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Sexismus in der Medizin | Ärztin: "Einer wollte mir unter die Bluse fassen"


Ärztin über Sexismus
"Bringt mir einen Mann, wir haben ein Problem"

InterviewVon Liesa Wölm

Aktualisiert am 25.04.2023Lesedauer: 6 Min.
Arzt und Ärztin (Symbolbild): Sexismus in der Medizin ist offenbar immer noch weit verbreitet.Vergrößern des Bildes
Arzt und Ärztin (Symbolbild): Sexismus in der Medizin ist offenbar immer noch weit verbreitet. (Quelle: IMAGO/gpointstudio)
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Fast doppelt so viele Frauen wie Männer beginnen jährlich ein Studium der Humanmedizin. Dennoch ist ihr Ansehen in dem Beruf lange nicht so hoch. Warum sich das ändern muss.

Sexismus im Beruf kennt Dr. Kerstin Schick gut – er ist ihr häufig begegnet. Im März erzählte die Gefäßchirurgin auf dem Berufsportal LinkedIn von einer Situation mit einem Patienten. Nach einer erfolgreichen Operation habe er sie gefragt: "Ich habe heute Nacht wach gelegen und viel nachgedacht. Wenn im OP nur Frauen anwesend waren, was um Himmels willen machen sie dann, wenn einmal ein echtes Problem auftritt und kein Mann da ist?" Schick antwortete mit Humor: "Wenn wir im OP ein Problem bekommen, dann muss eine von uns schnell auf den Flur treten und ganz laut nach einem Mann rufen. Dann wird alles gut."

Ihr Beitrag wurde vielfach kommentiert, andere Ärztinnen berichteten von ähnlichen Erfahrungen. Im Gespräch mit t-online erklärt die Medizinerin, warum ein Umdenken in der Gesellschaft dringend notwendig ist.

t-online: Frau Dr. Schick, warum haben Sie die Geschichte publik gemacht?

Kerstin Schick: Ich wollte ein Statement setzen, denn sie ist gelebter Alltag.

Manche Menschen zweifeln, ob sie so passiert ist, weil sie sich das im 21. Jahrhundert nicht vorstellen können.

Es ist aber genauso passiert. Der junge Mann war sehr nett und freundlich, und ich weiß, dass er die Frage überhaupt nicht provokativ gemeint hat. Er meinte sie ernst. Ich war mir zuerst nicht sicher, ob er mich veräppeln will – aber dann habe ich gemerkt: Er ging tatsächlich davon aus, dass mein weibliches Team und ich nicht in der Lage sind, ein Problem ohne einen Mann zu lösen.

Wie erklären Sie sich das?

Viele Menschen haben eine feste Vorstellung davon, wie eine Person, die sie kompetent medizinisch behandelt, aussehen soll. Welches Geschlecht sie haben, wie alt sie sein und, leider immer noch, welche Hautfarbe sie haben sollte. Da gibt es viele Vorurteile – die größtenteils mit Sicherheit historisch bedingt und tief verwurzelt sind. Der Beruf des Arztes war traditionell ein Männerberuf. Heutzutage sind aber zwei Drittel der Medizinstudierenden weiblich. In Führungspositionen sind wir zwar noch längst nicht an diesem Punkt angekommen. Aber die Entwicklung ist ganz klar abzusehen und muss im Bewusstsein der Gesellschaft ankommen.

Sie würden also sagen, das war keine Ausnahmesituation?

Ob in meinen Jahren im Krankenhaus oder in der Zeit in meiner eigenen Praxis: Ich habe überall Sexismus erlebt. Dieses Problem ist in der Medizin weit verbreitet – oftmals auch unterschwellig. Denn Sexismus hat viele Nuancen: Er bedeutet ja nicht nur, dass jemand körperlich übergriffig wird, sondern sexistisch ist auch die Situation, die ich in meinem Beitrag beschrieben habe. Viele mögen sagen: "Da ist doch nichts Schlimmes passiert." Und doch spiegelt die Szene eine Grundstimmung wider: Mir als Frau wird in diesem Moment die Kompetenz abgesprochen. Das war früher noch viel schlimmer, aber wir sind immer noch lange nicht da, wo wir sein sollten.

