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Größter Bundestag in der Geschichte tritt zusammen – ein echter Glücksfall


Tagesanbruch
Ein echter Glücksfall

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.10.2021Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Der Deutsche Bundestag lebt vom Engagement aller Bürger.Vergrößern des Bildes
Der Deutsche Bundestag lebt vom Engagement aller Bürger. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

"Demokratie bedeutet Macht des Volkes. Jeder von uns ist ein Teil des Volkes. Macht bedeutet Verantwortung. Jeder von uns muss sich bewusst sein, dass er mitverantwortlich ist auch für das gesamte politische und wirtschaftliche Geschehen."

Große Worte, die Konrad Adenauer 1954 sprach – und denen er elf Jahre später in seiner Autobiografie hinzufügte:

"Demokratie ist mehr als eine parlamentarische Regierungsform, sie ist eine Weltanschauung, die wurzelt in der Auffassung von der Würde, dem Wert und den unveräußerlichen Rechten eines jeden Menschen."

Gemessen an den hohen Ansprüchen, die der erste Kanzler der Bundesrepublik an unsere Staatsform legte, muss man sich fragen, ob wir alle unserem Auftrag heute noch gerecht werden. Tun wir genug für unser Land, tragen wir zu einem gedeihlichen Miteinander bei, setzen wir uns für die Menschenrechte hierzulande und andernorts ein – kurz: Werden wir unserer Verantwortung als Bürger gerecht?

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Ich kann Ihnen die Antworten auf diese Fragen nicht geben, ich kann Ihnen nur meine Beobachtung schildern: Die deutsche Gesellschaft des Jahres 2021 misst zwar der Selbstverwirklichung jedes Menschen großen Wert bei – Solidarität und Rücksichtnahme auf die Belange von Mitmenschen scheinen aber keine Selbstverständlichkeit mehr zu sein. Man muss nicht gleich ins Lamento über die "Ego-Gesellschaft" einstimmen, um festzustellen: Früher gab es mehr Gemeinschaftsgeist.

Umso wichtiger ist es, dass es einen Ort gibt, an dem die unterschiedlichen Bedürfnisse aus möglichst vielen Milieus und Bevölkerungsgruppen zur Sprache kommen. Einen Ort, der aus all den Ansprüchen, Wünschen, Ideen und manchmal auch Hilferufen verbindliche Regeln schmiedet, um das Zusammenleben von 83 Millionen Menschen so konfliktfrei und gerecht wie möglich zu organisieren.

Dieser Ort ist der Bundestag. Bei aller Kritik an seiner Zusammensetzung, an einzelnen Abgeordneten und Entscheidungen, an Skandalen wie der Maskenaffäre und an seiner gelegentlichen Trägheit können wir festhalten: Dieses Parlament ist ein Glücksfall. Das wird schnell klar, wenn man sich zum Vergleich die Volksvertretungen anderer Länder ansieht. Transparent organisierte Parlamente mit weitgehenden Kontrollrechten, lebhaften, meistens fairen Debatten und vor allem verbindlichen Gesetzgebungskompetenzen sind heutzutage alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Man muss gar nicht bis ins autoritäre Russland oder hinüber ins zerstrittene Amerika blicken, es genügt schon der Blick nach Ungarn und Polen, um zu verstehen, welch großer Schatz der deutsche Parlamentarismus immer noch ist.

Immer noch, weil die Demokratie eben nie fertig ist. Sie lebt vom täglichen Einsatz engagierter Bürger. Volksvertreter sind nicht die da oben, sondern könnten Sie und ich sein. So gesehen ist der heutige Dienstag ein Festtag und zugleich ein Appell: Um 11 Uhr konstituiert sich der neu gewählte Bundestag, der in den kommenden vier Jahren die wichtigsten Regeln machen wird für Steuern und Sozialleistungen, für den Klimaschutz und die Digitalisierung von Wirtschaft, Verwaltung und Verkehr, für die innere Sicherheit und die Bundeswehreinsätze, für den Wohnungsbau und für vieles mehr. Die Eröffnungsrede hält der dienstälteste Abgeordnete Wolfgang Schäuble, schon seit 1972 sitzt er im Parlament. Vielleicht wird seine Ansprache eine Spur von Melancholie enthalten, denn Bundestagspräsident kann er nach dem Wahldebakel von CDU und CSU nicht länger sein.

Seine Nachfolgerin wird wohl Bärbel Bas von der SPD, die nun die stärkste Fraktion stellt. Sie ist erst die dritte Frau im zweithöchsten Staatsamt. Zu ihren Stellvertretern werden vermutlich Aydan Özoğuz (SPD), Yvonne Magwas (CDU), Claudia Roth (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP) und Petra Pau (Linke) gewählt. Einen Vize der AfD wollen die anderen Fraktionen verhindern.

Das Präsidium steht dem größten Bundestag vor, den es je gab: 736 Abgeordnete quetschen sich in den Plenarsaal im Reichstagsgebäude, 27 mehr als bisher. Knapp 35 Prozent sind Frauen, etwas mehr als 11 Prozent haben einen Migrationshintergrund, das Durchschnittsalter liegt bei 47,5 Jahren. Das Parlament ist also älter, weißer und deutlich männlicher als die Gesamtbevölkerung, und daran gibt es einerseits berechtigte Kritik. Andererseits sollte sich jeder Abgeordnete verpflichtet fühlen, alle hier lebenden Menschen zu repräsentieren. Ob das gelingt und ob die Politiker gute Arbeit machen, werden unsere Reporter in den kommenden Monaten beobachten, analysieren und kommentieren. Mehrere Parlamentarier, die bislang selten im Rampenlicht standen, könnten sich hervortun. Zum Beispiel diese hier:

Erfolgreiche Start-up-Gründerinnen sind Ausnahmen in der Politik. Verena Hubertz, 33 Jahre jung, ist eine von ihnen und sitzt nun für die SPD im Bundestag. "Kitchen Stories" heißt ihre Koch-App, jetzt will sie sich für die Anliegen junger Unternehmer einsetzen.

