Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Doppelleben der Fans Identitätsspiele bei Deutschtürken
Deutschland, Deutschland! Türkiye, Türkiye! Zwei Nationalmannschaften, beide haben Heimspiele. Und die Deutschtürken feiern in Deutschland die Türken. Ist das in Ordnung?
Salih Özcan durfte in der vergangenen Woche zwei Mal mit seiner Nationalmannschaft in Dortmund antreten, erst gegen Georgien, dann gegen Portugal. In jenem Stadion, in dem er sonst für seinen Verein, die Borussia, spielt – vor der "gelben Wand", einer der eindrucksvollsten Fankulissen des internationalen Sports. Nur dass die gelbe jetzt eine rote Wand war und dass die Sprechchöre andere waren als sonst: "Türkiye! Türkiye!" statt "Bee-Vau-Bee!"
Özcan ist in Köln aufgewachsen, er hat für die deutschen Jugend-Nationalmannschaften gespielt. Vor zwei Jahren hat er sich anders entschieden. Die Türkei, das Land seiner Eltern, verlieh ihm die Staatsbürgerschaft, vorher hatte er nur einen deutschen Pass. Nun spielt er für die Bizim Çocuklar, für "unsere Kinder", wie das Nationalteam am Bosporus genannt wird. Die Entscheidung habe er aus Überzeugung getroffen, sagt der heute 26-Jährige.
Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online schreibt er jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Auch Kaan Ayhan, der türkische Defensivspieler, trug in der Jugend das deutsche Trikot. Er kam in Gelsenkirchen zur Welt. Kenan Yildiz aus Regensburg spielte in der Jugend des FC Bayern. Cenk Tosun stammt aus Hessen und wurde bei Eintracht Frankfurt Profi. Der Kapitän der türkischen Mannschaft, Hakan Çalhanoğlu, kommt ebenfalls aus Almanya. In Mannheim geboren, Karlsruher SC, Hamburger SV, Bayer 04 Leverkusen ...
Enthusiastisch unterstützt werden die deutschtürkischen Kicker von ihren Fans. Die allermeisten von ihnen sind wie ihre Stars Kinder oder Enkel der türkischen Einwanderer, sie sind in Deutschland geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen, sie arbeiten und leben hier. Die Türkei kennen sie aus den Ferien, Türkisch sprechen sie mehr oder weniger gut. Warum ist die Farbe ihres Trikots rot, ohne schwarz und gold?
Tief in der Fußballromantik
Es gibt dafür eine einfache Erklärung, die tief in der Fußballromantik wurzelt: Als Fan entscheidest du dich nicht für eine Mannschaft, sie wird dir vielmehr mit der Geburt und mit dem Elternhaus zugeteilt. Wenn du in Dortmund zur Welt kommst, wird Schalke 04 niemals dein Herz erobern. Wenn du ein Junge oder ein Mädchen aus Offenbach bist, gehörst du zu den Kickers, auch wenn die in der Regionalliga spielen und nebenan die Frankfurter Eintracht die Bundesliga rockt. Wenn du in eine türkische Familie hineingeboren wirst, trägst du beim Länderspiel das Trikot mit dem Mondstern.
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Eine schöne Erklärung, aber zu einfach. Es lohnt sich, einen näheren Blick auf den Fußball und die Migration zu werfen. Die Geschichte beginnt mit Schalke 04, jenem Club, dessen Aufstieg ohne Zuwanderer gar nicht denkbar gewesen wäre. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen Polen und Masuren als Arbeitskräfte in den Ruhrbergbau, ihre fußballerische Heimat fanden sie in Schalke. Kuzorra, Tilkowski, Piontek – polnische Fußballer-Namen gehören seitdem zur Ruhrgebiets-Historie wie das Bergbau-Museum in Bochum.
Die polnische Zuwanderung von damals wird oft als Vorbild für die Integration von Migranten durch den Sport verklärt. Tatsächlich wurde Schalke 04 aber jahrzehntelang als "Polackenverein" verunglimpft. Zudem war die Integration von oben angeordnet: Das Nazi-Regime proklamierte auch im Sport die völkische Überlegenheit, also wurden die polnischen Spieler kurzerhand als arisch und rein deutsch eingestuft, während zur gleichen Zeit der sozialistische Arbeitersport und die jüdische Sportbewegung verboten wurden.
Erinnert sich jemand an Jimmy Hartwig?
Nation, Migration, Nationalmannschaft – das war später in der Geschichte der Bundesrepublik nie ein einfaches Thema. In den 70er-Jahren tauchten die ersten schwarzen Spieler in der deutschen Mannschaft auf: Erwin Kostedde und Jimmy Hartwig, Söhne amerikanischer Besatzungssoldaten. Vulgäre Schmähungen gehörten zu ihrer Alltagserfahrung.
