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Zum journalistischen Leitbild von t-online.AfD auf Erfolgskurs, Grüne erleben Rückschlag "Ich warne davor, das zu dramatisieren"
Des einen Freud ist des anderen Leid: Während die AfD starke Umfrageergebnisse erzielt, sacken die Grünen ab. Welche Folgen hat das? Eine Expertin ordnet ein.
Für die AfD sind es gute Zeiten: Die Partei hat in den vergangenen Monaten immer mehr an Zustimmung gewonnen. In neuesten Umfragen zieht sie sogar mit Olaf Scholz' SPD gleich: Beide kämen derzeit auf 18 Prozent, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre (hier lesen Sie mehr dazu). Bei einer INSA-Umfrage für die "Bild am Sonntag" kommt die AfD sogar auf 19 Prozent.
Die Grünen hingegen verlieren immer mehr den Anschluss, und insbesondere Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck muss sich viel Kritik stellen.
Aber was bedeutet der Umfragetrend für die Parteien – und für die Bevölkerung? Wie kann die Ampelregierung das Vertrauen der Deutschen zurückgewinnen? Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach ordnet die aktuellen Entwicklungen ein.
t-online: Frau Reuschenbach, die AfD liegt in mehreren Umfragen derzeit mit 18 Prozent auf dem zweiten Platz im Parteienranking, während die Grünen immer weiter absacken. Wie erklären Sie sich das?
Julia Reuschenbach: Diese beiden Entwicklungen haben nicht unmittelbar miteinander zu tun. Zwischen Grünen und AfD gibt es nahezu keinen Wähleraustausch. Das heißt, es gibt keine Wählerinnen und Wähler, die von den Grünen zur AfD abwandern oder umgekehrt. Im Gegenteil: Die Kombination von Grünen und AfD ist die, die am allerwenigsten dafür geeignet ist, Menschen von der einen auf die andere Seite zu ziehen.
Weil die Parteien so unterschiedliche Ansichten haben?
Ja. Die AfD hat die Grünen in gewisser Weise als neues Feindbild entdeckt. Es sind die Grünen-Anhänger, die die AfD und eine Zusammenarbeit mit der Partei am stärksten ablehnen. Das heißt also, nur weil die Grünen Stimmen verlieren, landen die Punkte nicht automatisch auf dem Konto der AfD. Aber es ist natürlich denkbar, dass die aktuellen Debatten etwa um das Gebäudeenergiegesetz der AfD wieder eine stärkere Mobilisierung ermöglichen.
Müssen sich die Grünen wegen ihrer Werte Sorgen machen?
Ich warne davor, zu sagen, dass den Grünen derzeit reihenweise Stammwähler weglaufen. Die Partei hat sich jetzt wieder dort eingependelt, wo sie bei der Bundestagswahl damals auch gelegen hat. Das heißt, es ist so gesehen bislang kein jäher Absturz. Dass die Grünen nach ihrem Aufschwung im Frühjahr vergangenen Jahres wieder Stimmen verlieren, ist in Anbetracht der Debatte ums Gebäudeenergiegesetz wenig verwunderlich. Wir sehen mit den Grünen aber keine Partei im totalen Sinkflug auf dem Weg zur Fünfprozenthürde. Außerdem stellen die Deutschen keiner der Regierungsparteien derzeit ein gutes Zeugnis aus. Es ist kein rein grünes Thema.
AfD-Chef Tino Chrupalla wertet die Umfrageergebnisse als Bestätigung für den Kurs seiner Partei – zu Recht?
Die AfD profitiert gerade von zwei inhaltlichen Punkten: Das ist einerseits die Unsicherheit über die Veränderungen im Rahmen der Energietransformation. Die Regierung schafft es schon seit Wochen nicht, beim Gebäudeenergiegesetz mit einer Stimme zu sprechen. Andererseits spielt die wieder stärker gewordene Debatte über Migration der AfD in die Karten.
Warum?
