Missbrauchsdoku über Michael Jackson Schuldig im Namen des Zuschauers
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Michael Jackson als Monster: Eine TV-Doku will den Popstar als Missbrauchstäter enttarnen – und löst heftigen Streit aus. Darf man jetzt noch unbekümmert "Billie Jean" mitsingen?
Es sind vier Stunden, die mitunter kaum auszuhalten sind. Zwei Männer berichten detailliert, wie sie als Jungen jahrelang missbraucht worden seien und wie sie ihr Leben lang damit kämpfen. Zwischen den düsteren Schilderungen glitzern in Luftaufnahmen Los Angeles und das Anwesen Neverland: Denn der Bösewicht der vierstündigen Dokumentation ist kein Geringerer als Michael Jackson.
Die Männer breiten detailliert aus, wie Jackson begann, sich an ihnen zu vergehen, als sie sieben beziehungsweise elf Jahre alt waren. Zuvor beschreibt die Doku, auf welche perfide Weise er sich das Vertrauen ihrer Familien erschlichen haben soll – und wie sie bis heute darunter leiden.
Über die Dokumentation "Leaving Neverland" wird in den USA heftig gestritten, seit der erste Teil am Sonntagabend ausgestrahlt worden ist. Die zwei Hauptprotagonisten werden bewundert, sie werden verteufelt. Ihre Botschaft: Ein Weltstar, der sich als Helfer von Kindern inszenierte, habe kleine Jungen manipuliert, missbraucht, Familien zerstört. Anfang April läuft das Werk auch im deutschen Fernsehen.
#MeToo und die Unschuldsvermutung
Der Film des Bezahlsenders HBO liefert eine eindrucksvolle Anklage, aber keine Beweise. Er zeigt nur eine Seite der Geschichte. Und so verdeutlicht er einen Konflikt, der sich in der #MeToo-Ära immer schlechter auflösen lässt: Es ist wichtiger geworden, Opfern Glauben zu schenken – doch was macht das mit der Unschuldsvermutung, die gelten soll, bis es Beweise gibt?
Die amerikanische Gesellschaft kämpft sich immer häufiger mit diesem Dilemma ab, zuletzt etwa beim Drama um den Supreme-Court-Richter Brett Kavanaugh. Immer wichtiger wird die Rolle des Fernsehens. Die Anklagen sind umso mächtiger, wenn sie in langen Dokumentationen ausgebreitet werden. Im Falle Jacksons könnte das Medium Fernsehen schaffen, woran sich Staatsanwälte über ein Jahrzehnt die Zähne ausgebissen hatten: den King of Pop wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern zu verurteilen.
Das Genre "True Crime" boomt in den USA, und zahlreiche Dokumentationen wollen Unrecht ausmerzen. Der R'n'B-Sänger R. Kelly etwa überstand seit den Neunzigern zahlreiche Pädophilievorwürfe, bis kürzlich eine Dokumentation "Surviving R. Kelly" zahlreichen mutmaßlichen Opfern eine Bühne bot. Der Sänger wurde angeklagt, von Streamingplattformen verbannt, am Mittwoch stritt er, wieder im Fernsehen, in einem Wutanfall und unter Tränen alles ab.
Michael Jackson überragt R. Kelly in jeder Hinsicht. Er ist der größte Superstar, den die US-Popgeschichte kennt. Seit den Neunzigern gab es immer wieder Vorwürfe wegen Kindesmissbrauchs gegen Jackson – Klagen dazu wurden jedoch abgewiesen oder Jackson einigte sich außergerichtlich.
Ein Superstar kommt mit vielem durch
Noch nie gab es allerdings eine öffentliche, so intime Anklage wie die langen Schilderungen des Choreografen Wade Robson und des früheren Kinderschauspielers James Safechuck. Sie beschreiben eine komplexe Beziehung zu Jackson. Nach anfänglichem Zögern lassen etwa die Mütter der beiden Protagonisten ihre Söhne allein mit Jackson in dessen Schlafzimmer übernachten – ständig soll es dabei zu Missbrauch gekommen sein, den Jackson den Jungen als Akt der Liebe verkauft haben soll.
Ein Superstar kommt mit vielem durch, lautet eine Bilanz, die man aus der Dokumentation ziehen kann.
Jackson kann sich dagegen nicht mehr wehren. Er starb im Juni 2009 an einer Überdosis Medikamente. 2005 war er wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt und schon einmal tobte eine monatelange öffentliche Schlacht um den Megastar, an deren Ende er freigesprochen wurde.
Damals kamen zwei Zeugen zu seiner Verteidigung: Ausgerechnet Robson und Safechuck, die Ankläger von heute. Damals hatten sie nach eigener Darstellung noch nicht begriffen, was Jackson ihnen selbst angetan hatte. Sie buhlten weiter um Nähe zum Superstar und wollten ihn vor dem Gefängnis beschützen.
Wade Robson, dessen sexueller Missbrauch begonnen haben soll, als er sieben Jahre alt war, sagt zu seinen Motiven: "Ich will die Wahrheit so laut aussprechen können, wie ich die Lüge aussprechen musste."
"Posthume Lynchjustiz"
Die Verteidigung Jacksons übernehmen seine Nachlassverwalter, seine Familie und Abertausende Fans. Die Nachlassverwalter haben den Bezahlsender HBO auf 100 Millionen Dollar verklagt – sie fürchten finanziellen Schaden für die Marke Michael Jackson, die Jahr für Jahr Dutzende Millionen abwirft. Jacksons Familie spricht von "posthumer Lynchjustiz". Und zahlreiche Fans haben eine Kampagne orchestriert, um gegen den Film und die Kronzeugen in sozialen Netzwerken zu wettern. Der britische Musiker und YouTuber Casey Rain spricht etwa von einem "kranken Versuch, auf die #MeToo-Bewegung aufzuspringen."
Tatsächlich hat #MeToo unweigerlich verändert, wie über sexuelle Übergriffe gesprochen und welcher Raum Opfern eingeräumt wird. Abseits des harten Kerns der Jackson-Fans wird der Zeitenwandel bereitwilliger eingeräumt.
TV-Star Oprah Winfrey, die ein Interview mit den beiden Protagonisten ausstrahlte, brachte es so auf den Punkt: "Dieser Moment ist wichtiger als Michael Jackson. Er übersteigt eine einzelne Person."
Viele Anhänger von Jacksons weltweit allgegenwärtiger Musik stehen nun vor der Herausforderung, die Vorwürfe mit ihrer Liebe zu seinen Werken in Einklang zu bringen. Darf man noch unbeschwert zu "Billie Jean" tanzen?
Mehrere Radiosender etwa in Kanada oder den Niederlanden kündigten an, Jackson-Lieder aus der Rotation zu nehmen. Ein norwegischer Radiosender kündigte nach der Ausstrahlung der ersten Folge prompt an, zwei Wochen keine Jackson-Lieder mehr zu spielen – nur um am Folgetag nach einem Proteststurm zurückzurudern.
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Die Dokumentation wird die Sicht auf den Menschen Michael Jackson bei zahlreichen Zuschauern prägen, doch das Urteil über den Künstler steht noch aus.
- eigene Recherchen
- HBO: Leaving Neverland
- New York Times: Michael Jackson Fans Are Tenacious. ‘Leaving Neverland’ Has Them Poised for Battle (engl.)