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Grüne im Sinkflug: Die Verzweiflung in der Partei ist groß


Ökopartei im Sinkflug
Die Gründe für den Absturz der Grünen

  • Uwe Vorkötter
MeinungEine Kolumne von Uwe Vorkötter

Aktualisiert am 10.09.2024Lesedauer: 6 Min.
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Wirtschaftsminister Robert Habeck und Parteichefin Ricarda Lang: Haben die Grünen ihren Zenit überschritten? (Quelle: IMAGO/Chris Emil Janssen/imago)

Im Osten sind die Grünen abgewählt worden. Sie verstehen nicht, warum. Sie flüchten aus den Niederungen der Politik in die Höhen der Moral. Das kann nur schiefgehen. Auch im Westen.

Am Abend der jüngsten Landtagswahlen wischte sich Ricarda Lang eine Träne aus dem Augenwinkel. Das war ein berührender, ehrlicher Moment, unverstellt, ohne Inszenierung. So etwas kommt selten vor in der Politik. Für die Grünen war es aber auch ein Wahlergebnis zum Heulen. In Thüringen raus aus dem Landtag, in Sachsen gerade so die 5 Prozent geschafft. Ein Debakel für die Partei, die doch eigentlich einen Führungsanspruch erhebt: Wir sind die neue Volkspartei, wir sind – Vorsicht, Gendersprache! – Kanzler:innen-Partei.

Ricarda Lang hat sich schnell wieder gefangen. Eine halbe Stunde später ratterte sie routinemäßig die typische grüne Wahlanalyse herunter: Die anderen sind schuld. Der Kretschmer in Sachsen war ekelhaft zu uns. Warum muss Friedrich Merz so wüst sein? Was treibt den Söder, dass er eine Koalition mit uns ausschließt? Wenn alle reden wie die AfD, wird die AfD gewählt. Klar, mit dem Ergebnis können wir nicht zufrieden sein. Aber Leute, egal, es geht jetzt gar nicht um die eigene Partei, es geht um Größeres: das Land, die Demokratie, den Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Das ist der Kammerton des grünen Orchesters: Immerzu steht das große Ganze auf dem Spiel, Politik ist nicht einfach das Ringen um Macht und Mehrheit, sondern ein heroischer Kampf von Gut gegen Böse. Das Böse steht rechts. In dieser Lesart ist der Wahlsieg der AfD ein Schicksalsschlag – unverdient, unvermeidbar. Mit eigenen Fehlern und Versäumnissen hat er nichts zu tun. Auf die Frage, ob in Thüringen und Sachsen die Migrationspolitik der Grünen gescheitert sei, antwortete Ricarda Lang: Nö, das Thema hat keine wichtige Rolle gespielt. Realitätsverweigerung, zum Heulen.

Eine reine West-Partei

Nun sind die Grünen im Osten praktisch erledigt. Ausgerechnet die Partei, die das "Bündnis 90" im Namen trägt, die das Erbe der Bürgerrechtsbewegung der DDR für sich in Anspruch nimmt. Verstehen die Bündnisgrünen die Wähler zwischen Rostock und Plauen, zwischen Erfurt und Frankfurt an der Oder nicht? Sahra Wagenknecht schwingt sich zur Ikone des Ostens auf – eine Altkommunistin, die in die SED eingetreten ist, als die Bürgerrechtler die friedliche Revolution erstritten. Die Grünen haben ihr offenkundig nichts und niemanden entgegenzusetzen. Für alles und jedes haben sie Doppelspitzen und Quoten. Aber die Führungsfiguren in der Regierung (Baerbock und Habeck), in der Partei (Lang und Nouripour), in der Fraktion (Dröge und Haßelmann): alle aus dem tiefen Westen.

Uwe Vorkötter
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".

Apropos Westen. Die desaströsen Ergebnisse in Thüringen und Sachsen sind ja möglicherweise nur Vorboten eines Sturms, der demnächst im ganzen Land über die Grünen hinwegfegt. Demnächst, wenn der Bundestag neu gewählt wird.

Erinnern wir uns kurz zurück an den Start der Ampelkoalition. Nach 16 Jahren in der Opposition feierten die Grünen die Rückkehr in die Regierung. Ihre Ansprüche waren hoch: Eine Klimaregierung sollte das Land steuern, der Superminister Robert Habeck würde die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft organisieren – raus aus den fossilen Brennstoffen, raus aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien. Wärmewende, Energiewende, Mobilitätswende: Schlüsselbegriffe des grünen Modernisierungsprogramms.

Lange war die Konkurrenz neidisch auf die Grünen

Die Medien waren entzückt. Sogar politische Gegner bescheinigten Habeck und Co, sie seien gut aufs Regieren vorbereitet. Tatsächlich konnten die Grünen fertige Papiere aus der Schublade ziehen. Experten des Ökoinstituts, Forscher des Wuppertal Instituts und der Agora Energiewende hatten sie geschrieben. Da stand genau drin, wie das Industrieland Deutschland umgestaltet werden müsste: Zeithorizont, Meilensteine, Projektcontrolling, das 1,5-Grad-Ziel, gefährliche Kipppunkte. Ein Masterplan. Die anderen Parteien waren neidisch.

