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Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Ukraine-Krieg: Neue Studie alarmiert


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Sexualisierte Gewalt im Ukraine-Krieg
"Kinder sollen nachhaltig geschädigt werden"


21.02.2024Lesedauer: 4 Min.
Ukraine-Krieg - KlischtschiwkaVergrößern des Bildes
Ein Soldat an der Front in der Ukraine (Archivbild): Seit dem russischen Angriffskrieg ist das Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder kaum beachtet worden. (Quelle: Iryna Rybakova/AP/dpa/dpa)
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine jährt sich bald zum zweiten Mal. Ein bisher kaum beachtetes Thema ist die sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Eine neue Studie zeigt die dramatischen Folgen.

Bombenalarm, Luftschutzkeller und jede Menge Zerstörung erleben viele ukrainische Kinder – vor allem seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022. Ein Thema, das in diesem Zusammenhang bisher kaum in der Öffentlichkeit präsent war, ist die sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Nun hat sich eine Studie des Hilfswerks Kindernothilfe damit befasst. Dafür befragten die Autoren 19 Experten, darunter Wissenschaftler, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Institutionen, die mit dem Thema vertraut sind.

Das Ergebnis: 915 Fälle allgemeiner sexualisierter Gewalt seien in der Ukraine festgestellt worden. 13 Fälle wurden konfliktbezogen durch russische Soldaten ausgeübt. Vor einem Jahr hatte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft nur 156 Fälle insgesamt gemeldet. Dabei sei das wohl nur die Spitze des Eisbergs, sagt Dr. Judith Striek, Autorin der Studie und Menschenrechtsbeauftragte bei der Kindernothilfe: "Es gibt eine immens hohe Dunkelziffer." Wie hoch diese ist, sei nicht seriös zu sagen. Ihr Co-Autor Elias Dehnen erklärt, dass im Normalzustand in Europa laut der Kampagne "One in Five" des Europarats eines von fünf Kindern von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Im Krieg dürfte der Anteil höher sein.

Die hohe Dunkelziffer habe mehrere Gründe:

  • Es fehlen Daten aus den ukrainischen Provinzen nahe der Kriegsfront und aus den von Russland besetzten Gebieten,
  • In von der ukrainischen Armee befreiten Gebieten lebende Kinder und ihre Eltern bringen Fälle von sexualisierter Gewalt nicht zur Anzeige – aus Angst vor Konsequenzen durch russische Soldaten, sofern das Gebiet erneut erobert würde,
  • Potenzielle Stigmatisierung und Täter-Opfer-Umkehr: Betroffene hätten Angst vor Vorwürfen, mit dem Feind kollaboriert zu haben
  • durch fehlende Aufklärung ist betroffenen Kindern nicht bewusst, dass sie sexualisierte Gewalt erlitten haben,
  • mangelndes Vertrauen in den Staat, in die Ermittler,
  • unzureichende Opferschutzmaßnahmen.

Das jüngste Opfer war vier Jahr alt

Um noch mehr Betroffene zu ermutigen, sich bei den Ermittlern zu melden, schlagen die Autoren einen "survivor-centred-approach" vor. Das bedeutet, dass Ermittler bei Befragungen stärker berücksichtigen, was Opfer brauchen. Das sei bisher nicht der Fall. Aber genau das könnte mehr Menschen überzeugen, mit den Behörden zu kooperieren, erklärt Dehnen.

Immerhin: Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat eine neue Abteilung eingerichtet, die sich mit konfliktbezogenen Fällen sexualisierter Gewalt befasst. Weitere Überlebende überlegten derzeit, russische Soldaten wegen sexualisierter Gewalt anzuzeigen, auch wenn die Verfolgung der Täter im Krieg schwierig sei.

Sexualisierte Gewalt

Bei sexualisierter Gewalt gibt es keine einheitliche Definition. Auf zwei Varianten beruft sich die Kindernothilfe. Die erste lautet: Eine oder mehrere Personen zwingen einer anderen Person sexualisierte Handlungen oder Inhalte aus einer Position der Macht heraus auf. Die zweite Definition: Direkte, verbale oder körperliche wie auch indirekte, nonverbale oder mediale Handlungen werden gegen den Willen der betroffenen Person ausgeführt.

Das jüngste Opfer: ein vierjähriges Mädchen aus der Region Kiew. Ein russischer Soldat hatte zuvor ihre Eltern misshandelt, dann verging er sich an dem Mädchen. Solche Kinder müssten psychologisch betreut werden. Dafür brauche es geschultes Personal, das bisher nicht ausreichend vorhanden ist.

