Kindesmissbrauch in Münster Ermittler stießen "an die Grenze des menschlich Erträglichen"
Die ermittelten Taten sind widerwärtig. Aber auch das professionelle Vorgehen der Beschuldigten. In Münster hat die Polizei Fälle von Kindesmissbrauch aufgedeckt, deren Ausmaß noch völlig offen ist.
Es ist wohl erst die Spitze des Eisbergs, betonen die Ermittler – doch Dimension und erste Details des nun in Münster bekanntgewordenen Falls von Kindesmissbrauch sind schon jetzt schwer erträglich: Binnen dreieinhalb Wochen nahm die Polizei elf Beschuldigte aus mehreren Bundesländern fest, sieben davon sitzen in U-Haft. Drei Jungen im Alter fünf, zehn und zwölf Jahren sind als Opfer identifiziert. Bisher, wie die Behörden betonen.
Nach Durchsuchungen an zwölf Orten stellten die Behörden Festplatten und Datenträger mit mehr als 500 Terabyte hochprofessionell verschlüsselten Materials sicher. "Das gibt nur völlig unzureichend die Dimension dessen wieder, was wirklich geschehen ist – mitten unter uns in unserer Gesellschaft", sagt Münsters Polizeipräsident, als er am Samstag die bisherigen Erkenntnisse seiner Behörde vorstellt.
"Er ist verkauft worden"
Die Videobilder, zu denen die Ermittler bislang Zugriff haben, dokumentieren demnach abscheulichste Taten. Der Leiter der Ermittlungen, Kriminalhauptkommissar Joachim Poll, ringt um Fassung, als er etwa das mutmaßliche Geschehen in einer Gartenlaube in Münster in einer Nacht Ende April schildert: "Vier erwachsene Männer vergehen sich an zwei kleinen Jungs. Wechselseitig und aufs Schlimmste." Über Stunden hätten sich die Missbrauchstaten hingezogen. Das Häuschen ist innen ausgestattet mit videoüberwachten Doppelstockbetten. Und auch außen hängen Kameras. In einer gut getarnten Zwischendecke sind hochprofessionelle Aufzeichnungstechnik und Computer versteckt. Der 27-Jährige Hauptverdächtige in dem Fall ist ein IT-Techniker.
In der Laube mit ihrem sorgsam gejäteten Vorgarten soll er den 10-jährigen Sohn seiner Lebensgefährtin den anderen Männern für die Gewalttaten zur Verfügung gestellt haben. "Er ist verkauft worden von demjenigen, der ihn eigentlich behüten sollte", sagt Poll. Das zweite Opfer ist der fünfjährige Sohn eines weiteren mutmaßlichen Peinigers aus Staufenberg bei Gießen.
Immense Datenfunde bei Durchsuchungen
Erschüttert zeigt sich Poll auch über das planvolle, konspirative und versierte Vorgehen, was die Verschlüsselung, die Speicherung und die Verbreitung der Missbrauchsbilder auf Plattformen im Darknet betrifft. Einen Kellerraum in Münster hatte der 27-Jährige zu einem hochprofessionellen Serverraum umgebaut. "Vollgestopft" mit IT- und Speichertechnik, klimatisiert zudem, "weil sonst einfach die Rechner zu heiß laufen würden", wie Poll schildert.
Die Expertise des 27-Jährigen ist es wohl auch, die es möglich machte, dass er überhaupt noch auf freiem Fuß war, obwohl er bereits vor einem Jahr wegen des Besitzes von Kinderpornografie ins Visier der Ermittler geraten war. Nicht das erste Mal, was zwei einschlägige Verurteilungen zu Bewährungsstrafen belegen. Doch es dauerte ein Jahr, bis es den Experten der Polizei gelang, bei ihm bereits im April 2019 sichergestelltes Material zu entschlüsseln.
Als den Ermittlern beim Sichten der Videos klar wurde, dass er nicht bloß Filme von sexueller Gewalt an Kindern verbreitet, sondern auch selbst Missbrauch begangen und anderen ermöglicht haben soll, kam er am 14. Mai in Haft. Die immensen Datenfunde bei Durchsuchungen, die Befragungen und weiteren Ermittlungen ließen dann bald erkennen, das es hier nicht um einen Einzeltäter geht, sondern ein ganzes Netz der sexuellen Gewalt gegen Kinder – mit mehr Tätern, mehr Tatorten, mehr Querverbindungen und schlimmstenfalls auch mehr jungen Opfern.
"Grenzen des menschlich Erträglichen"
"Selbst die erfahrensten Kriminalbeamten sind an die Grenzen des menschlich Erträglichen gestoßen und weit darüber hinaus", sagt Rainer Furth, Polizeipräsident von Münster. Nun wird es ihre belastende Aufgabe sein, Datei um Datei "von diesem abscheulichen Dreck", wie Furth es ausdrückt, zu entschlüsseln, zu sichten, um den Fall Schicht um Schicht aufzuklären.
Welche Kreise solche Ermittlungen ziehen können, zeigt der nicht minder erschütternde bundesweite Missbrauchskomplex, der im nordrhein-westfälischen Bergisch Gladbach seinen Anfang nahm. Dort hatten Ermittler im vergangenen Oktober die Wohnung eines 42-Jährigen durchsucht und dabei riesige Mengen kinderpornografischen Materials gefunden.
Spezialisten sind bis heute mit der Auswertung beschäftigt. Die Ermittler entdeckten Chat-Gruppen, in denen sich nach früheren Angaben bis zu 1.800 Pädophile austauschten. Opfer waren demnach oft die eigenen Kinder, darunter auch Babys. Polizei und Staatsanwaltschaft haben in dem Komplex bundesweit bisher mehr als 70 Tatverdächtige identifiziert, fast die Hälfte davon aus Nordrhein-Westfalen. Zudem gebe es 44 bekannte Opfer.
- Nachrichtenagentur dpa