Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Spahns beste Entscheidung

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
Astrazeneca auf der Resterampe
Mangel und Überfluss liegen oft nah beieinander – im Falle der deutschen Impfkampagne sogar sehr nah. Noch vor wenigen Wochen war der Impfstoff so begehrt, dass Menschen stundenlang in Hotlines hingen und vor den Zentren warteten. Es wurde vor Überfällen auf die Transporter gewarnt, und die EU lieferte sich öffentlich einen erbitterten Streit mit dem schwedisch-britischen Konzern Astrazeneca, der ihrer Meinung nach zu wenig Impfstoff lieferte.
Und jetzt?
Nun erwartet Deutschland Rekordlieferungen: Fast 220 Millionen Dosen sollen laut Prognosen in der zweiten Jahreshälfte ankommen. So viele, dass zumindest ein Impfstoff offenkundig überflüssig ist. Das Bundeskabinett entschied gestern, dass das Mittel von Astrazeneca schon bald in Deutschland keine Rolle mehr spielen wird. Voraussichtlich schon ab August sollen alle Lieferungen an die Covax-Initiative, die Impfstoff für die ärmsten Länder sammelt, und andere Staaten weitergeleitet werden. Es ist eine wichtige Entscheidung, die viele Gewinner und nur einen Verlierer erzeugt.
Embed
Anfangen will die Bundesregierung mit 500.000 Dosen, die Covax dann in jenen Ländern verteilen soll, die dringend Impfstoff brauchen, ihn aber oft nicht bezahlen können. In diesem Jahr will die Regierung mindestens 30 Millionen Dosen abgeben – nicht nur von Astrazeneca, sondern auch von Johnson & Johnson. Das hatte sie zwar schon bei dem G7-Gipfel versprochen. Unklar war aber bisher, wann die ersten Spenden erfolgen. Mit der jüngsten Entscheidung könnte zudem die Zahl noch steigen. Denn: Laut Prognosen des Gesundheitsministeriums erhält Deutschland bis Ende des Jahres noch mehr als 35 Millionen Dosen Astrazeneca.
Dass es für die dringend einen Plan brauchte, zeichnete sich schon in den vergangenen Tagen ab. Der Chef des Hausärzteverbands in Nordrhein-Westfalen, Oliver Funken, sagte etwa am Dienstag der "Rheinischen Post", die Hausärzte in seinem Bundesland würden gern künftig auf Astrazeneca verzichten. Auf Twitter kursierten verzweifelte Aufrufe von Medizinern, man solle sich doch bitte bei ihnen mit dem Stoff impfen lassen, er verfalle sonst. Es gebe auch Biontech als Zweitimpfung – sozusagen als Belohnung.
Dass der Impfstoff immer weniger den Weg in die Oberarme findet, registrierten auch einige Landesgesundheitsministerien. "Insbesondere der (...) Impfstoff des Herstellers Astrazeneca wird zunehmend weniger nachgefragt. Die Ärzteverbände spiegeln uns ebenfalls eine sinkende Nachfrage", teilte etwa Sachsen t-online mit. Und aus Schleswig-Holstein hieß es: "Bei dem Impfstoff von Astrazeneca übersteigt das Angebot an Impfdosen mittlerweile die Nachfrage."
Impfstoff, der in hiesigen Kühlschränken verfällt, während woanders auf der Welt blanke Not herrscht? Das hätte schlecht ausgesehen. Und auch die sich ständig ändernden Empfehlungen zu dem Astrazeneca-Produkt (für alle; nein, erst ab 60; ab jetzt nur auf Wunsch; übrigens nur noch als erste Spritze – Sie erinnern sich) haben das Vertrauen in die deutsche Impfkampagne nicht unbedingt gesteigert. Einige Hausärzte trieb das so sehr zur Verzweiflung, dass sie damit drohten, nicht weiter zu impfen.
