Bekannter Fall aus "Aktenzeichen XY" Sie hatte keine Chance: Der Holzklotz-Mord auf der A29
Ein Holzklotz, mit Wucht auf die Autobahn geworfen, trifft das Auto einer jungen Familie und zerstört ihr Leben auf tragische Weise. Der Fall schockiert – und landet schon nach kurzer Zeit in der ZDF-Fernsehsendung "Aktenzeichen XY… ungelöst".
Es ist der 23. März, Ostersonntag, im Jahr 2008. Wladimir K. und seine Frau Olga sind mit ihren Kindern, dem neunjährigen Jannik und der siebenjährigen Lara, nach einem Osterfest auf dem Heimweg. In ihrem BMW, silbermetallic, fahren sie die Autobahn A29 entlang. Es ist 19:57 Uhr, auf der Höhe von Oldenburg, als das Schicksal der Familie besiegelt wird: Ein sechs Kilogramm schwerer Holzklotz durchschlägt mit der gewaltigen Kraft von zwei Tonnen die Windschutzscheibe.
Er trifft die 33-jährige Olga, die auf der Beifahrerseite sitzt und keine Chance hat, ihr Leben zu schützen. Der 24 Zentimeter hohe und 18 Zentimeter dicke Pappelstamm trifft sie am Hals und an der Brust. Ihrem Mann gelingt es zwar, den Wagen trotz des Schocks auf den Standstreifen zu steuern, für seine Ehefrau kann er jedoch nichts mehr tun, seine Wiederbelebungsversuche bleiben erfolglos. Die immense Wucht, mit der der Holzklotz sie getroffen hat, war zu groß. Die Mutter von zwei Kindern stirbt noch am Unfallort.
Die gemeinsamen Kinder sind äußerlich unverletzt, aber völlig verstört und verängstigt. "Die Kinder schrien, ich habe das noch nie so gehört. Es war schrecklich", wird K. später vor Gericht erzählen. Der Neunjährige und seine Schwester benötigen infolge des Dramas psychologische Betreuung. "Sie sprechen jeden Tag von Mama", ergänzt der zweifache Vater seine Aussage.
War es ein Unfall – oder doch Absicht?
Eine grausame Tat, die scheinbar ohne jedes Motiv geschah und die Menschen hierzulande zutiefst erschüttert. Die Polizei gründet eine Sonderkommission, die "Soko Brücke", unter Leitung von Kriminalhauptkommissar Reiner Gehrke. Doch die Ermittlungen gestalten sich von Beginn an schwierig, da der Holzklotz keine verwertbaren Fingerabdrücke oder DNA-Spuren aufweist. Dennoch sind die Ermittler fest entschlossen, den oder die Täter zu finden. Die ersten Erkenntnisse legen nahe, dass es sich um eine absichtliche Tat handelt, um einen sogenannten "Brückenwurf".
Bereits wenige Tage nach der Tragödie, am 2. April, wendet sich die Polizei im Rahmen der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY… ungelöst" an die Öffentlichkeit. Die Kriminalpolizei Oldenburg hofft, durch die hohe Reichweite der Sendung Zeugenhinweise zu erhalten. Rudi Cerne, der Moderator des Formats, berichtet von einer möglichen heißen Spur: Mehrere Zeugen haben zur Tatzeit eine Gruppe Jugendlicher auf der Brücke gesehen.
Die Gruppe wird detailliert beschrieben – es soll sich bei ihr um vier bis fünf Personen handeln, darunter ein auffällig großer junger Mann mit heller Jacke und Baseballkappe sowie ein Mädchen mit Zopf. Die Ermittler betonen, dass diese Jugendlichen nicht zwingend die Täter sein müssen, aber wichtige Hinweise geben könnten. Dennoch meldet sich niemand aus der gesuchten Gruppe, was die Ermittlungen weiter erschwert. Von den mehr als 200 Hinweisen, die bei den Beamten eingehen, bringt sie keiner weiter.
Der entscheidende Durchbruch
Ohne neue Indizien geraten die Ermittlungen zunächst ins Stocken. Da keine verwertbaren DNA-Spuren gefunden wurden, erwägt die Polizei, mithilfe eines Massengentests mögliche DNA-Spuren abzugleichen. Diese Überlegung, die ebenfalls in der Presse veröffentlicht wird, sorgt schließlich für den entscheidenden Durchbruch. Zwei Tage nach der Mitteilung meldet sich ein Mann bei der Polizei. Sein Name: Nikolai H.
Er gibt an, zur Tatzeit die Brücke passiert und den Holzklotz zur Seite geräumt zu haben, weil er niemanden gefährden wollte.
Doch die Aussage erscheint den Ermittlern suspekt, insbesondere weil Nikolai H. ein Vorstrafenregister wegen Diebstahls und Drogenvergehen hat und selbst heroinabhängig ist. Eine Bodenanalyse des Holzklotzes bringt die entscheidende Wende: Die Sandspuren am Klotz stimmen exakt mit dem Gartenboden von Nikolai H. überein. Der Klotz stammt also nicht von der Brücke, H. brachte die Tatwaffe selbst mit.
Gemeinsamkeit mit Opfer macht ihm zu schaffen
Eine Gemeinsamkeit macht das Verbrechen für alle Beteiligten noch tragischer: Der zu diesem Zeitpunkt noch mutmaßliche Täter und das Opfer stammen beide aus Kasachstan und wanderten unabhängig voneinander mit ihren Familien nach Deutschland ein. Dieses Wissen habe Nikolai H. während der Vernehmung sehr zugesetzt, so Gehrke.
Am 21. Mai 2008 wird Nikolai H. schließlich verhaftet. Bei einer Zigarettenpause mit einem Polizisten gesteht er, den Holzklotz von der Brücke geworfen zu haben. Er habe aber niemanden töten wollen. Der Grund sei Frustration über die erfolglose Suche nach Drogen gewesen. Mithilfe des Holzklotzes, den er auf seinem Fahrrad zur Brücke gebracht hatte, habe er seinem Ärger Luft machen wollen.
Im November 2008 wird der Fall vor dem Landgericht in Oldenburg verhandelt. Nikolai H. wird am 20. Mai 2009, nach 30 Verhandlungstagen, wegen Mordes aus Heimtücke, dreifach versuchten Mordes und vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Die Hinterbliebenen und die Öffentlichkeit nehmen das Urteil mit Erleichterung auf.
Der Fall ist nicht nur durch die mediale Aufmerksamkeit und durch die Vorstellung bei "Aktenzeichen XY… ungelöst" bekannt geworden, sondern hat auch zu neuen kriminaltechnischen Erkenntnissen geführt. Die Bodenanalyse, mithilfe derer der Holzklotz Nikolai H. zugeordnet werden konnte, wurde bahnbrechend für die deutsche Forensik. Bodenproben sind seither Standard.
In seiner Urteilsverkündung würdigte der Richter zudem das besonnene Handeln von Wladimir K., der trotz des Schocks das Auto sicher zum Stehen brachte und damit das Leben seiner Kinder rettete. Zwar verlor Olgas Mann an diesem Tag seine Ehefrau, seine Kinder konnte er aber vor dem Tod bewahren.
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- Sueddeutsche: "Lebenslang wegen Mordes"
- Spiegel: "Nikolai, Olga und der tödliche Zufall"
- Spiegel: "Die Kinder schrien, ich habe das noch nie so gehört"
- taz: "Lebenslang für Holzklotz-Mörder"
- Frankfurter Rundschau: "Es war eine grauenvoll sinnlose Tat"