Wir alle wissen, wann das schiefging: als der Entwurf von Robert Habecks Heizungsgesetz bekannt wurde. Auf einen Schlag wurde klar, dass die grünen Wendepapiere von Technokraten geschrieben worden waren, fernab der Lebensrealität in der Mitte der Gesellschaft. Sie orientierten sich an komplexen Klimamodellen, leiteten detaillierte Vorschriften daraus ab, der Erfolg jeder Maßnahme wurde in Tonnen CO2 berechnet. Die Menschen, denen die Vorschriften gemacht werden sollten, rechneten aber in Euro und Cent. Sie beschlich das Gefühl, die Rettung des Klimas könnte sie in den Bankrott treiben. Auf die Frage nach Alternativen erhielten sie immer dieselbe Antwort: Nein, gibt es nicht, die Alternative ist die Apokalypse.

Dann ging es drunter und drüber: Die Vetternwirtschaft von Habecks Staatssekretär wurde aufgedeckt. Nach Putins Überfall auf die Ukraine waren fossile Brennstoffe plötzlich keine Klimakiller mehr, sondern die Rettung im kalten Winter. Man sah Habeck in Katar den Bückling machen. LNG-Terminals wurden in Rekordzeit gebaut. Das Verfassungsgericht nahm der Koalition das Geld weg, mit dem all die großen Pläne finanziert und subventioniert werden sollten. Der Superminister versuchte sich im multiplen Krisenmanagement, immerhin mit einigem Erfolg. Aber die Grünen verstehen seitdem die Welt nicht mehr, das Wahlvolk versteht die Grünen nicht mehr.

Kaum Wille und Mut zur Selbstkritik

Es wäre an der Zeit gewesen, innezuhalten. Sich neu zu sortieren. Den ganzen Masterplan noch einmal zu überdenken, den Koalitionsvertrag neu zu schreiben. Erreichbare Ziele setzen, keine Klimapolitik mit der Brechstange, keine detailversessene Feinsteuerung von Wirtschaft und Gesellschaft mehr. Konsens suchen. Überzeugen, nicht vorschreiben.

Aber Selbstkritik gehört nicht zu den Stärken der Grünen. Sie haben jahrzehntelang gegen die Atomkraft gekämpft, jetzt sollten sie sich den Moment des Triumphs nehmen lassen, nur weil die Abschaltung der letzten Meiler gerade nicht in die Zeit passte? Jahrelang haben sie sich für offene Grenzen eingesetzt, für die Willkommenskultur, Deutschland sollte Migranten aus aller Welt aufnehmen. Wenn dann die Bürgermeister und Landräte vor Überforderung warnen, kann das nur ein administratives Problem sein. Mehr Stellen, mehr Geld, dann wird das schon. Gegen Messerstecher helfen Integrationsprogramme. Wer Islamismus unter Migranten vermutet, ist islamophob. Menschen fühlen sich unsicher im öffentlichen Raum? Die Statistik gibt das nicht her, also stellt euch nicht so an.

Inzwischen ist die Partei auf ihre Stammwähler zurückgeworfen und auf ihr Vorfeld aus NGOs, akademischen Instituten, Kirchentagen und Umweltverbänden. Jenseits dieser Milieus ist der Zuspruch dramatisch geschwunden. Den Grünen ist die Deutungshoheit über die großen Fragen der Politik und die kleinen Dinge des Alltags abhandengekommen. Es ist nicht lange her, da bestimmten sie die Themen: Klima, Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Tierschutz. Und Rassismus, Diskriminierung, Vielfalt. Schwul, trans, queer, von LGBT bis LGBTQIA+: Die Minderheiten, die Zuwendung verlangten, wurden immer kleiner, die Empörung über vermeintliche Benachteiligung zugleich immer lauter. Und die Ansagen der grünen Beauftragten kamen von oben herab. Ja, sagt inzwischen die liberale Mehrheit der Gesellschaft, alles gut, alles schön, soll jeder leben und lieben, wie er will. Aber geht uns bitte nicht auf die Nerven damit.

Eine Politik des "Du sollst nicht ..."

Den Grünen fehlt die Sensibilität für die Mehrheit. Ihre Kommunikation ist Mission, ihre Rede ist die Predigt. Ihre Botschaft sind die zehn Verbote: Du sollst nicht mit Öl heizen. Du sollst nicht fliegen. Du sollst nicht mit Rechten reden. Du sollst kein alter weißer Mann sein. Du sollst keinen Verbrenner fahren. Du sollst nichts Falsches sagen. Du sollst kein Fleisch essen. Du sollst die Gendersternchen nicht vergessen. Du sollst nicht Indianer spielen. Das sind nur neun Verbote, das zehnte können Sie individuell ergänzen.

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Nun ist die bürgerliche Mitte auf Distanz gegangen – zur Politik der Grünen und zum Lebensstil, den sie verkörpern. Im November wollen die Grünen Robert Habeck als Kanzlerkandidaten ausrufen. Trotzdem. Ein Kanzlerkandidat der grünen Nische? Das wäre lächerlich. Wenn die Ambition, Volkspartei und Kanzlerpartei zu werden, noch gilt, dann müssen die Grünen in die Mitte rücken. So wie Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Der hat 32,6 Prozent der Stimmen geholt, das war vor gerade einmal drei Jahren. Ein Wahlergebnis, das heute wirkt wie aus der Zeit gefallen.

Ende nächster Woche wird erst einmal in Brandenburg gewählt. Die Demoskopen sehen die Grünen um die 5 Prozent. Kann gerade noch gutgehen, kann schiefgehen. Kann sein, dass Ricarda Lang wieder eine Träne im Auge hat.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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