In der Union könnte Andreas Jung (46) mehr Einfluss erlangen: Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende wird auch von politischen Gegnern als Klimaexperte geschätzt und gilt dank seines verbindlichen Auftretens als anschlussfähig. Er kann helfen, das neue Profil der CDU zu prägen.

Ricarda Lang hat sich bei den Grünen als frauenpolitische Sprecherin einen Namen gemacht. Nun zieht sie mit 27 Jahren erstmals in den Bundestag ein, engagiert sich in der Bildungspolitik und sitzt im zehnköpfigen Chef-Verhandlungsteam für die künftige Ampelregierung.

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Die 29-jährige Juristin Ria Schröder gilt in der FDP als ideale Nachwuchskraft: jung, weiblich, pragmatisch, aber mit freiheitlichen Überzeugungen. Sie setzt sich für ein gerechtes Rentensystem ein, das später auch für jene noch etwas übrig lässt, die heute jung sind.

Bei der Linken gilt Heidi Reichinnek als Nachwuchshoffnung. Mit 33 Jahren ist sie die Jüngste in ihrer Fraktion, hat aber bereits langjährige Erfahrung in der Partei und wird für ihre klare Sprache geschätzt. Sie kämpft für sozial Benachteiligte.

Und bei der AfD? Sehen Sie's mir bitte nach, da ist es mir einfach nicht gelungen, bemerkenswerte Persönlichkeiten zu finden.


Teure Energie

Autofahrer merken es an der Tankstelle, wer mit Öl heizt und jetzt seinen Speicher auffüllen muss, bekommt es ebenfalls zu spüren, Strom- und Gaskunden mit lang laufenden Verträgen genießen allenfalls noch eine Schonfrist: Die Energiepreise steigen seit Wochen rapide. Die Gründe sind vielfältig: Nach der Corona-Krise zieht in vielen Wirtschaftsbereichen die Nachfrage wieder an, der CO2-Preis macht Benzin und Diesel teurer, aber auch das Verbrennen von Gas und Kohle. Und dann sind da noch Wladimir Putin und der Poker um die Genehmigung der Gaspipeline Nord Stream 2.

Um den Preisanstieg zu drosseln, kommen die EU-Energieminister heute zu einem außerordentlichen Treffen in Luxemburg zusammen. Diskutiert werden soll, ob das von der EU-Kommission vorgeschlagene Sofortprogramm ausreicht oder ergänzt werden muss. Wie meistens in Europa ist die Lage jedoch diffus: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der ein halbes Jahr vor der Wahl eine neue Gelbwestenbewegung fürchtet, hat die Preise bereits gedeckelt. Deutschland hingegen warnt mit acht weiteren Mitgliedstaaten vor Eingriffen in den Markt: Mittelfristig müsse die EU auf das Einsparen von Energie und den Ausbau erneuerbarer Energien setzen. Klingt nicht nach rascher Einigung.


Klimadebatten in New York

Die UN-Klimakonferenz, die am kommenden Sonntag in Glasgow beginnt, wirft ihre Schatten voraus: In New York stellen UN-Generalsekretär António Guterres und die Direktorin der UN-Umweltbehörde, Inger Andersen, heute einen Bericht mit der bezeichnenden Überschrift "The Heat Is On" vor. Er dokumentiert die Lücke zwischen den im Pariser Abkommen festgehaltenen Verpflichtungen der Staatengemeinschaft zur CO2-Reduktion einerseits und dem tatsächlich Erreichten andererseits – und äußert die Hoffnung, dass Glasgow zum Wendepunkt werden könnte. In der UN-Vollversammlung läuft zeitgleich eine Klimadebatte, in der 20 Staats- und Regierungschefs sowie zahlreiche Minister sprechen. Für Deutschland ist Bundesumweltministerin Svenja Schulze irgendwie auch dabei.


Was lesen?

Mit dem Bundestag geht es heute im deutschen Politikbetrieb wieder los. Doch erst Anfang Dezember soll Olaf Scholz zum Kanzler gewählt werden, erst dann gibt es also eine neue Regierung. Aber nicht alle Probleme können bis dahin warten, schreibt unser Reporter Johannes Bebermeier.


Das Sesselmodell, auf dem die 736 Parlamentarier heute Platz nehmen, heißt Figura und stammt aus der Schweiz. Warum die Firma davon gar nicht profitiert, hat mein Kollege Mauritius Kloft herausgefunden.


Gibt es wirklich Langzeitschäden der Corona-Impfung? Unsere Gesundheitsredakteurin Christiane Braunsdorf klärt Sie auf.


Fünf neue Containerstädte sollen die Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln ersetzen. Kann das funktionieren? Die Kollegen des Deutschlandfunks haben sich vor Ort umgesehen.


Was amüsiert mich?

Musik besteht ja aus so viel mehr als nur Tönen.

Ich wünsche Ihnen einen federleichten Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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