Kreise in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
  • Telefonat mit der Polizei Euskirchen, Kai Vogelmann und der Wehrleitung in Bad Münstereifel
  • Anfragen an das Bundesinnenministerium, Innenministerium NRW und Rheinland-Pfalz sowie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz
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