Das Thema Migration mobilisiert AfD-Anhänger wie kein anderes. Insbesondere in der Stammwählerschaft der Partei sind migrationskritische und in weiten Teilen auch migrationsfeindliche Einstellungen ideologisch gefestigt. Wenn das Thema also öffentlich mehr stattfindet, so wie in den vergangenen Wochen, dann ist es nicht überraschend, dass die Partei in einer solchen Phase wieder stärker an Aufschwung gewinnt. Zudem haben wir bedauerlicherweise keine sehr sachliche und differenzierte Debatte über Migration erlebt.
Was meinen Sie damit?
Vertreter aus der Union, wie Jens Spahn oder Michael Kretschmer, haben etwa das Grundrecht auf Asyl infrage gestellt. Friedrich Merz sprach von "kleinen Paschas" und "Sozialtourismus". Aussagen wie "Die deutsche Infrastruktur ist nicht für so viele Millionen Menschen gemacht" kamen auch aus der Union. Das sind im Grunde Positionen, die in der AfD existieren, und die so zumindest durch in der Sprache ähnliche Formulierungen in die demokratische Mitte rücken. Diese Entwicklung macht mir Sorgen.
Dr. Julia Reuschenbach
(*1988) ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin. Seit 2022 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin (Arbeitsstelle für Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland). Reuschenbach lehrt und forscht zu Parteien, Wahlkämpfen, politischer Kommunikation und Politikfeldern in Deutschland. Sie studierte von 2007 bis 2012 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und von 2012 bis 2014 Politikwissenschaft und Neueste Geschichte an der FU Berlin.
Bei der Bundestagswahl 2021 hat die AfD fast 800.000 Stimmen an das Lager der Nichtwähler verloren. Kommen die nun womöglich wieder zurück?
Das ist durchaus vorstellbar. Zugleich ist es auch wichtig einzuordnen, dass die AfD derzeit keine großen Sprünge bei den Umfrageergebnissen macht. 18 Prozent ist ein sehr hoher Wert – aber im Sommer vergangenen Jahres hat die AfD schlagartig ein Plus von fünf Prozent gemacht. Damals ging die Debatte los, wie wir mit der Energiekrise durch den Winter kommen. Insofern sollten wir derzeit von einer gewissen Konstanz, einer jetzt schon seit gewisser Zeit andauernden Mobilisierung sprechen – und nicht von einem enormen Zuwachs.
Wer sind die Wählerinnen und Wähler der AfD?
Man kann nicht sagen, dass die Menschen nur aus Unsicherheit oder Protest die AfD wählen. Das trifft nicht zu. Aus den Umfragen geht zwar nicht hervor, mit welchem Motiv die Bürger ihre Wahlentscheidung treffen. Aber von den 18 Prozent für die AfD, wissen wir, sind etwa zehn Prozent Stammwählerinnen und -wähler, die die Partei aus Überzeugung wählen. Bei diesen Menschen haben andere Parteien nahezu keine Chance, sie "abzuwerben".
Zu den anderen derzeit circa acht Prozent gehören sicherlich auch Bürger, die verunsichert sind, etwa bezüglich des Gebäudeenergiegesetzes. Sie sorgen sich, ob diese Transformation für uns als Gesellschaft, aber vor allem auch für das eigene Portemonnaie leistbar ist. Gut möglich, dass die AfD gerade hier an das Nichtwählerlager verlorene Stimmen wieder stärker mobilisieren kann.
Inwiefern hat die Leistung der Bundesregierung Einfluss auf die Umfrageergebnisse?
Es ist ein absolutes Desaster, dass die Koalition keine klare Linie nach außen kommuniziert und wir in der Außenwirkung so eine Hängepartie erleben. SPD, Grüne und FDP sprechen nicht mit einer Stimme. Sie zeigen keine nachhaltige Geschlossenheit. Das führt dazu, dass Wählerinnen und Wähler nicht sicher wissen, wofür diese Regierung steht. Beim Entlastungspaket im vergangenen Winter hat man da noch die Kurve bekommen und das Vertrauen in die Regierung wurde wieder stärker. Es bleibt abzuwarten, ob dies jetzt beim Gebäudeenergiegesetz erneut gelingt.
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Die Zufriedenheit mit der Bundesregierung sank der Infratest-Umfrage zufolge im vergangenen Monat nochmals deutlich. Aktuell sei nur noch jeder Fünfte mit der Arbeit der Koalition zufrieden.
