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Hells Angels: Abtrünniger Rocker packt vor Kieler Gericht aus


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Kriminalität
"Der ist tot"

Von Julia Jüttner, Kiel

Aktualisiert am 01.06.2012Lesedauer: 6 Min.
Kontrollen im Kieler Landgericht: Der Angeklagte ist Kronzeuge in laufenden ErmittlungenVergrößern des Bildes
Kontrollen im Kieler Landgericht: Der Angeklagte ist Kronzeuge in laufenden Ermittlungen (Quelle: dpa-bilder)
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Steffen R. diente den "Hells Angels". Er schüchterte Gegner ein, handelte mit Waffen, trieb Schulden ein, befolgte den Ehrenkodex und schwieg. Vor dem Landgericht Kiel packte der 40-Jährige nun aus - und beschuldigte einen hochrangigen Rocker, einen Mord in Auftrag gegeben zu haben.

Vernarbte Visagen hinter Sonnenbrillen, tätowierte Oberkörper unter schweren Lederwesten, eingestickte Club-Insignien auf den Kutten - Fehlanzeige. Beim Prozess gegen den ehemaligen Rocker Steffen R. vor dem Landgericht Kiel trugen allenfalls zwei Zuschauer ihre Tattoos zur Schau. Der eine, ein älterer, schmächtiger Mann mit einer Haut wie gegerbtes Leder, sprang während der Verhandlung von seinem Sitz auf, rief erbost: "Der ist tot!" und marschierte aus dem Saal.

Steffen R. lebt jetzt gefährlich. Bis zu seiner Festnahme im Mai 2011 war er Gründer und Chef der Legion 81, einem Ableger der "Hells Angels", zuständig für Zuhälterei, Waffen- und Drogenhandel, für die Drecksarbeit im Milieu.

Bis vor kurzem war das Verfahren gegen ihn nur eines von etwa 200, das die Staatsanwaltschaft Kiel im Kampf gegen die Rockerkriminalität zu bewältigen hatte, 69 Beschuldigte hat die Behörde im Visier.

Im Februar aber entschied sich Steffen R., die Seiten zu wechseln, Kronzeuge zu werden. Über Jahre war der Ehrenkodex der "Hells Angels" sein Gesetz, jetzt brach er es. Seither ist er in einem Zeugenschutzprogramm an einem geheimen Ort untergebracht.

Die Wut auf ihn muss grenzenlos sein in den Reihen der "Hells Angels", denn Steffen R. hat eine der größten Razzien in der Szene ausgelöst: Etwa 1200 Beamte des Landeskriminalamtes und der GSG9 durchsuchten kürzlich Gaststätten, Bordelle und Wohnungen in Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen. Fünf führende Mitglieder der verbotenen Kieler "Hells Angels" wurden verhaftet.

Auch das großzügige Anwesen von Frank Hanebuth wurde durchsucht, er ist der Präsident des "Hells-Angels"-Charters von Hannover. Steffen R. hatte den Beamten Hinweise auf einen mutmaßlichen Auftragsmord gegeben: Vor zwei Jahren verschwand der Türke Tekin B. Steffen R. behauptet nun, der damals 47-Jährige sei mit den "Hells Angels" aneinandergeraten, Clubmitglieder hätten ihn erschossen.

Hanebuths "Endentscheidung"?

Am Donnerstag präzisierte Steffen R. in Saal 123 des Landgerichts seine Aussage und beschuldigte Hanebuth, den Mord an Tekin B. in Auftrag gegeben zu haben - so hätten es ihm mehrere "Hells Angels" auf einer Weihnachtsfeier im Dezember 2010 erzählt. Der Türke habe Streit mit Hanebuth gehabt - es sei um Geld, Drogen und eine Frau in Hannover gegangen. "Er ist in Ungnade gefallen", sagte Steffen R. "Die Endentscheidung", den Mann zu töten, habe Hanebuth getroffen.

"Hells-Angels"-Mitglieder hätten Tekin B. im April 2010 in eine Lagerhalle in Altenholz bei Kiel gelockt, ihn stundenlang gequält und gedemütigt, bis ihm einer ins Gesicht oder in den Hals geschossen habe. Der Verletzte habe daraufhin ein Geräusch von sich gegeben, ein Wimmern, über das sich die mutmaßlichen Täter lustig gemacht haben sollen. "Der klingt wie ein Seehund." Einer der Männer habe dem Opfer schließlich in den Kopf geschossen.

Zunächst sei die Leiche in einem Müllcontainer auf dem Gelände versteckt worden. Als die "Hells Angels" eine neue Halle gebaut und das Fundament gegossen hätten, hätten sie die Leiche einbetoniert. Steffen R. formuliert es vor Gericht so: "Das Opfer ist dort verbracht worden." Seit der Großrazzia vergangene Woche suchen nun Spezialisten der Kriminalpolizei nach dem Toten, bislang ohne Erfolg.

Steffen R. behauptete am Donnerstag auch, dass die "Hells Angels" Kopfgeld kassiert hätten: Zwischen 50.000 und 150.000 Euro habe eine Familie auf B. ausgesetzt, weil er ein Mitglied des Clans erschossen haben soll. "Das Geld wurde ausgezahlt", so Steffen R. Und das "Seehund"-Geräusch sei zum Running Gag mutiert.

Götz von Fromberg, Rechtsanwalt des beschuldigten Hanebuth, reagierte gelassen. "Herr Hanebuth hat uns versichert, den Mann noch nie gesehen zu haben", sagte er SPIEGEL ONLINE. Die Vorwürfe überraschten ihn nicht. "Dieser Belastungszeuge war Auslöser für den jüngsten Durchsuchungsbeschluss. Er sagt die Unwahrheit und muss genau unter die Lupe genommen werden."

