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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ständig kommen neue dazu Punker fallen auf Sylt ein – für erneute "Chaostage"
Die Reichen und Schönen sind nicht länger unter sich: Statt Ralph-Lauren-Pullis und schicken Sonnenbrillen gibt es wieder Leder und Sicherheitsnadel-Piercings zu sehen.
"Oh ich hab' solche Sehnsucht, ich verliere den Verstand! Ich will wieder an die Nordsee, ich will zurück nach Westerland!" Der Klassiker "Westerland" von den Ärzten ist aktuell wie nie: Als Hymne für die Punks, die inzwischen das dritte Jahr in Folge Sylt aufmischen.
Denn sie sind zurück in Westerland. Seit einigen Tagen sind wieder bunt gefärbte Haare und Lederkutten auf der nordfriesischen Insel zu sehen. Die Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands (APPD) mobilisiert erneut für die "Chaostage" auf Sylt vom 24. Juli bis zum 13. August. Bereits seit vergangenem Samstag dürfen bis zu 300 Punker auf einer Wiese nahe dem Flugplatz Tinnum auf Sylt kampieren.
Hier stehen bereits am Mittwoch Dutzende Zelte, zum Teil provisorisch aus Planen und Ästen gebaut, manche kreativ bemalt.
"Wir sind jetzt schon mehr als letztes Jahr"
Einige der Punks sind allerdings auch schon länger da, so wie die 19-jährige Ente, wie sie sich nennt. Bereits seit voriger Woche ist die Nordseeinsel ihr vorübergehendes Zuhause, inzwischen schon zum dritten Mal. Das Leben im Camp gefällt ihr gut. Vor allem freut sie sich, dass der Punker-Andrang auf die Insel dieses Jahr offenbar besonders stark ist.
"Wir sind jetzt schon mehr als letztes Jahr", so die Punkerin. Wie viele Punks genau in dem Camp leben, ist unmöglich zu sagen. Ständig kommen neue dazu, andere reisen wieder ab. Das Leben in dem Zeltlager, nur wenige Hundert Meter von der örtlichen Porsche-Niederlassung entfernt, ist dabei überraschend gut organisiert.
So organisieren sich die Punks: mit "Safe-Word"
Als ein Reporter von t-online das Lager besucht, räumen gerade mehrere Punks den herumliegenden Müll in schwarze Müllsäcke. Sollte es Ärger geben, gibt es ein "Safe-Word" im Camp, also ein vorher ausgemachtes Codewort für die Sicherheit. "Dann stehen alle auf und helfen, auch nachts", erklärt Ente. "Das haben wir dieses Jahr aber noch nicht gebraucht."
An einem brummenden Generator laden etliche Handys, drei Dixi-Klos stehen bereit. Verpflegung gibt es im Rewe gegenüber, geduscht wird am Strand.
Das Camp ist teuer, das Geld wird geschnorrt
Das Geld dafür wird gemeinsam in Westerland gesammelt, erklärt ein junger Punker, der mit rund zwanzig anderen am bekannten Wilhelminenbrunnen abhängt. Er nennt sich (Pi)Ranja. Das Pi am Anfang sei jedoch stumm, "weil ich kein Mathe kann". Er lacht über den Witz, mehrere umstehende Punks fallen mit ein. Der 18-jährige Berliner ist zum ersten Mal auf Sylt, wollte "immer schon mal dabei sein". "Wenn wir hier schnorren, geht das alles ins Camp, kaum jemand behält das Geld für sich." Denn der Unterhalt des Lagers sei teuer, allein schon für die Miete der Dixi-Klos komme Etliches zusammen.
Außerdem, so ergänzt Ente, seien noch 4.000 Euro von letztem Jahr offen. Die 19-jährige möchte gerne bis zum Ende der "Chaostage" auf der Insel bleiben. "Wenn mein Geld reicht, ich hab' noch 90 Euro, das sollte aber locker reichen."
Sonnencreme für 40 Euro von der AfD-Mutti
Außerdem ist sie gut ausgestattet. "Meine Mama hat mir extra für Sylt für insgesamt 40 Euro ganz viel Sonnencreme und Mückenspray geschenkt. Sie war früher auch Punkerin, fast wie meine ganze Familie. Nur jetzt ist sie leider bei der AfD."