(Quelle: Fotostudio Sauter)

Dr. med. Kerstin Schick

ist Gefäßchirurgin und Phlebologin. Die gebürtige Fränkin studierte Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg mit Auslandsaufenthalten u.a. in Stellenbosch, Oxford und Harvard. Nach ihrer Facharztausbildung an den Münchner Unikliniken und der München Klinik ist sie 2014 mit einem Partner in einer Gemeinschaftspraxis für Gefäßmedizin in München niedergelassen.

Können Sie weitere Beispiele nennen?

Eine ganze Reihe: Als ich noch im Krankenhaus arbeitete, ist es einmal sogar zu einem körperlichen Übergriff gekommen. Ein Mann wollte mir unter die Bluse fassen. Ich beendete die Behandlung sofort. Deutlich öfter kam es allerdings zu verbalem Sexismus. Wenn ich abends nach einem ganzen Tagen im Stationsdienst noch einmal auf Visite war, haben Patientinnen und Patienten mich regelmäßig gefragt: "Wieso habe ich heute noch keinen Arzt gesehen?"

Nun habe ich seit vielen Jahren eine eigene Praxis. Eine Frau, die seit zehn Jahren Patientin ist, sagt bei heikleren Angelegenheiten immer noch: "Da müssen Sie jetzt Ihren Chef fragen." Damit meint sie meinen Praxispartner – wir stehen beide auf dem Praxisschild, sind gleichberechtigt. Aber immer wieder zweifeln Patientinnen und Patienten an dieser Gleichberechtigung. Ob sie wohl auch meinen Praxispartner nach seiner Chefin fragen würde? Wohl eher kaum. Ich antworte in der Regel mit einer Gegenfrage: "Wer ist denn Ihrer Meinung nach mein Chef? Mein Mann, Gott, der Gesundheitsminister, der Bundeskanzler?"

Hilft Humor?

Ja. Mit Humor kann man den Menschen zeigen, wie grotesk ihre Aussagen sind und manche so zum Umdenken bewegen. Es ist wichtig, seinem Gegenüber den Wind aus den Segeln zu nehmen – und den Spieß umzudrehen. Damit es merkt, dass etwa die Aussage mit dem Chef unangebracht ist, und versteht: Frau Schick ist eine Unternehmerin, die eine Praxis leitet und eben keinen Chef mehr braucht – anders als früher. Das sind nur kleine, aber notwendige Schritte. Aber das gelingt nicht immer gleich gut.

Ich bin zwar durchaus extrovertiert, aber leider auch nicht immer so schlagfertig, wie ich gerne sein würde.

Wechseln wir einmal die Seiten: Welche Rolle spielt das Thema Sexismus unter Kolleginnen und Kollegen?

Sexismus im Kollegium geht ganz klar von Männern aus, vor allem in Kliniken. Mich hat bei einem Vorstellungsgespräch ein Chefarzt mal gefragt, ob ich nicht lieber etwas mit Kommunikation machen wolle, etwa beim Fernsehen oder Radio, weil ich doch so gut sprechen könne. "Sie sind doch viel zu nett für die Chirurgie!", hieß es da. Es brauche andere Charaktere in diesem Job.

Was haben Sie ihm entgegnet?

Ich habe gesagt, dass ich diese Einstellung traurig finde, weil ich glaube, dass es gerade in der Chirurgie wichtig ist, mit Menschen kommunizieren zu können. Dass ich eine Operation technisch beherrsche, ist eine Grundvoraussetzung. Aber ebenso wichtig ist es für die Patientinnen und Patienten, eine Operation vorher und nachher mit Gesprächen zu begleiten. Für mich gehört zu einem guten Chirurgen und einer guten Chirurgin definitiv auch dazu, dass man kommunizieren kann und den Menschen wahrnimmt. Das war also ein klassischer Fall von: "Machen Sie doch bitte was anderes."

