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Gisèle Pelicot: Vergewaltigungsfall verändert Frankreich


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"Erzieht eure Söhne"
Diese Massenvergewaltigung kann ein ganzes Land verändern


Aktualisiert am 17.12.2024Lesedauer: 6 Min.
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Gisèle Pelicot: "Die Scham muss die Seite wechseln", forderte sie im Prozess. (Quelle: IMAGO/Coust Laurent/ABACA)
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Gisèle Pelicot ist zu einer feministischen Ikone geworden. Weil sie die monströsen Verbrechen an ihr in der Öffentlichkeit verhandeln lässt, könnte sich Frankreich grundlegend verändern.

Dieser Prozess soll die Kraft haben, die Verhältnisse umzukehren. Er soll die Wucht entwickeln, die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen und die Dinge geradezurücken. Um nichts weniger geht es Gisèle Pelicot. "Es ist an der Zeit, Vergewaltigung mit anderen Augen zu sehen", sagte sie am Dienstag bei ihrer abschließenden Anhörung vor Gericht in Avignon.

Dort wird seit September ein Verbrechen verhandelt, dessen Monstrosität die Welt erschüttert. Dutzende Männer sollen Gisèle Pelicot vergewaltigt haben, nachdem ihr Ehemann sie betäubt und im Internet angeboten hat. Angeklagt sind außer dem geständigen Dominique Pelicot 50 mutmaßliche Täter, die Gisèle Pelicots Wehrlosigkeit ausgenutzt haben sollen. Mit dem Beginn der Plädoyers geht das Verfahren diese Woche in seine Endphase, noch vor Weihnachten könnten die Urteile fallen. Mit bis zu 20 Jahren Haft müssen die Männer rechnen.

Der Fall Pelicot könnte eine Gesetzesänderung bewirken

Aber so wichtig jedes einzelne Urteil ist: Für Frankreich geht es um mehr als die Frage, wie lange welcher Täter ins Gefängnis muss. Der Fall hat im Land eine Debatte angestoßen, die möglicherweise die Rechtslage verändern wird. Wogegen sich Politiker jahrelang sträubten, scheint nun möglich. Der Straftatbestand der Vergewaltigung soll im französischen Gesetz neu definiert werden.

Bisher gilt in Frankreich: Eine Vergewaltigung liegt nur vor, wenn der Täter Gewalt oder Zwang ausübt oder damit droht. Unter dem Eindruck des Prozesses in Avignon hat sich nun der französische Justizminister dafür ausgesprochen, die Frage der Zustimmung mit in den Paragrafen 222-23 des Strafgesetzbuches zu nehmen. Fehlt diese, sollen Gerichte Täter zukünftig ebenfalls als Vergewaltiger verurteilen können.

"Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung"

Welche Bedeutung diese Änderung hätte, offenbaren die Ausreden vieler der Männer, die in Avignon auf der Anklagebank sitzen. Nur einzelne bekannten sich zu ihren Taten und baten um Entschuldigung. Andere behaupteten, sie hätten geglaubt, Teil eines abgesprochenen Szenarios zu sein.

Dass Gisèle Pelicots Ehemann ihnen seine Zustimmung gegeben hat, über seine durch Schlafmittel außer Gefecht gesetzte Frau herzufallen, habe ihnen genügt. Die Zustimmung von ihr selbst hätten sie für unnötig gehalten, war vor Gericht von Angeklagten und Verteidigern zu hören. Ja, es seien Vergewaltigungen gewesen, aber sie seien "unabsichtlich" erfolgt, es seien keine echten Vergewaltigungen gewesen.

Mit einer erstaunlichen Ruhe hat sich Gisèle Pelicot all diese Ausflüchte im Gericht angehört und dann gekontert. "Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung", erklärte sie zum Beispiel. Oder am Dienstag: "Einer der Männer hat gesagt: 'Mit dem Finger, das ist keine Vergewaltigung.' Der soll mal scharf nachdenken." Sie wolle all den Männern eine Frage mit auf den Weg geben: "Wann genau hat Frau Pelicot Ihnen eigentlich ihr Einverständnis gegeben?"

"Ich verstehe jetzt, warum andere nicht vor Gericht ziehen"

Auch von Verteidigern musste sich Gisèle Pelicot während des Prozesses schon viel bieten lassen. Immer wieder versuchten Anwälte, sie vom Opfer zur Mitschuldigen zu stilisieren. Einer der Verteidiger bezog sich auf Fotos, die sie als jüngere Frau an einem FKK-Strand zeigen. Ob sie nicht eventuell "eine nicht eingestandene exhibitionistische Neigung" aufweise, wollte der Mann wissen.

Eine andere Anwältin machte Schlagzeilen, als sie einen Clip von sich selbst im Internet hochlud. Darauf ist zu sehen, wie sie im Auto sitzt und einen Hit der Band Wham! mitsingt: "Wake Me Up Before You Go Go" – weck mich auf, bevor du gehst.

"Ich verstehe jetzt, warum andere Opfer von Vergewaltigungen nicht vor Gericht ziehen", hat Gisèle Pelicot zu all den Unterstellungen gesagt. Aber sie bereue es nicht, diesen Weg gegangen zu sein.

Die Frage, "wer wir sind"

Ihr Anwalt formulierte es diesen Mittwoch in seinem Plädoyer so: "Wenn die Verteidigung auch frei ist, sagt sie doch viel darüber aus, wer wir sind."

Diese Frage ist zentral: In welcher Gesellschaft leben wir? Der Prozess erschüttert Frankreich auch, weil er Bilder zerstört, die sich über Jahrzehnte in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben. Ein Vergewaltiger, glauben immer noch viele, sei ein Fremder, der nachts aus einem Gebüsch springt und eine arglose Frau überfällt.