Diese Umfragen sind immer eine Momentaufnahme. Es ist verheerend, wenn man sie pauschalisiert. Zudem sollten wir uns daran erinnern, in welcher Krisenhaftigkeit die Ampel, auch als völlig neues Bündnis auf Bundesebene, die Regierung übernommen hat. Die derzeitigen Umfrageergebnisse sind zwar nicht gut, aber auch nicht historisch schlecht. Ich warne davor, das zu dramatisieren. Die schwarz-gelbe Regierung unter Angela Merkel etwa hat in den 2000er-Jahren zeitweise noch weniger Vertrauen von der Bevölkerung entgegengebracht bekommen. Es ist also keine völlig neue, einzigartige Entwicklung – aber natürlich darf sie der Ampel auch nicht egal sein.
Was raten Sie der Koalition?
Die Ampelparteien sollten vor allem die Konflikte hinter den Kulissen austragen. Wenn sie eine gemeinsame Entscheidung getroffen haben, sollten sie diese erst dann kommunizieren, wenn sie sie belastbar ausgearbeitet haben und nach außen dauerhaft mit Geschlossenheit vertreten können – man also hinter den gemeinsam getroffenen Entscheidungen auch gemeinsam steht. So gäben sie den Menschen viel mehr Sicherheit. Und ein ganz wichtiger Punkt ist die Kommunikation. Das Gebäudeenergiegesetz ist dafür ein Paradebeispiel.
Warum?
Es fehlt an einem nachhaltigen, durchdachten Kommunikationskonzept. Diese Debatte hat eine totale Eigendynamik entwickelt. Meines Erachtens hat die Regierung unzureichend darauf reagiert – sie haben den Menschen zu spät klargemacht, dass es Entlastungen, eine Härtefallregelung und ein ausführliches parlamentarisches Verfahren geben wird. Wenn sich die Kommunikation ändern würde, würde sich das mit Sicherheit auch in Umfragen widerspiegeln. Und da könnte auch der Bundeskanzler noch deutlich sichtbarer werden.
Hat die Regierung denn überhaupt noch Aussicht auf Besserung?
Immer, wenn die Ampel Maßnahmen beschließt und diese in Kraft treten – wie etwa die Entlastungspakete im Winter – stabilisiert sich die Situation wieder. Sobald die Menschen das Gefühl haben, bei ihnen kommt etwas an und Entscheidungen werden wirklich in die Tat umgesetzt, erhält die Regierung auch wieder mehr Zuspruch. Es gibt also Grund zur Hoffnung, und zugleich dauert es, bis sich solche Entwicklungen dann in den Umfragen wiederfinden.
Lassen Sie uns einen Blick auf die Spitze der Umfragen werfen: Die Union ist klar vorn. Wie beurteilen Sie diesen Erfolg?
Die Frage ist: Profitieren CDU/CSU gerade davon, dass die Ampel so ein schlechtes Bild abgibt, oder weil die Menschen tatsächlich von ihnen überzeugt sind? In den vergangenen anderthalb Jahren musste die Union bei Landtagswahlen und bei der Bundestagswahl extreme Kompetenzverluste hinnehmen. Zuletzt war das etwa in Bremen der Fall. Die meisten Menschen haben Umfragen zufolge nicht den Eindruck, dass eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung die Situation verbessern oder die Krisen besser meistern würde.
Welche Konsequenzen hat das für die Union?
Sie sollte sich auf keinen Fall auf den aktuellen Werten ausruhen – sondern sie gründlich hinterfragen. Außerdem müssen sie ihre Sprache hinterfragen: Begriffe wie "Energie-Stasi" nützen vor allem der AfD. CDU und CSU müssen sich darüber im Klaren sein, dass viele Menschen sie derzeit womöglich nicht aus Überzeugung wählen würden, sondern wegen des Unmuts über die Ampel. Das kann sich zum Ende der Legislatur, wenn Bilanz gezogen wird, durchaus ändern.
Frau Reuschenbach, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefoninterview mit Julia Reuschenbach am 2. Juni 2023