In der Rockerszene geht es nur ums Geld

Warum hat sich Steffen R. zur Kehrtwende entschieden? Vor Gericht sitzt er zwischen seinen beiden Anwälten, ein kleiner, massiger Mann mit dunklen Haaren, unrasiert, im linken Ohr glänzt eine silberne Kreole. Im Nacken rollen sich die Speckfalten, der dunkle Pullover spannt, gehässige Kumpels nennen ihn "Kugelblitz". Kurz schiebt er den linken Ärmel hoch, eine Tätowierung blitzt hervor, schnell zieht er den Stoff darüber, immer wieder blickt er zu den Zuschauern.

Seine Abrechnung mit den "Hells Angels" ist gnadenlos. "Ich habe für mich gemerkt, die große Bruderschaft und Mystik ist aufgeblasen - alles Bullshit!", erklärt er seinen Sinneswandel. Es gehe in der Rockerszene nur ums Geld. Ein Schlüsselerlebnis sei gewesen, als ihn ein "Hells Angel" eingeweiht habe, er werde ein anderes Mitglied "umlegen", weil dieses den Hannoveraner Chef Hanebuth "beschissen" habe.

Seine Festnahme habe ihm den "Arsch gerettet", sagt Steffen R. "Sonst wäre ich entweder tot oder hätte einen Mord am Arsch. Ich will mein Leben in den Griff kriegen, noch mal neu anfangen."

Vor Gericht schilderte der ehemalige Legion 81-Präsident, wie er in den inneren Zirkel der "Hells Angels" aufgenommen wurde, nannte Namen, Funktionen, Interna. Er beschrieb, wie aufgebracht Hanebuth und Konsorten waren, als ein Abtrünniger auf eine Kutte der "Hells Angels" urinierte und ein Video davon ins Internet stellte mit dem Zusatz: "Angstfreie Zone Preetz".

Daraufhin habe er mit seinen Leuten den ehemaligen "Hells Angel" einschüchtern sollen. Hanebuth persönlich habe ihm ein Kuvert mit 5000 Euro überreicht, behauptet Steffen R. Der Auftrag habe gelautet: Nicht töten, nicht anschießen, aber in seine Richtung schießen. Der klassische Denkzettel.

Von dem Geld habe er einen Opel Senator gekauft und ihn auf einen Mann angemeldet, den die "Hells Angel" "Killer" nennen, sagt Steffen R. Glaubt man dem 40-Jährigen, war es nur eine von vielen Mahnungen und Abreibungen, die die Legion 81 im Auftrag der "Hells Angels" ausführen musste. Einige schilderte er en détail. Auch, dass es Waffen zuhauf gab. Versteckt wurden sie bei "Mädels", bei Unbeteiligten, in Discos, Spielhallen, Garagen - oder etwa bei der Mutter eines "Hells Angels".

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Steffen R. sucht nach Gründen, warum er in die Szene abrutschte. Lange Zeit habe er sich aufgehoben gefühlt in seiner Ersatzfamilie. "Das Gruppenleben gefiel mir", sagt Steffen R. und schildert ein trübsinniges Leben in der DDR: Bis zu seinem siebten Lebensjahr wächst er behütet bei seinen Großeltern in Naumburg an der Saale in Sachsen-Anhalt auf. Doch die Großmutter flüchtet in den Westen, der Großvater stirbt, Steffen R. kommt erstmals zu seinen Eltern und seinen sieben jüngeren Geschwistern. Der Alltag sei von Alkoholmissbrauch und sexuellen Übergriffen geprägt gewesen, sagt er.

"Ich wollte nie wieder Opfer sein im Leben"

Steffen R. haut ab, landet in Kinderheimen, büxt immer wieder aus, lebt auf der Straße. In einem ehemaligen Speziallager in Torgau sieht er, wie sich ein Junge mit Benzin übergießt und anzündet, weil er den Drill und die Schikane nicht mehr aushält. Damals habe er sich einen Panzer zugelegt. "Ich wollte nie wieder Opfer sein im Leben."

Steffen R. wird Täter. Er bricht eine Lehre als Maschinist ab, beendet eine als Koch, hält sich mit Diebstählen, Einbrüchen und als Türsteher über Wasser. Bis 2007 erledigt er "verschiedene Arbeiten im Milieu", wie er sagt, oder er sitzt in Haft. Eine Ehe scheitert, zwei Kinder stammen aus "losen Beziehungen".

Er wohnt in Saarbrücken, in Frankfurt am Main, in Oberhausen und Weißenfels. 2002 zieht er nach Schleswig-Holstein, bis 2007 sitzt er wieder im Gefängnis. Dort knüpft er Kontakte mit den "Hells Angels". Als Freigänger findet er in Kiel eine neue Heimat - in der Rockerszene.

Einige "Hells Angels" trifft er jeden Tag im "Sozialladen", einem Projekt für Straftäter, das damals die ehemalige Ministerpräsidentin Heide Simonis unterstützt. Nachts machen sie gemeinsam Party. "Die Gruppe hat zusammengehalten", sagt Steffen R. "Wir haben uns nichts gefallen lassen."

Was ihm einst imponierte, macht Steffen R. heute Angst: "Einmal Member, immer Member." Aussteigen könne man vergessen, sagt er. "Entweder man ist dann einen Kopf kürzer oder man muss sich verstecken, wie ich jetzt."

Er weiß, was er mit seinem Geständnis auslösen kann - wenn es stimmt, was er sagt. "Viele Leute werden aufgrund meiner Aussagen großen Ärger bekommen", sagte er. An dem einen oder anderen, die er verraten hat, werde man sicher ein Exempel statuieren. Anteilnahme zeigt er nicht.

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