Mit ihrer Entscheidung hat die Bundesregierung nun also weniger Ärger daheim und kann sich außerdem international für ihr Engagement für den weltweiten Impffortschritt loben: "Es ist in unserem ureigenen Interesse, die Welt zu impfen", sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
Das Interesse, die eigene Bevölkerung zu impfen, ist trotzdem noch immer viel größer. Das zeigt ein Blick auf die Statistik-Seite "Our World in Data". Während in Deutschland schon mehr als 56 Prozent der Bevölkerung erstgeimpft sind, sieht es vor allem in ärmeren Ländern schlecht aus. Sehr schlecht sogar: Im Tschad etwa haben nur 0,07 Prozent der Bevölkerung die erste Spritze bekommen, in Afghanistan 1,8 Prozent und in dem europäischen Staat Ukraine sind es nicht einmal 5 Prozent. Nur rund 15 Prozent aller Impfdosen sind laut "Our World in Data" bisher in den ärmeren Staaten gelandet – und nur ein Prozent in den ärmsten. Von "Impf-Apartheid" sprachen deshalb kürzlich die Vereinten Nationen.
Dabei ist es entscheidend, dass weltweit möglichst schnell ein hoher Impfschutz herrscht: Das würde die Chance unangenehmer Mutanten enorm verringern – die wiederum das Virus resistenter gegen den Impfschutz machen könnten. Dass die neuen Virusvarianten dann auch schnell in Europa landen, konnten wir in den letzten Monaten immer wieder beobachten. Die WHO forderte, dass bis September mindestens zehn Prozent der Menschen in jedem Land geimpft sein sollten. "Dosen, die jetzt geteilt werden, sind so viel wirkungsvoller als die in sechs Monaten", sagte die WHO-Chefwissenschaftlerin Soumya Swaminathan der Fachzeitschrift "Nature". Dass die Bundesregierung im August die ersten Dosen spendet, dürfte aus ihrer Sicht ein richtiger Schritt sein – auch wenn er für einen weltweiten Impferfolg zu klein ist.
Hier will ihn kaum noch einer, dort wird er gebraucht. Die Entscheidung der Bundesregierung lag auf der Hand. Und sie ist eine gute Nachricht. Auch wenn es zur Wahrheit dazugehört, dass wir erst spendabel geworden sind, seit wir zu viel Impfstoff von dem einen ungeliebten Hersteller haben. Zwar handeln die meisten anderen Industrieländer nicht unbedingt vorbildlicher. Ein Grund, sich nun stolz auf die eigenen Schultern zu klopfen, ist es aber sicher nicht.
Und für das ohnehin schon unglückselige Pharmaunternehmen Astrazeneca ist es schon gar kein Grund zur Freude. Zwar werden die bestellten Dosen weiter abgenommen, bezahlt und nun eben woanders verimpft. Aber sie werden eben in Deutschland auch mehr oder weniger verschmäht. Imagefördernd ist das nicht. Dabei handele es sich um einen guten Impfstoff, sagte Oliver Funken vom Hausärzteverband NRW in der "Rheinischen Post". Aber: "Er ist politisch einfach zerredet worden."
"Three Lions" schlagen "Danish Dynamite"
Wieder entscheidet ein Elfmeter über den Finaleinzug der Fußball-EM: Dieses Mal allerdings nicht wie bei Italien gegen Spanien nach der 120. Minute, sondern in der 104. Der englische Kapitän Harry Kane trifft nach einem umstrittenen Strafstoß per Nachschuss – darüber wird heute wohl noch diskutiert werden. Ob der Elfer nun gerechtfertigt war oder nicht, eine Viertelstunde später steht fest: England ist im Finale. Wie das Halbfinale gegen Dänemark ablief, berichtet Ihnen mein Kollege Dominik Sliskovic. Am Sonntag treffen die "Three Lions" auf die bärenstarken Italiener. Die sind seit mehr als mehr als 30 Spielen ungeschlagen. Mal sehen, ob diese Serie anhält.
Jetzt legt die EU sich mit Orbán an
Die EU macht Ernst mit Ungarn. So zumindest klang die Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern im Europaparlament. Sie holte erneut aus gegen das ungarische Gesetz zur Homosexualität (hier erfahren Sie die Hintergründe). "Dieses Gesetz ist schändlich", sagte von der Leyen. Es "nutzt den Schutz der Kinder (...) als Vorwand, um Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung schwer zu diskriminieren". Die ungarische Regierung solle das Gesetz sofort zurückziehen.
