Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Friedrich Merz Schafft er das?
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Dem nächsten Kanzler werden historische Entscheidungen in Serie abverlangt. Er muss schon über sich hinauswachsen, um den Aufgaben gerecht zu werden. Und das mit einer zerfledderten SPD, die gerne sowohl regiert als auch opponiert.
Eigentlich konnte man sich immer darauf verlassen, dass die Deutschen darauf bedacht sind, eine stabile Regierung zu wählen. Dazu gehörte, dass jemand Bundeskanzler werden konnte, den die Leute achteten. Auch deshalb hatte das Land zumeist Glück mit den Herren und der Dame, die sie regierten, und deshalb durften sie zumeist lange im Amt bleiben.
Manchmal schon ging es verdammt knapp zu. Konrad Adenauer wurde im Jahr 1949 mit einer einzigen Stimme Mehrheit zum Gründungskanzler gewählt – seiner eigenen. 20 Jahre später, 1969, beschlossen SPD und FDP, gemeinsam zu regieren – "Machtwechsel" hieß der Vorgang damals, weil die CDU/CSU, die das Recht, den Kanzler zu stellen, seit Adenauer für gottgegeben erachtete, plötzlich in der Opposition landete. Willy Brandt führte das Land und baute drei Jahre später seine Mehrheit erheblich aus. Er wurde von den Deutschen für seinen Mut belohnt, Entspannungspolitik zu betreiben.
Ihn hätte sich Olaf Scholz besser zum Vorbild genommen – besser für ihn, besser für uns. Halbherzigkeit anstatt Mut: Zeitenwende für die Bundeswehr, aber keine Wehrpflicht. Rüstungsgüter für die Ukraine, aber keinen Taurus. Die Deutschen belehren, aber nicht führen.
Für Olaf Scholz tanzten die Deutschen im Jahr 2020 zum ersten Mal aus der Reihe. Sie machten ihn zum Zufallskanzler. Armin Laschet lachte im falschen Moment am falschen Ort und machte im Übrigen auch nicht den Eindruck, er wäre ein starker Kanzler, dem man das Land anvertrauen darf.
Olaf Scholz war schon viele Jahre in der gehobenen Politik gewesen, als Bundesminister, als Bürgermeister. Er war kompetent, er sagte das Richtige im richtigen Moment. Ihm trauten die Deutschen zu, dass er Kanzler konnte. Für ihren Irrtum haben sie ihn jetzt bitter bestraft.
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Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.
Was sich jetzt ereignet, ist kein Machtwechsel, sondern ein Machtwechselchen. Die SPD bleibt, wo sie ist – geschrumpft in der Regierung. Friedrich Merz zieht ohne Glanz und Gloria ins Kanzleramt ein. Immerhin bewahren uns die Wähler vor einem erneuten Dreierbündnis. Aber die nächste Koalition bringt nur 44,9 Prozent auf die Waage. Relativer war eine Mehrheit im Bundestag noch nie.
Die Deutschen erteilen zum zweiten Mal einem Mann die Chance, Kanzler zu werden, von dem sie nicht besonders viel halten. Friedrich Merz macht ja eigentlich was her: groß gewachsen, schlank, selbstsicher. Hat einiges hinter sich auch, auch die grandiose Niederlage gegen Angela Merkel. War in der Wirtschaft, ist finanziell unabhängig. Kämpfte sich in der CDU im dritten Anlauf durch.
Merz setzte viel aufs Spiel – unter anderem seine Glaubwürdigkeit
Neigt aber auch zu Übersprungshandlungen. So ging er überstürzt bei dem Versuch vor, ein scharfes Gesetz gegen Immigration mit freundlicher Unterstützung der AfD durch den Bundestag zu jagen. Er begründete die Notwendigkeit mit den Attentaten in Aschaffenburg und München. Nach durchdachtem Vorgehen unter besonderen Umständen hörte sich das nicht an. Er setzte viel aufs Spiel, unter anderem seine Glaubwürdigkeit.
Einem künftigen Kanzler, der dem Voluntarismus nicht abhold ist, geben die Deutschen keinen Vertrauensvorschuss. Sie bauen im Gegenteil einen Vorbehalt ein, indem sie der Union weit weniger als die erhofften 30 Prozent plus gewähren. Die Auseinandersetzung über die Schuldfrage am mageren Ergebnis ist nur aufgeschoben.
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Ironischerweise liegt über Friedrich Merz der lange Schatten von Angela Merkel. In ihre Amtszeit fällt das Jahr 2015, als sie die Grenzen für Geflüchtete öffnete und den legendär humanen Satz formulierte: Wir schaffen das. Sie hat es nicht geschafft, wir haben es nicht geschafft. Aber die AfD schaffte es, binnen Kurzem aus einer Professorenpartei zu einer Anti-Immigrations-Partei zu werden; in Ostdeutschland ist sie sogar, was einmal Volkspartei hieß.
Die Wähler tragen der Union 2015 noch nach. Vielleicht wäre Merz belohnt worden, hätte er das Gesetz durch den Bundestag geboxt. So aber sagten sich die Wähler: Netter Versuch, aber ihr schafft es nicht.
Schafft diese Koalition, was sie unbedingt schaffen muss?
Jetzt wird die Union zum vierten Mal mit der SPD regieren. Wird die SPD, ramponiert wie sie ist, wieder in den Brauch verfallen, zugleich zu opponieren? Oder folgt sie ab jetzt dem dänischen Modell – strikte Flüchtlingspolitik plus Aufrüstung? Schafft diese Koalition, was sie unbedingt schaffen muss?
Immigration ist nicht das allerwichtigste Thema, aber darin bündelt sich die grassierende Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen, mit der Demokratie. Jens Spahn sprach am Wahlabend ein paar dramatische Sätze aus, die einfach zutreffen: Schafft es diese nächste Regierung nicht, drängende Probleme zu lösen, dann vollzieht Deutschland bald nach, was in Holland und Österreich schon passiert ist und Frankreich nach Emmanuel Macron blühen kann – dann überholt die AfD die Union.
Ja, Friedrich Merz weiß, worauf es jetzt ankommt. Er hat es auch gestern Abend und heute Mittag wiederholt. Der Westen, wie wir ihn kennen, ist zerschellt. Die europäische Nachkriegsordnung unter dem Primat der USA löst sich auf. Die Schutzmacht Amerika, auf die sich Deutschland verlassen konnte, will nicht mehr Schutzmacht sein.
In Europa muss Deutschland wieder die Initiative ergreifen. Auch darauf hat Merz vehement hingewiesen. Eine supranationale Rüstungsindustrie aufzubauen, ist überfällig. Die Bundeswehr braucht Geld, viel Geld für viele Rüstungsgüter. Deutschland muss für den Fall der Fälle, der Krieg heißt, gerüstet sein. Und wie nebenbei muss die Wirtschaft aus der Krise kommen und der Reformstau im Inneren aufgelöst werden.
Auf diesen Kanzler kommt es an. Große Entscheidungen in Serie werden ihm abverlangt. Man kann nur hoffen, dass er, wie so mancher Vorgänger, über sich hinauswächst.
Vorbei, verweht. Friedrich Merz ist weder besonders beliebt noch besonders geachtet, sonst wäre die Union nicht unter 30 Prozent hängen geblieben. Nebenbei gesagt, ist es erstaunlich, dass auch Markus Söder daraus einen "klaren" Führungsanspruch ableitet.
- Eigene Beobachtungen