Erst vier Jahrzehnte nach der Ankunft der ersten türkischen Gastarbeiter in Deutschland wurde einer ihrer Nachkommen in die deutsche Nationalmannschaft berufen: 1999 absolvierte Mustafa Doğan zwei Länderspiele. Sein Name ist in Vergessenheit geraten, aber er bereitete den Weg für İlkay Gündoğan, Emre Can und Deniz Undav, die heute für Deutschland spielen. Denn auch das ist ein Teil der deutschtürkischen Realität: Der Kapitän der deutschen Mannschaft heißt nicht Thomas oder Manuel, sondern İlkay. İlkay Gündoğan, aufgewachsen in Gelsenkirchen, sein Großvater Bergmann, Jugendfußball beim VfL Bochum, Abitur in Nürnberg, Weltstar beim FC Barcelona. Hier Gündoğan, dort Çalhanoğlu: Die deutschtürkischen Geschichten sind kompliziert.
Das komplizierteste Kapitel hat Mesut Özil geschrieben. Zwei Fotos dokumentieren sein persönliches und zugleich ein binationales Drama.
- Das erste Foto datiert von Oktober 2010. Deutschland spielt in Berlin gegen die Türkei. Özil, der deutsche Spielmacher, erzielt das 2:0 für Deutschland, am Ende heißt es 3:0. Angela Merkel besucht nach dem Spiel die Mannschaft in der Kabine, sie gratuliert dem halbnackten Özil lächelnd per Handschlag – ein Bild, das um die Welt geht.
- Das zweite Foto stammt aus dem Mai 2018. Kurz vor der Weltmeisterschaft treffen sich Özil und Gündoğan mit Recep Tayyip Erdoğan, der ihnen türkische Trikots mit ihren Namen überreicht. Ein Skandal, Aufmacher in der Tagesschau, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schaltet sich ein. Gündoğan erklärt sich: Aufgrund seiner familiären Wurzeln habe er einen sehr starken Bezug zur Türkei, aber Steinmeier sei sein Bundespräsident, Merkel seine Kanzlerin. Özil schweigt.
Die WM wird zum Debakel, Özil spielt schlecht. Die Medien rechnen gnadenlos mit ihm ab. Uli Hoeneß nennt Özil einen Alibikicker, der seit Jahren "nur Dreck" gespielt habe. Der ehemalige Nationalspieler Mario Basler bescheinigt ihm eine Körpersprache "wie ein toter Frosch". Die Kritik verliert jegliches Maß, viele Deutschtürken fühlen sich selbst getroffen. Özil vermutet Rassismus, er verlässt Deutschland, geht in die Türkei und entwickelt Sympathien für die ultranationalistischen Grauen Wölfe.
Vielen politisch Rechten gilt der Fall Özil bis heute als Beleg für die "Integrationslüge" des Sports. Sie lehnen einen Fußball ab, der sich als Entwurf einer vielfältigen und offenen Gesellschaft versteht. Alexander Gauland, der Ehrenvorsitzende der AfD, wollte keinen Boateng als Nachbarn, seine Parteikollegin Beatrix von Storch forderte nach einer Niederlage der Elf von Jogi Löw eine neue deutsche Nationalmannschaft, national in Großbuchstaben.
20 Prozent wünschen sich eine "weißere" Nationalmannschaft
Kurz vor der jetzigen Europameisterschaft förderte eine Umfrage zutage, dass 20 Prozent der Deutschen sich eine "weißere" Nationalmannschaft wünschen. Es sind wahrscheinlich dieselben Leute, die Çalhanoğlu und den deutschtürkischen Türkeifans mangelnde Integrationsbereitschaft vorwerfen. Die 80 Prozent, die Sportler nicht nach Hautfarbe und Herkunft ihrer Großeltern beurteilen, kommen in der Medienöffentlichkeit kaum vor.
Leider plappern auch seriöse Politiker die Parolen der National-Ultras nach. Im vergangenen November spielten Deutschland und die Türkei in Berlin gegeneinander. Die Stimmung der deutschen Fans war mau, die (Deutsch-)Türken hatten die akustische Oberhoheit. Dass sie İlkay Gündoğan auspfiffen, regte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai auf: "Es muss uns alle schmerzen, wenn in Deutschland geborene oder aufgewachsene Menschen bei einem Länderspiel in Deutschland die deutsche Nationalmannschaft auspfeifen." Oje, Pfiffe im Fußballstadion, wo gibt’s denn so was?
Und ein weithin unbekannter CDU-Politiker drängelte sich mit einer markigen Forderung in die Schlagzeilen: "Wir müssen die sozialen Migrationsanreize endlich massiv kürzen und stattdessen mehr Bekenntnis zu unserem Land, seiner Leitkultur und seinen Werten einfordern!" Also: "Deutschland, Deutschland!" statt "Türkiye, Türkiye!". Wäre ja noch schöner, wenn die Enkel der Gastarbeiter selbst entscheiden könnten, ob sie für İlkay und Emre sind oder für Sahil und Hakan.
Wer so redet, versteht weder vom Fußball etwas noch von der Lebens- und Gefühlswelt der deutschen Türken.
- Eigene Überlegungen