Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Ampel präsentiert Wachstumspaket Geniestreich oder Bluff?
Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt ... Die Regierung bringt eine Wachstumsinitiative auf den Weg. Löst die Ampelkoalition also ein Problem? Oder ist sie Teil des Problems?
Kürzlich erreichte mich eine nicht wirklich freundliche, sehr kritische Mail unseres Lesers Hans-Peter K. Er bemängelte, ich würde regelmäßig den Niedergang der Ampelkoalition herbeischreiben, meine Beiträge seien gegenüber der Regierung herabwürdigend, außerdem dumm und naiv. Mit Blick auf mein fortgeschrittenes Alter regte Herr K. an, ich könnte doch mit dem kurzen Rest meines Lebens noch etwas Sinnvolles anfangen – also jedenfalls keine Kolumnen mehr schreiben. Rumms.
Ich kann mir vorstellen, dass auch Julian N. Leser von t-online ist. Jedenfalls fühlte ich mich von der Philippika unseres Bundestrainers nach dem Ausscheiden der deutschen Fußballer gegen Spanien angesprochen: "Man kann immer Probleme sehen, und wir haben Probleme im Land, man kann aber auch von Lösungen sprechen." Und man sollte mal den Mut haben, etwas Neues zu machen, fügte er hinzu, anstatt immer nur zu meckern. Vermutlich hat Herr N. bei diesen Worten nicht zuletzt uns, die Medien, gemeint.
Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Herr K. und Herr N. haben mich nachdenklich gemacht. Ich nahm mir vor, die nächste Gelegenheit zu nutzen, nicht über Probleme, sondern über Lösungen zu schreiben. Und idealerweise dabei sogar die Ampel zu loben. Prompt einigten sich Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner auf einen Bundeshaushalt. Na also, herzlichen Glückwunsch! Und unsere drei Top-Staatsmänner präsentierten eine "Wachstumsinitiative" für Deutschland. Bitte glauben Sie mir, ich wollte sie hochleben lassen für so viel politische Klugheit. Vorsichtshalber habe ich das 31 Seiten starke Wachstumsinitiativpapier aber erst einmal gelesen. Und ich seufzte tief: ach, die Ampel.
Es fängt eigentlich gut an, die Regierung zeigt sich in der Analyse problembewusst: Deutschland hat wirtschaftlich den Anschluss verloren. Das ist meine Formulierung, die Koalitionäre kommen eher auf sprachlichen Umwegen zum Punkt, sie neigen auch zu umständlichen Satzkonstruktionen, beinahe so als hätte der Kanzler persönlich den Text ins Word-Dokument gescholzt. Sorry, Herr K. Aber lassen Sie uns über Lösungen sprechen, ganz im Sinne von Julian N.
Die Lösung heißt Wachstum, auch da liegt die Ampel richtig. Wenn die Wirtschaft wächst, steigen die Steuereinnahmen, weil mehr Menschen arbeiten, es fließen mehr Beiträge in die Sozialkassen, weniger Menschen sind auf Arbeitslosen- oder Bürgergeld angewiesen, die Renten sind sicher, die Politik gewinnt Handlungsspielraum. Um mehr Wachstum zu erreichen, sei eine "Priorisierung im staatlichen Handeln" erforderlich, schreiben Scholz & Partner. Ich übersetze das sehr frei: Wir müssen uns auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren und alles andere Mal weglassen. Genau richtig.
Von diesem Punkt an wird es schwierig. Denn aus der Sicht der Ampelkoalition gibt es sehr, sehr viele Prioritäten. Hier nur einige, die gleich am Anfang als ganz besonders prioritär hervorgehoben werden: Infrastruktur, Transformation, Digitalisierung, Bildung, Innovation, Forschung, Gesundheit, Rente, Klima.
Und dann geht es erst richtig los mit der Priorisierung des staatlichen Handelns. Die Ampel hält es für besonders wichtig, den "KfW-Instrumentenkasten" weiterzuentwickeln. Der Filmproduktions- und Games-Standort soll gestärkt werden. Eine nationale Pharmastrategie muss ambitioniert umgesetzt werden. Die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen von VC-Investments steht auf dem Programm – falls Sie nicht wissen, worum es dabei geht, könnten Sie von einer nationalen Finanzbildungsstrategie unter Einbindung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) profitieren. Das soll auch online gehen. VC steht übrigens für Venture-Capital, also Wagniskapital.