Hat es auch etwas mit Machtverhältnissen zu tun, also passiert so etwas Auszubildenden öfter als gestandenen Ärztinnen?

Ja, aber nicht nur. In der Ausbildung stoßen sicherlich viele Frauen auf Sexismus. Als junge Assistenzärztin habe ich mal einen Oberarzt gebeten, meinen Kittel zu schließen, da meine Hände schon steril waren. Er entgegnete für alle im OP-Saal hörbar: "Aber ich kann Frauen doch viel besser ausziehen als anziehen. Das würde mir doch viel besser gefallen."

Am OP-Tisch bekommt man von seinen Kollegen als Frau auch schon mal zu hören: "Mach das doch mal feinfühliger – wie wenn du deinen Freund zu Hause streichelst." Selbst erfahrenen Kolleginnen wird häufig die Kompetenz abgesprochen: Ich werde auch heute noch öfter gebeten, das Desinfektionsmittel im OP-Saal aufzufüllen, weil man(n) nicht davon ausgeht, dass ich die Chirurgin bin.

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Ohne Frauen wäre die Medizin aufgeschmissen.

Absolut. Wir sind auf Frauen angewiesen! Unser Gesundheitssystem lässt es gar nicht zu, dass wir Frauen außen vor lassen. Ohne den großen weiblichen Anteil haben wir nicht mehr genug Menschen, die einen medizinischen Beruf ausüben. Umso schlimmer ist es, dass Sexismus immer noch so präsent ist. Es darf auch nicht mehr zur Debatte stehen, ob eine Frau mit Kindern in einer Führungsposition arbeiten kann oder dass sie nur Teilzeit arbeiten will. Die Festgefahrenen müssen ihre Einstellung ändern – denn offensichtlicher Sexismus kann den Beruf unattraktiv machen, und das wäre für unsere zukünftige medizinische Versorgung eine Katastrophe.

Gibt es Personengruppen, die sich vermehrt sexistisch äußern?

Meiner Erfahrung nach sind sexistische Ansichten vor allem unter älteren Menschen verbreitet, sowohl unter Männern als auch Frauen. Eine 80-jährige Patientin etwa ist in einer Zeit aufgewachsen, in der es noch deutlich weniger Ärztinnen gab und der Beruf sehr von Männern geprägt war. Viel schlimmer finde ich es allerdings, wenn junge Menschen noch in solchen Klischees denken, wie etwa der Patient in meinem LinkedIn-Beitrag.

Was raten Sie Kolleginnen, wenn sie Sexismus erfahren?

Sie sollten auf keinen Fall schweigen: Bei Vereinigungen wie Die Chirurginnen oder der Deutsche Ärztinnenbund gibt es Plattformen zum Austausch für Betroffene. Dort merken sie: Ich bin nicht allein. Zudem können Frauen sich beim Gleichstellungsbeauftragten ihres Arbeitgebers melden – aber leider schrecken viele davor zurück, weil sie um ihre Stelle fürchten oder in Abhängigkeiten Ihrer Weiterbildung stecken. Das haben mir auch einige Kolleginnen berichtet.

Es ist jedoch enorm wichtig, Erlebtes öffentlich zu machen – denn so etwas beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung der Frauen und kann gegebenenfalls Folgen für das Selbstbewusstsein haben. Wir müssen uns wehren, wir dürfen das nicht hinnehmen – in der Medizin, genauso wie auch in den vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft, in denen Sexismus noch heute gelebte Realität ist.

Frau Dr. Schick, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Dr. Kerstin Schick
  • linkedin.com: Beitrag von Dr. Kerstin Schick
  • chirurginnen.com
  • aerztinnenbund.de
  • gefaessmedizin-muenchen-sued.de
  • de.statista.com: "Anzahl der Studierenden im Fach Humanmedizin in Deutschland nach Geschlecht in den Wintersemestern von 2008/2009 bis 2021/2022"

Quellen anzeigenSymbolbild nach unten

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