Kinderehen in Krisenregionen "Als würden die Mädchen verkauft"
Der Libanon und Afghanistan leiden unter einer schweren Wirtschaftskrise. Hunderttausende leben in Not. Viele arme Eltern sehen in ihren Töchtern eine Last, von der sie sich befreien wollen.
In einer besseren Welt säße Hibba jetzt auf einer Schulbank. Sie hätte vielleicht Bammel vor der nächsten Prüfung, würde auf dem Pausenhof mit ihren Freundinnen tratschen und heimlich für einen Jungen schwärmen. Ihr Leben wäre so sorglos, wie das Leben einer 17-Jährigen sein kann. Ein Teenageralltag halt.
Stattdessen wiegt die junge Syrerin vorsichtig ihren kleinen Sohn auf dem Schoß, der in ihren Armen schläft. Hibbas Kindheit endete spätestens, als ihre Eltern beschlossen, sie an einen Mann zu verheiraten. Sie war damals 14 und sträubte sich dagegen, ohne Chance. Der Kleine kam ein knappes Jahr später auf die Welt. Hibba, damals selbst noch ein Kind, musste plötzlich ein Baby versorgen.
Mindestens jedes fünfte syrische Mädchen verheiratet
Ihr Schicksal ist beileibe kein Einzelfall. Fachleute gehen davon aus, dass in den vergangenen Jahren die Zahl der Kinderbräute in Syrien und im benachbarten Libanon nicht zuletzt wegen der schweren Wirtschaftskrise gestiegen ist. Vor allem unter syrischen Flüchtlingen ist die Zahl hoch. Laut Schätzungen des Kinderhilfswerks Unicef ist jedes fünfte syrische Mädchen zwischen 15 und 19, das im Libanon lebt, verheiratet. Unter libanesischen Mädchen sind es demnach vier Prozent. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen.
Ähnlich sieht es in Afghanistan aus. Dort war die Zahl der Kinderbräute bereits vor der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban hoch. Laut Unicef war eines von vier Mädchen unter 18 Jahren verheiratet, in absoluten Zahlen rund 3,9 Millionen. Aktuelle belastbare Daten aus dem Land zu bekommen sei sehr schwierig, sagt Amanda Bissex von Unicef. Seit dem Machtwechsel im August höre man aber von steigenden Zahlen an Kinderbräuten.
Auch Covid-19 trägt seinen Teil dazu bei. Unicef befürchtet, dass es infolge der Pandemie bis Ende dieses Jahrzehnts weltweit zehn Millionen zusätzliche Kinderehen geben könnte.
Hunderttausende Syrer im Libanon in existenzieller Not
Die Geschichte der jungen Syrerin Hibba handelt von Flucht, Not und Verzweiflung. 2013, zwei Jahre nach Ausbruch des Bürgerkriegs in ihrem Heimatland, nehmen ihre Eltern mit den acht Kindern Reißaus vor der Gewalt und landen in einem libanesischen Flüchtlingslager.
Hunderttausende Syrer leben in dem kleinen Land am Mittelmeer in existenzieller Not. Die Väter schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch. Oder die Familien sind abhängig von humanintärer Hilfe. In den Lagern hausen die Menschen eng an eng in kleinen Zelten oder einfachsten Bauten. Das Leben, ein täglicher Überlebenskampf.
"Familien sind erleichtert, wenn Mädchen verheiratet werden"
Eine schwere Wirtschaftskrise, unter der der Libanon leidet, hat die Not weiter verschärft. Unicef sieht vor allem in der großen Armut einen Grund für die Verheiratung minderjähriger Mädchen. Eltern geben ihre jungen Töchter an einen Mann, weil sie in dem Kind eine finanzielle Last sehen, von der sie sich befreien wollen.
"Kinderehen sind so, als würden die Mädchen verkauft", sagt Maria Assi, Direktorin der libanesischen Hilfsorganisation Beyond, die sich um minderjährige Ehefrauen kümmert. Auch das Thema Sicherheit spiele für die Eltern eine Rolle. In den engen Lagern haben sie Angst, dass den Mädchen etwas passiert, vor allem dann, wenn eine alleinerziehende Mutter eine Familie mit vielen Kindern durchbringen muss. "Sie sind erleichtert, wenn die Mädchen verheiratet werden", sagt Maria Assi. "Dann sind sie die Verantwortung los."
