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Horrorberichte von Zeitzeugen
Wie in ganz Deutschland Kinder in Heimen gefoltert wurden

Von Dietmar Seher

06.09.2019Lesedauer: 3 Min.
Das DDR-Gefängnis Torgau: Bis 1975 wurden dort auch Jugendliche inhaftiert.Vergrößern des Bildes
Das DDR-Gefängnis Torgau: Bis 1975 wurden dort auch Jugendliche inhaftiert. (Quelle: ullstein-bild)

Ein Bericht für den Bundestag legt das ganze Ausmaß der Gewalt in der Heimerziehung offen. Wie genau Kindern und Jugendlichen Schläge zu versetzen waren, wurde in Dienstanweisungen vorgeschrieben.

Schläge und Missbrauch, Arreste und tägliche Demütigung: 1,2 Millionen junge Menschen sind in den Nachkriegsjahrzehnten in Erziehungsheime der Bundesrepublik und der DDR gesteckt worden, ohne dass die Einrichtungen einer menschenwürdigen Kontrolle unterlagen. Die Behandlung war teilweise kriminell. Die damaligen Kinder und Jugendlichen leiden noch heute als Erwachsene darunter.

40.000 Schilderungen von Zeugen

Die beiden "Fonds Heimerziehung", die sich mit den Situationen in den Heimen in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1975 und in der DDR zwischen 1949 und 1990 beschäftigt haben, haben dem Bundestag ihren Abschlussbericht vorgelegt. Ihm liegen die Zeitzeugen-Darstellungen von 40.000 ehemaligen Heimbewohnern zugrunde. Über lange Passagen liest sich dieser Report wie ein Horrorroman. Er kommt auch zum Ergebnis, dass sich die Behandlung der Kinder und Jugendlichen in West und Ost nicht wesentlich unterschieden.

"Schon geringfügige Anlässe" wie eine vermutete "Gefährdung" oder "Verwahrlosung" führten in Westdeutschland zur Heimeinweisung. Indizien dafür waren "Frechheit" oder "Ungehorsam", "unsittsame Kleidung" oder der Besuch von Tanzbars und sexuelle Kontakte. Besonders junge Mädchen waren davon betroffen.

"Arbeitserziehung" und Prügelstrafe

Die Diakonie Freistatt in Niedersachsen und das Landesfürsorgeheim Glücksstadt in Schleswig-Holstein galten in Westdeutschland als Einrichtungen, die die angeblich schwersten Fälle zugewiesen bekamen. In der DDR galt als "schwer erziehbar", wer sich nicht den Regeln des Gesellschaftssystems anpassen wollte. Im Osten war der geschlossene Jugendwerkhof Torgau "Endstation" der repressiven Umerziehung, heißt es in dem Bericht.

In beiden deutschen Staaten gab es "Arbeitserziehung" als weit verbreitete Methode. Die meist kirchlichen Einrichtungen in der Bundesrepublik erledigten auf diese Weise ihre Renovierungsarbeiten, es kam aber auch, wie in Freistatt, zum Arbeitseinsatz im Torfabbau. Die DDR verpflichtete die Heiminsassen zur Arbeit in Brikettfabriken, beim Gleisbau oder in Stahlwerken. Ein großes Problem wirkt bis heute nach: Für die Zeit im Heim sind keine Sozialbeiträge eingezahlt worden, was teilweise Folgen für die Rente der Betroffenen hat.

Züchtigung und Gewalt waren in Ost wie West an der Tagesordnung. Westdeutsche Heime hatten Vorgaben, welche Körperstellen der Delinquenten mit wie vielen Schlägen getroffen werden durften. Die Schläge mussten in Büchern dokumentiert werden. "Diese Pflicht wurde jedoch oft nicht sehr genau genommen", stellt der Fonds-Schlussbericht fest. "Strafen sollten oftmals eine demütigende Wirkung entfalten", stellen die Gutachter fest, dazu gehörte unter anderem der Zwang, Erbrochenes wieder aufzuessen. Bettnässen wurde als bewusste Trotzreaktion bewertet und durch Bloßstellen bestraft, auch Trinkverbote wurden ausgesprochen.

"Nur in die Weichteile des Gegners"

Im DDR-Heim Torgau war der Einsatz von Schlagstöcken 1964 schriftlich geregelt – obwohl der Einsatz von Gewalt hier anders als im Westen formal verboten war. In der Torgauer Dienstanweisung hieß es demnach: "Der Schlag ist nur in die Weichteile des Gegners zu schlagen." Alle anderen Stellen seien zu meiden, weil dort Verletzungen entstehen könnten. Der Bericht an den Bundestag stellt fest, dass nach Darstellung der Betroffenen "diese Dienstanweisung so ausgelegt wurde, dass gezielt in die Geschlechtsteile der Jugendlichen geschlagen wurde".

"Sexuelle Gewalt kam in den Heimen in West- wie in Ostdeutschland häufig vor", stellen die Experten fest. "Sie wurde sowohl von dem Erziehungspersonal an den Kindern und Jugendlichen verübt als auch von den Heiminsassen untereinander." Die Vorgänge seien tabuisiert worden: Sich zu wehren, war offenbar zwecklos.

Isohaft bei Dunkelheit

Arreststrafen "schon wegen geringer Vergehen" waren an der Tagesordnung einschließlich Kontaktsperren zu Angehörigen außerhalb des Hauses und Briefzensur. In DDR-Heimen waren Besuche von Angehörigen grundsätzlich untersagt. Zu den Zuständen in den Zellen schreibt der Report: "Auch in Westdeutschland wurden die Kinder und Jugendlichen (...) in sogenannten Karzern oder Besinnungszellen eingesperrt, oft bei Dunkelheit oder verminderter Kost." Die Isolation habe bis zu mehrere Wochen dauern können.

Der Bericht des Fonds gibt die Protokolle von Zeitzeugen wieder, wonach die Heiminsassen ohne medizinische Notwendigkeit mit Psychopharmaka behandelt wurden, um sie ruhig zu stellen. Hier sei allerdings die Wissenschaft gefragt, weil die eigenen Erkenntnisse dazu zu dürftig seien.

2006 hatte die Aufarbeitung dieser Vergangenheit durch Gremien des Bundestages begonnen. Bis 2010 hatte ein Runder Tisch daran gearbeitet, Hilfen für die heute erwachsenen Betroffenen zu entwickeln. Den etwa 40.000 Antragstellern ist seither fast eine halbe Milliarde Euro als Unterstützung und Entschädigung ausgezahlt worden. Die meisten seien mit den Hilfen zufrieden gewesen, stellt SPD-Bundesfamilienministerin Franziska Giffey fest.


Für die Kirchen, die die meisten Einrichtungen in der alten Bundesrepublik betrieben haben, baten Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm für die evangelische und Reinhard Kardinal Marx als Vorsitzender der katholischen Bischofskonferenz bei den Opfern um Verzeihung. "Wir bitten ausdrücklich um Entschuldigung" für einen "dunklen Teil der Geschichte unserer Einrichtungen".

Verwendete Quellen
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