Entsprechende Initiativen müssten ausgeweitet werden, sagt Carsten Montag, Vorstandsmitglied der Kindernothilfe. "Sexualisierte Gewalt wird als Kriegstaktik genutzt." Zwar seien direkte Befehle nicht nachweisbar. Doch dass sexualisierte Gewalt ein Teil von bewaffneten Konflikten ist, sei "nichts Neues", so Judith Striek.

Tipps aus Ruanda und Bosnien

In der Ukraine sei man deshalb in Kontakt mit Organisationen aus Ruanda und Bosnien. In beiden Ländern wurde während der Genozide auch sexualisierte Gewalt als Kriegstaktik angewendet, berichtet Daria Chekalova, Vizedirektorin bei der Organisation "NGO Girls" aus der Ukraine.

Deshalb sammle man seit Jahrzehnten Erfahrungen zu sexualisierter Gewalt. Eine Erkenntnis: Einige Betroffene melden sich erst 20 Jahre nach ihren Erlebnissen. In der Ukraine müssten sich Gesellschaft, Justiz und Politik darauf vorbereiten. "Wir müssen das hohe Niveau an Stigmatisierung bekämpfen", sagt Chekalova. Die Destigmatisierung durch das Schaffen von Bewusstsein sei ihr wichtigstes Anliegen.

Das bestätigt auch Striek: "Es wird einen großen langfristigen Schaden geben." Das sei laut Montag auch das Ziel: "Es geht nicht nur darum, Menschen zu verletzten. Betroffene sollen nachhaltig geschädigt werden." Das Ausmaß werde erst in einigen Jahren klarer werden. Umso wichtiger sei es nun, die Stigmatisierung zu bekämpfen.

Derzeit gebe es etwa Plakate an Schulen, die Mädchen auffordern, Jungs nicht zu "provozieren", so Striek. Ebenso glaubten viele in der Ukraine, dass nur schwule Jungs Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Solche Vorurteile und Stigmata seien bei der Aufarbeitung ein Problem. Enorme Hürden und Herausforderungen gebe es bei Kindern, die aus Vergewaltigungen entstanden sind.

Thema werde "unter den Teppich gekehrt"

Chekalova berichtet, dass es in Bosnien zum Beispiel eine langfristige finanzielle Kompensation für Opfer gebe. Vergleichbares gebe es in der Ukraine noch nicht, dies wäre aber sinnvoll. Außerdem brauche es generell noch mehr Mittel, um Betroffenen ausreichend helfen zu können. Derzeit gebe in den 24 Oblasten der Ukraine nur zehn sogenannte Safe Spaces – zu Deutsch: sichere Räume – für Opfer.

Die Ukraine müsse das Rad auch nicht neu erfinden. Vorhandene Ansätze und Programme aus anderen Ländern sollten übernommen werden. Bisher sei das Thema aber "unter dem Radar", so Chekalova. Laut Striek werde es schlichtweg "unter den Teppich gekehrt".

Hoffnung setzen die Beteiligten auf die Wiederaufbaukonferenz im kommenden Juni. Gerade Kinder und Jugendliche seien entscheidend für den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg. Bisher sei das Thema nicht so stark im Fokus: "Der Aspekt der sexualisierten Gewalt, gerade bei Kindern, ist unterrepräsentiert", sagt Carsten Montag.

Seit Herbst 2022 hilft die Kindernothilfe in der Ukraine

Forderungen an die Politik in Sachen militärischer Unterstützung der Ukraine möchte man nicht stellen. "Wir tun besser daran, uns auf unsere Kernkompetenzen zu fokussieren", so Montag. Es gelte, die Kinder zu unterstützen. "Egal, wer als Gewinner rausgeht. Die Verlierer sind die Kinder und Jugendlichen. Und das werden sie bleiben."

Die Organisation habe zu Beginn des Krieges Familien aus den Nachbarländern Rumänien und Moldau in Form von Schutzräumen, Winterhilfen, Bildungsangeboten und Essensverteilungen unterstützt. Seit Herbst 2022 war die Kindernothilfe dann auch in der Ukraine aktiv. Dort arbeite man mit lokalen Nichtregierungsorganisationen zusammen, wie etwa "NGO Girls".

Verwendete Quellen
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