Nun lehrt die Erfahrung, dass die EU Ungarn mit Worten nicht empfindlich treffen kann. Wohl aber mit Geld. Und an dieser Stelle legt die EU nun die Daumenschrauben an. Wie es aus EU-Kreisen verlautet, hält die Brüsseler Behörde derzeit die Corona-Hilfsgelder für Ungarn zurück. Eigentlich sollte das Land mehr als sieben Milliarden Euro erhalten. Bei der EU aber gibt es offensichtlich Zweifel, ob das Land das Geld nicht missbräuchlich verwendet. Von der Leyen verkündete gestern einen weiteren Schritt. Im Herbst will sie Verfahren gegen Ungarn und Polen einleiten, die dazu führen können, dass den Staaten die Zahlungen gekürzt oder sogar gestrichen werden. Damit könnte sie Orbán tatsächlich empfindlich treffen: Er muss sich 2022 erneut zur Wahl stellen.
Was lesen?
Plagiatsvorwürfe haben den Wahlkampf der Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock erschüttert. Ihre Partei wies die Vorwürfe scharf zurück. Doch nun zeigt sich Baerbock in einem Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung" selbstkritisch.
Bei den Grünen ist die Verunsicherung indes groß. Selbst mit dem Szenario einer Auswechslung der Kanzlerkandidatin müssen sie sich herumschlagen. Meine Kollegen Sven Böll, Bastian Brauns und Tim Kummert haben sich in der Partei umgehört.
Peter de Vries ist nicht irgendein niederländischer Journalist. Der Star-Reporter berichtet über besonders mächtige Kriminelle. Unbekannte haben ihm vorgestern Abend in den Kopf geschossen, seitdem liegt er lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus. Mögliche Drahtzieher könnten in der Unterwelt zu finden sein, berichtet mein Kollege Jonas Mueller-Töwe.
In der Nacht auf Mittwoch haben Unbekannte den haitianischen Präsidenten Jovenes Moïse erschossen. Was steckt dahinter? Prof. Dr. Günther Maihold, stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit, hat meiner Kollegin Anja Keinath die wichtigsten Fragen beantwortet.
Obwohl sie momentan noch nicht einmal im Teenageralter ist, könnte Sky Brown einer der großen Stars der in gut zwei Wochen beginnenden Olympischen Spiele werden. Denn: Die britische Skateboarderin schickt sich in Tokio an, jüngste Olympiasiegerin überhaupt zu werden – und das mit dann gerade einmal 13 Jahren. Auch sonst will sie hoch hinaus, wie Brown meinem Kollegen Alexander Kohne verraten hat.
Die vergangenen Monate ist Australien gut durch die Corona-Krise gekommen, nun aber hat das Land mit der Delta-Variante zu kämpfen. Selbst die rigorose Abschottungspolitik hilft nicht mehr. Stattdessen will das Land nun auf das Impfen setzen. Doch Impfstoffe sind knapp und die Australier misstrauisch. Meine Kollegin Anna-Lena Janzen berichtet von vor Ort.
Seit dem 1. Juli hat auch Österreich seine Corona-Beschränkungen gelockert: Cafés und Restaurants haben wieder geöffnet und sogar Clubs und Bars dürfen aufmachen. Trotzdem gilt es beim Urlaub in unserem Nachbarland noch einiges zu beachten. Meine Kollegin Sandra Simonsen gibt Ihnen einen Überblick.
Auf einmal ist er wieder da: der Streit um Tempo 130 auf Autobahnen. Doch dieses Mal gibt es Neues im alten Streit. Denn selbst die deutsche Autoindustrie verliert inzwischen ihre Angst vor einem Tempolimit. Weshalb wir wohl in Zukunft etwas weniger schnell rasen dürften, erklärt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, im Gespräch mit meinem Kollegen Markus Abrahamczyk.
Was amüsiert mich?
Das Astrazeneca-Problem ist geklärt, nun fehlt noch eine gute Idee für die Impfmüden.
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag. Morgen lesen Sie an dieser Stelle von meiner Kollegin Janna Halbroth.
Ihre
Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs
Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.
Mit Material von dpa.
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.