Sammelsurium an Maßnahmen
So wagt sich die Ampel Punkt für Punkt, Seite für Seite an ein Sammelsurium von Maßnahmen, in dem die Ladestationen für Elektroautos genauso wichtig sind wie Exit-Kanäle für Scale-ups (was immer das sei). Ganz sicher sind viele dieser Vorhaben sinnvoll, manche bestimmt überfällig. So wie die Entlastung der Wirtschaft von der Bürokratie, ein Dauerthema. Dazu soll es jetzt ein erstes "Jahres-Bürokratieentlastungsgesetz" geben. In der Wachstumsinitiative heißt es: "Hierzu werden die zum Bürokratieentlastungsgesetz IV eingegangenen Vorschläge u. a. der Verbände und Länder nochmals vom Normenkontrollrat (NKR) geprüft." Man kann den Regierungsbürokraten nicht vorwerfen, sie verstünden nichts vom Bürokratie-Business.
Ja, und kaum hat die Ampel mal den Mut, etwas Neues zu machen, wird gleich wieder gemeckert. Sie haben es gehört oder gelesen: Ausländische Fachkräfte sollen mit einem Steuerrabatt nach Deutschland gelockt werden, das steht auf Seite 20, Ziffer 27. Christian Lindner verweist auf den globalen Wettbewerb um die besten Experten und den talentiertesten Nachwuchs aus aller Welt. Der Assistenzarzt im Krankenhaus St. Josef stellt dagegen die Frage, wieso der neue Kollege aus Marokko 30 Prozent seines Gehalts steuerfrei bekommt, obwohl er noch nicht ganz so versiert ist im Umgang mit den Patienten. Lindner antwortet, das machten Belgien, Dänemark oder Finnland auch so. Na dann.
Was die Ampel (noch) kann und was schon nicht mehr, zeigt anschaulich das Kapitel über den Wohnungsbau. Wer Wachstum fördern will, setzt am besten hier an: Die Bauwirtschaft reagiert schnell auf konjunkturelle Impulse, sie ist eng vernetzt mit anderen Branchen, Bauinvestitionen ziehen in der Volkswirtschaft Kreise wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird. Und sie helfen, ein dringendes soziales Problem zu lösen: den Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Sozialdemokraten, Grüne und Liberale sehen die Welt in vieler Hinsicht ganz unterschiedlich – hier müssten sie sich treffen können.
Was fehlt, ist das Entscheidende
Können sie aber nicht. Sie verständigen sich auf allerlei Detailregelungen im Baurecht, der Ausbau von Dachgeschossen soll erleichtert werden, man strebt eine digitale Baugenehmigung an, auch bei der "Beprobung von Bodenaushub" erkennt man gemeinsam Reformbedarf. Was fehlt, ist das Entscheidende: ein umfassendes Förderprogramm, das privates Kapital für den Wohnungsbau mobilisiert. In den Neunzigerjahren, nach der deutschen Einheit, gab es großzügige Abschreibungsmöglichkeiten für alle, die in den Wohnungsbau im Osten investierten. Es war teuer, aber es hat funktioniert: Innerhalb weniger Jahre gab es ein Überangebot an Wohnraum, das wiederum die Mietpreise für alle erschwinglich machte.
Was Deutschland braucht, ist tatsächlich ein massives Investitionsprogramm: öffentliche Investitionen in Sicherheit, Infrastruktur und Bildung. Dazu steuerliche Erleichterungen für private Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung, neben dem Wohnungsbau. Kleckern hilft nicht, wir reden über dreistellige Milliardenbeträge. Die Mittel dafür können zu einem kleinen Teil durch Einsparungen im Haushalt freigemacht werden – wenn alle Posten überprüft werden, auch das Bürgergeld, auch die Rente mit 63. Also ohne kanzleramtliche und sozialdemokratische Tabus. Und ohne das liberale Tabu der Schuldenbremse, also mit Kreditaufnahme.
Eingemauert im Bunker
So ungefähr wird der Plan der Regierung aussehen – der nächsten Regierung. Die Ampelkoalition dagegen hat sich eingemauert in ihren politischen Bunkeranlagen. Sie kann sich in der Substanz nicht mehr auf einen Kompromiss einigen, sondern nur noch auf einen 31 Seiten langen Wunschzettel. Das ist kein Wachstumsprogramm. Christian Lindner behauptet zwar, dass diese Liste die Wirtschaftsleistung um jährlich 0,5 Prozent erhöhen werde. Diese "Prognose" ist aber durch keine Berechnung gedeckt, überprüfbar ist sie auch nicht. Nein, mit dieser Wachstumsinitiative löst die Ampel kein Problem. Die Regierung erweist sich auch dieses Mal als Teil des Problems.
Ich fürchte, ich habe die Anforderungen der Herren K. und N. auch heute nicht erfüllen können. Falls auch Ihnen meine Analyse zu skeptisch klingt, machen Sie sich gern selbst ein Bild, hier ist der Link zu den 31 Seiten. Und bleiben Sie bitte zuversichtlich. Es gibt auch noch eine Politik nach der Ampel.
- Leserpost, eigene Überlegungen