Der Prozess zeigt nun allerdings, dass dem nicht so ist. Dominique Pelicot hatte keine Mühe, seine Komplizen zu finden. Auf einer inzwischen geschlossenen Internetseite lud er über einen Zeitraum von zehn Jahren Männer unter dem Titel "Ohne ihr Wissen" ein, seine unter Drogen gesetzte Frau zu vergewaltigen. Es kam ein Querschnitt der Gesellschaft.

Täter aus der Nachbarschaft: ein Tischler, ein Journalist, ein Polizist

Unter den Angeklagten: Jean-Luc L., ein Tischler. Patrice N., ein Elektriker. Jacques C., ein Rentner. Christian L., ein Feuerwehrmann, der in Uniform zur Vergewaltigung erschien. Nicolas F., ein Journalist. Karim S., ein Informatiker, der zugab, auch eine ehemalige Partnerin vergewaltigt zu haben. Redouane A., ein Arbeitsloser, der zuvor schon 19 Mal verurteilt worden war, unter anderem wegen Gewalt in der Partnerschaft. Quentin H., ein ehemaliger Polizist.

Zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Taten waren die Männer zwischen 22 und 67 Jahre alt. Ein Querschnitt der Gesellschaft. Bis sie am Tatort waren, brauchten die Männer nicht lange. Viele wohnten in der Nachbarschaft, nur wenige Kilometer von den Pelicots entfernt.

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"Die völlige Zerstörung der Frau"

Warum sie bereitwillig ins Haus der Familie kamen, um zu vergewaltigen? Offenbar hätten sie "Wehrlosigkeit mit sexueller Erregung in Verbindung gebracht", mutmaßt der Traumatologe und Psychotherapeut Christian Lüdke.

Dominique Pelicot erteilte seinen Mittätern genaue Anweisungen: Damit bei seiner Frau, der er Schlafmittel ins Abendessen gerührt hatte, am nächsten Tag nichts als ein seltsames Gefühl der Mattheit zurückblieb, durften die Männer unter anderem kein Parfum tragen. Außerdem sollten sie ihre Fingernägel schneiden, um Kratzer zu vermeiden. Gisèle Pelicot sollte unter keinen Umständen Verdacht schöpfen.

Auf den Videos, die der Ehemann von den Vergewaltigungen aufnahm, hört man seine Frau schnarchen. Man sieht, wie er sie drapiert, wie er ihr die Beine auseinanderdrückt, wie er ihren Kopf nach hinten biegt und ihren Mund öffnet, damit einer der Männer sie oral vergewaltigen kann.

Was Dominique Pelicot dabei empfunden haben will, hat er im Prozess gesagt: "Es war eine sexuelle Fantasie von mir, eine bewusstlose Frau zu unterwerfen", behauptete er. Psychotherapeut Christian Lüdke glaubt, dass dahinter noch mehr steckt. Pelicot habe eine "völlige Zerstörung der Frau, der weiblichen Identität" beabsichtigt, sagte er dem ZDF.

"Die Scham muss die Seite wechseln"

Was ebenfalls erschüttert: Kein einziger der Täter ging hinterher zur Polizei, um wenigstens zu verhindern, dass weitere Männer Verbrechen an Gisèle Pelicot begehen können. Erst ein Zufall brachte alles ans Licht: Als Dominique Pelicot im September 2020 von einem Ladendetektiv erwischt wurde, wie er Frauen unter den Rock filmte, und daraufhin Polizisten seine technischen Geräte durchsuchten, fanden diese einen ganzen Ordner mit Videos. Dominique Pelicot hatte ihn "Abus" genannt, "Missbrauch". Die Videos in diesem Ordner zeigen 92 einzelne Vergewaltigungen. Viele der Täter konnten die Ermittler nicht identifizieren.

Der Umfang der Vorwürfe hat Frankreich schockiert. Der Umgang von Gisèle Pelicot damit eröffnet nun die Chance, einen Wandel anzustoßen.

Pelicot ist zu einer feministischen Ikone geworden, weil sie sich dazu entschlossen hat, diesen Prozess unter den Augen der Welt führen zu lassen. Als Opfer hätte sie die Öffentlichkeit ausschließen lassen können. Sie wäre dann in Berichten über den Fall nur Madame P. genannt worden. Aber sie entschied sich, ihr Gesicht offen zu zeigen. "Die Scham muss die Seite wechseln", sagte sie zu Beginn des Prozesses.

"Erzieht eure Söhne"

Wenn sie nun in Avignon ins Gericht kommt, klatschen die Menschen Beifall. Sie halten Plakate hoch, auf denen "Erzieht eure Söhne" steht oder "Wer schläft, stimmt nicht zu". Als Graffiti ziert das stilisierte Porträt von Gisèle Pelicot auf der ganzen Welt unzählige Wände. Was sie sagt, wird gehört und tausendfach zitiert. Und ihren Sätzen könnte tatsächlich die Macht innewohnen, etwas grundlegend zu bewegen.

Was dabei manchmal untergeht: Im Inneren ist Gisèle Pelicot eine gebrochene Frau. Ihre Welt sei ein Trümmerfeld, offenbarte sie im Prozess. Der Mann, den sie liebte, den sie für den perfekten Vater ihrer Kinder hielt, entpuppte sich als Serienvergewaltiger. Sie ließ sich nach Bekanntwerden seiner Taten von ihm scheiden. Nun halte sie die Fassade nur aufrecht, um ihr Ziel zu erreichen, sagte Pelicot vor Gericht. Nicht Wut oder Hass treibe sie an. Es sei auch kein Mut, "sondern der Wille und die Entschlossenheit, diese Gesellschaft voranzubringen".

Verwendete Quellen
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