Zum Tod von Benedikt XVI. Verraten von seinem engsten Vertrauten
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Joseph Ratzinger war ein großer Theologe, auch als Papst. Genau das war sein Problem – und das seiner Kirche.
Benedikt XVI. war weniger im Heute verankert als in den Lehrschriften vergangener Jahrhunderte. Ein Prediger, der "Glaubenstiefe" verlangte und oberflächliche Katholikenfolklore verabscheute, wie sie sein Vorgänger Johannes Paul II. perfekt beherrschte und deshalb wie ein Popstar gefeiert wurde. Benedikt war der Leuchtturm der konservativen Elite der etwa 1,3 Milliarden Katholiken in der Welt – nicht der Papst der großen Mehrheit der kleinen, armen Leute.
Dabei hat sein Weg einst genau dort begonnen: in Marktl im bayerischen Landkreis Altötting. Die Mutter war Köchin, der bei seiner Geburt 50-jährige Vater Gendarmeriemeister, der häufig mitsamt der Familie versetzt wurde.
Nach einer besonders großen Zukunft für den Buben sah das zunächst nicht aus. Zudem standen Naziherrschaft und Weltkrieg kurz bevor, als der nach seinem Vater benannte Joseph zur Welt kam. "Josepherl" rief man ihn, bis er acht Jahre alt war und die Familie anwies: "Ich heiße von jetzt an Joseph!"
Geld war knapp im Hause Ratzinger. Gleichwohl wurde Joseph, so wie sein drei Jahre älterer Bruder Georg, aufs erzbischöfliche Studienseminar und dann aufs staatliche Gymnasium geschickt. Die Jungs dankten es – nach den Hitlerjugend- und Kriegszeiten – mit einem zügigen Aufstieg.
Georg wurde Priester und Kirchenmusiker, Chef der Regensburger Domspatzen. Joseph wurde natürlich auch Priester, hatte aber höhere theologische Ziele. Nur ein Jahr nach seiner Weihe im Jahr 1951 war er Kaplan und Religionslehrer in München, wurde dann Dozent am Freisinger Priesterseminar.
1953 folgte der Doktortitel in Theologie, 1958 war er Professor, erst in Freising, dann in München, 1959 besetzte er in Bonn den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie. Es folgten Professuren in Münster und Tübingen – Ratzinger war mit Ende 30 ein Star in der Welt der deutschen Katholiken. Seine Vorlesungen waren überfüllt.
"Teenager-Theologe" Ratzinger
Seinen Lehrstuhl in Tübingen erhielt er auf Empfehlung des dortigen Superstars, des Schweizers Hans Küng. Sie seien "auf derselben Wellenlänge", sagte Küng. Bald wurden beide von Papst Johannes XXIII. zu Mitgliedern des Zweiten Vatikanischen Konzils ernannt. Gemeinsam fuhren sie nach Rom, gemeinsam wurden sie von den Medien als "Teenager-Theologen" gefeiert.
Aber die Eintracht hielt nicht lange. Die 68er-Bewegung trennte die Glaubensbrüder. Küng diskutierte mit protestierenden Studenten, die seine Vorlesung stürmten, akzeptierte vieles von ihrer Kritik an der katholischen Kirche. Ratzinger dagegen war schockiert angesichts studentischer Einfälle in seinen Hörsaal.
Er war ein ängstlicher Mensch, machte beispielsweise keinen Führerschein, weil er Autofahren für zu gefährlich hielt. Schon als Jugendlicher blieb er, wenn die Gleichaltrigen die Welt erkundeten, lieber zu Hause und übersetzte altgriechische und lateinische Texte.
Verängstigt verließ er Tübingen, zog sich ins friedliche Pentling bei Regensburg zurück. Auch in der Theologie suchte er fortan die Sicherheit des Althergebrachten. Seinen ehemaligen Freund Küng nannte er später, im November 1979, "unkatholisch".