Zwar habe ihre Mutter nie gewollt, dass die Tochter ihrem Weg als Punkerin folgt. "Sie hat mich aber trotzdem mit einem Kuss nach Sylt verabschiedet", erklärt Ente.
Nicht alle Eltern der jungen Punks sind begeistert über deren Lebenswandel. "Meine Mum ist ein ziemlicher Yuppie", erklärt (Pi)Ranja. "Sie hat zwar nichts gesagt, als ich hergefahren bin, aber sie hält mich eh für einen ziemlichen Weichling." Lederkutte mit Nieten und diverse Piercings haben daran offenbar nichts geändert.
Auch die 17-jährige Key ist extra für die "Chaostage" nach Sylt gekommen. Was ihre Eltern davon halten? "Keine Ahnung, wir haben keinen Kontakt."
Wo bleibt die Politik? "Kein Bock auf Stress"
Sonderlich politisch scheint das Punkertreffen auf Sylt indes nicht zu sein. Das überrascht, denn vor rund zwei Monaten grölten noch betrunkene Sylt-Urlauber vor der bekannten Edel-Bar "Pony" rechtsradikale Parolen. Ein Video davon ging viral. Der Vorfall ist zwar den meisten Punks bekannt. Extra deswegen angereist scheint jedoch keiner zu sein. Ein paar von ihnen wollen zwar eine kleine Demo vor dem "Pony" veranstalten, meint ein schwarz-vermummter Punker. "Aber nur, wenn die Gemeinde uns das genehmigt", wirft Ente ein. "Wir haben hier echt keinen Bock auf Stress."
Der sei bislang weitgehend ausgeblieben, sagte Ente – bevor es kurz darauf am Donnerstagvormittag zu Ärger am Rathaus kam, als bis zu 25 Punker das Gebäude stürmten, Parolen riefen und schließlich herausgeschmissen wurden (mehr dazu lesen Sie hier).
Anscheinend haben sich die Insulaner und Touristen an die auffälligen Besucher gewöhnt. Immer wieder klimpern Münzen in den Spendenbechern der Punks. Während des Gesprächs mit (Pi)Ranja kommen zwei junge Mädchen zu ihm, fragen ihn was das große, eingekreiste "A" der Anarchisten zu bedeuten hat, das viele Punks auf ihren Klamotten tragen. Der 18-jährige mit den Sicherheitsnadeln im Gesicht klärt sie freundlich auf. Die Punks suchen oft das Gespräch mit Schaulustigen. Versuchen, ihnen ihren Lebensstil näherzubringen. Oder ein paar Münzen zu erbetteln.
Urlauberin: "Wenn das jeder so machen würde ..."
Ob Ersteres funktioniert, bleibt fraglich, bei der 67-jährigen Doris hat es nicht geklappt. Zusammen mit Mann und Tochter macht sie jedes Jahr Urlaub auf Sylt. Mit den Punks habe sie sich bereits öfter unterhalten. Darüber, dass sie jetzt zum dritten Mal in Folge die "Chaostage" auf Sylt miterlebt, freut sie sich dennoch nicht. Auch der Lebensstil der Punks hat es ihr nicht angetan. "Die leben ja einen völlig unstrukturierten Tag. Wenn das jeder so machen würde, wie sähe es dann hier aus?" Besonders das "Gegröle" in der Innenstadt und frei laufende Hunde der Punks störten sie, genauso wie das "ständige Angemache nach Geld oder Zigaretten."
Etwas einschüchternd seien die wilden Gesellen schon. "Aber wenn sie mir nicht zu nahe kommen, fühle ich mich auch nicht unsicher."
Gut finde sie jedoch, dass die Punks eine Wiese nahe dem Flugplatz in Tinnum als Lager zugewiesen bekommen haben. "Da können sie machen, was sie wollen, solange sie sich an die Regeln halten." Bei den allerersten Chaostagen 2022 hatten die Punks ihr Lager in einem Park direkt am Rathaus aufgeschlagen. "Die haben da eine Unordnung hinterlassen ... Saustall ohne Ende", so die 67-Jährige. "Wir müssen einfach alle mehr Rücksicht aufeinander nehmen. Aber leben und leben lassen."
- Reporter vor Ort
- spiegel.de: "Sechs Wochen Pogo und Protest"