"Ich werde das nicht vergessen"
Ihr Vater sei zunächst gegen die Ehe gewesen, aber ihre Mutter habe darauf bestanden, erzählt Hibba. Der Blick der jungen Frau mit Kopftuch ist leer, sie wischt sich Tränen aus den Augen. Ihre Not ist besonders groß, weil ihr Sohn seit einer schweren Erkrankung als Baby in der Entwicklung verzögert ist. Die nötigen Medikamente kann sie sich kaum leisten. Hibba spürt Wut auf ihre Mutter. "Sie haben mir mein Leben genommen", sagt sie. "Ich werde das nicht vergessen."
Auch die Syrerin Rama, wie Hibba noch minderjährig, wurde gegen ihren Willen in die Ehe gezwungen. Sie war 14, ihr Mann Anfang 20. Sie habe ihn nicht gekannt und auch nicht geliebt, sagt die junge Frau. Schnell entwickelt sich die Ehe zur Hölle. Ihr Mann habe sie geschlagen, als sie schwanger gewesen sei, erzählt Rama. Immerhin, mit 16 kann sie sich scheiden lassen. Mit Kind kehrt sie zu den Eltern zurück: "Doch ich habe das Gefühl, dass ich eine Last bin."
Schulen als Schutz vor Kinderehen
Auch in Afghanistan lässt der wirtschaftliche Zusammenbruch die Zahl der minderjährigen Bräute steigen. Die UN prognostizieren, dass bis zur Jahresmitte 97 Prozent der Afghanen unter der Armutsgrenze leben werden. Aber auch die Schließungen weiterführender Schulen für Mädchen trägt dazu bei.
In den allermeisten Provinzen erlauben die Taliban Mädchen den Schulbesuch nur bis zur 6. Klasse. "Schulen sind ein großer Schutz vor Kinderehen", sagt Unicef-Expertin Bissex. Wenn die Mädchen nicht in den Unterricht gehen könnten und die Familien damit langfristig den Vorteil von Bildung für die Familie nicht sähen, suchten sie nach anderen Möglichkeiten.
Angst vor Taliban
In anderen Familien ist es aber auch Angst, die Eltern dazu veranlasste, ihre Töchter früh in die Ehe zu geben. Farhat, der eigentlich anders heißt, aus der Stadt Nili im Zentrum des Landes erzählt am Telefon, seine Eltern hätten seine 16-jährige Schwester vor rund fünf Monaten verheiratet.
Als die Taliban im Sommer des Vorjahres ihre Provinz Daikundi übernahmen, habe es Gerüchte gegeben, dass die Islamisten jedes unverheiratete Mädchen ab 16 Jahren an ihre Kämpfer zur Ehe geben würden, sagt er. "Daraufhin haben meine Eltern dem ersten Brautwerber meiner Schwester zugesagt, ohne darüber nachzudenken – geschweige denn sie zu fragen."
"Sie wollte studieren"
Seine Schwester habe so viele Träume gehabt, erzählt Farhat. "Sie wollte studieren und Designerin werden oder Filmregisseurin." Das Problem der geplatzten Träume und der schnelleren Heirat gebe es aber nicht nur in seiner Familie. Farhat ist überzeugt: "Tausende Mädchen wurden unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban verheiratet, und der Großteil von ihnen war leider minderjährig."
Der junge Mann berichtet, er habe gesehen, was frühzeitige Ehen anrichten können. Die Mädchen seien zu jung, um "Gut und Böse zu unterscheiden" und könnten in einer Ehe nicht bestehen, erzählt er. Er kenne 15-Jährige, die geschieden seien. "In unserer traditionellen Gesellschaft werden geschiedene Frauen dann aber verstoßen." Das ginge so weit, dass sie am Ende zu Prostituierten würden.
- Nachrichtenagentur dpa