Der Papst rief ihn drei Jahre lang
Drei Jahre zögerte er, vom stillen Regensburg nach Rom zu wechseln, bis er dem Drängen von Papst Johannes Paul II. nachgab und im Vatikan Chef der Glaubenskongregation wurde. Das hieß dort: das Latein aufbessern. Denn Ratzinger hielt die ersten Besprechungen in Latein ab, und viele Kardinäle konnten ihm nicht folgen. Und es bedeutete das Ende der Modernisierungsdebatte.
Ratzinger war gegen die politischen Aktivitäten der Befreiungstheologie, für das strenge Zölibat und die katholische Sexuallehre, gegen jede Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Er war entschieden gegen die Abtreibung. Im US-Wahlkampf 2004 etwa forderte er die Bischöfe auf, katholischen Politikern, die sich für Abtreibungs- oder Sterbehilfe-Gesetze einsetzten, die Kommunion zu verweigern. Mit eisernen Regeln wollte er die gute, alte Kirche vor den Winden der Moderne schützen.
"Ich will Sie bis zum Ende haben"
Ratzinger war in Rom mächtig, aber nicht glücklich. Wiederholt bat er den Papst um seine Entlassung. Vergebens. Der Papst riet ihm 2002, keine Rücktrittsgesuche mehr zu schreiben, er werde sie sowieso alle ablehnen: "Ich will Sie bis zum Ende haben." So kam es auch. Johannes Paul II. starb 2005, und Ratzinger war noch immer in Rom.
Schlimmer noch: Der verhinderte Rentner wurde am 19. April 2005 zu Papst Benedikt XVI. Da war er bereits 78 Jahre alt, so alt wie kein Vorgänger bei Amtsantritt seit 1730. Den Kardinälen, die ihn bereits im vierten Wahlgang kürten, war das egal. Und die Deutschen jubelten. Die "Bild"-Zeitung titelte: "Wir sind Papst". Das halbe Land war aus dem Häuschen.
Seit Jahrhunderten hatte kein Deutscher das höchste Amt der katholischen Weltkirche erobern können. Und mit denen davor war wenig Staat zu machen: Hadrian VI., von Anfang 1522 bis Herbst 1523 im Amt und oft als Deutscher gelistet, war eigentlich Holländer. Stephan IX. stammte aus dem damals ständig umkämpften und umgeordneten Niederlothringen und war zwischen 1057 und 1058 kaum ein Jahr Vatikan-Regent, als er während der Vorbereitung auf einen Kriegszug starb. Da machte der zum Kirchenführer gekürte Deutsche Ratzinger schon eine ganz andere Figur.
Rücktritt nach "Vatileaks"
Aber Benedikt XVI. übernahm einen schweren Job. An allen Ecken und Enden des katholischen Weltreichs kriselte es. Und er war zwar offen für jedes Gespräch, ob mit den Vertretern des Islams, des Judentums, der evangelischen Kirchen. Doch weil für ihn nur die katholischen Normen die einzig richtigen waren, blieb für Kompromisse wenig Raum. Das galt auch innerhalb der Kirche und vor allem innerhalb des Vatikans.
Die "Vatileaks-Affäre", wie sie der Pressesprecher des Vatikans in Anlehnung an "Wikileaks" später taufte, war auch eine Folge der geistigen Enge. Ab 2011 wurden interne Papiere an die Öffentlichkeit gebracht, die von Günstlingswirtschaft, einer starken homosexuellen Lobby, von Misswirtschaft und kriminellen Machenschaften der Bank des Kirchenstaats berichteten.
Der Vatikan taumelte von einem Skandal zum nächsten und einer der Aktivisten der Enthüllungskampagne war ausgerechnet ein enger Vertrauter Benedikts, der päpstliche Kammerdiener Paolo Gabriele.
Der wurde im Oktober 2012 zu 18 Monaten Haft im Vatikanischen Gefängnis verurteilt. Doch einen Monat später besuchte ihn Benedikt XVI. in der Zelle, vergab ihm und hob die Verbüßung der Reststrafe auf. Paolo Gabriele ging nach Hause, Benedikt blieb "betrübt und geschockt" über den Vertrauensbruch zurück. Kurz darauf, am 11. Februar 2013, kündigte er an, er werde am 28. Februar 2013 zurücktreten: Seine Kräfte reichten altersbedingt nicht mehr, "den Petrusdienst auszuüben".
Gegen die Diktatur des Zeitgeistes
Als "einfacher und bescheidener Arbeiter im Weinberg des Herrn" hatte Benedikt sich nach seiner Wahl von der Loggia des Petersdoms herab der Weltöffentlichkeit vorgestellt. Das klang gut, aber es war ein völlig falsches Bild: Er war kein Arbeiter, er war ein Hüter, der Schutzherr der alten, traditionellen Ordnung, dem Maschendraht rund um den Weinberg.
Er sei "einer der großen Theologen auf dem Stuhl Petri" gewesen, würdigte ihn zum Abschied der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch. Mag sein, aber einer der großen Päpste war er gewiss nicht.
Allzu viel ist ihm entglitten oder fehlgelaufen: von der Rehabilitierung des Holocaust- und Gaskammer-Leugners Richard Williamson, dem Bischof der Piusbruderschaft, bis zur historischen Umdeutung der Eroberung Südamerikas. Das sei kein Aufzwingen einer fremden Kultur gewesen, hatte Benedikt in Brasilien verkündet, sondern von den Ureinwohnern unbewusst herbeigesehnt worden. Ganz Lateinamerika, der "katholische Kontinent", die Heimat von 40 Prozent aller Katholiken der Welt, empörte sich über diese "unglaubliche Geschichtsklitterung" (so der deutsche Lateinamerika-Historiker Hans-Jürgen Prien).
Benedikt XVI. suchte nicht, er wusste in der Regel alles besser, und stets das, was früher richtig war. Er lehnte so gut wie alles ab, was nach Veränderung aussah. In der Kirche, wie in der Welt. Vielleicht war der Rücktritt die bedeutendste Tat dieses Papstes, sagen manche im Vatikan, denn damit werde er in die Geschichtsbücher eingehen.
Ruhestand mit gelegentlicher Unruhe
Ein Bereich des Klosters Mater Ecclesiae, mitten in den Gärten des Vatikans, wurde für ihn als Wohnsitz ausgebaut und er versprach seinem Nachfolger Franziskus "bedingungslosen Gehorsam". Aber so ganz konnte er sich dann doch nicht fernhalten, mischte sich hier mit einem Interview, dort mit einem Aufsatz ein. Mal ging es um die angebliche Mitverantwortung der 68er-Bewegung am sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, mal um die "Gottesferne" in Gesellschaft und Kirche. Sein Nachfolger sei manchmal deshalb zornig, hieß es, nahm es aber still hin. Einen Papst kann man weder attackieren noch ihm den Mund verbieten.
Im Juni 2020 reiste der emeritierte Papst nach Regensburg zu seinem sterbenden 96-jährigen Bruder Georg. Mit ihm war er sein ganzes Leben lang eng verbunden gewesen. Doch zu dessen Beerdigung wenig später konnte er nicht reisen, er war zu schwach, zu krank. Seine letzte Ruhestätte hatte er sich da schon ausgesucht: das frühere Grab seines in die Sankt Sebastian-Kapelle umgebetteten, heiliggesprochenen Vorgängers Johannes Paul II. in der Krypta der Peterskirche. Benedikt XVI. starb nun, zweieinhalb Jahre später, am 31. Dezember im Alter von 95 Jahren.
Jetzt warten viele Katholiken, Laien wie Priester, auf sein bereits seit Längerem verfasstes geistliches Testament. Manche vermutlich mit gemischten Gefühlen.
- Eigene Beobachtungen