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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Designierter Grünen-Chef zur Ukraine-Krise "Es gibt Instrumente, die Russland wehtun werden"
Die Kriegsgefahr durch russische Truppen nahe der Ukraine wächst. Der designierte Grünen-Chef Omid Nouripour erklärt, was er vom Baerbock-Besuch in Moskau hält, ab wann Nord Stream 2 gestoppt werden muss – und ob die SPD ein Putin-Problem hat.
Der Außenpolitiker Omid Nouripour kandidiert für den Vorsitz der Grünen. Er saß schon einmal im Bundesvorstand der Partei, als Beisitzer während der rot-grünen Schröder-Jahre. Nun will er zurück in die erste Reihe und gemeinsam mit Ricarda Lang die Partei führen. Am 28. und 29. Januar bestimmt der Bundesparteitag der Grünen die Nachfolge von Annalena Baerbock und Robert Habeck. Einziger Gegenkandidat ist Mathias Ilka vom hessischen Landesverband.
t-online: Herr Nouripour, Russland marschiert mit Soldaten, Panzern und Militärhubschraubern an der ukrainischen Grenze auf, Experten fürchten eine blutige Eskalation. Steht die Invasion kurz bevor?
Omid Nouripour: Es sind mittlerweile 120.000 russische Soldaten in Gefechtsbereitschaft. Die Situation ist brandgefährlich. Wir kennen die Motive des Kremls für diese Aktion nicht. Aber ein friedlicher Hintergrund drängt sich derzeit nicht auf.
Außenministerin Baerbock reiste erst nach Kiew, am Dienstag war sie beim diplomatischen Härtetest in Moskau. Wie effektiv ist Dialog mit einem Staat, der womöglich nur auf Zeit spielt und im Hintergrund den Krieg vorbereitet?
Dialog bleibt das oberste Gebot. Eine Friedensordnung in Europa gibt es nur mit Russland. Aber bei aller Notwendigkeit der Diplomatie muss klar sein, dass eine weitere Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine und eine weitere militärische Aggression Preisschilder haben. Was Russland droht, hängt einerseits davon ab, was wir in der EU gemeinsam hinbekommen, andererseits natürlich von der Art der Aggression. Die Antwort auf Gefechte an der Grenze ist sicher eine andere als die auf einen Marsch auf Kiew.
Was ist das Preisschild eines russischen Durchmarschs bis nach Kiew?
Ich weiß es nicht. Ich will mir das auch gar nicht ausmalen. Wir müssen alles dafür tun, damit es nicht dazu kommt.
Aber hätte es nicht eine abschreckende Wirkung Richtung Moskau, die Konsequenzen klar zu benennen? So entsteht der Eindruck, der Westen verstecke sich hinter vagen Drohungen, um sie im Ernstfall nicht wahr machen zu müssen.
Es gibt mehrere Gründe, warum wir jetzt nicht Preisschilder auf einzelne Bedrohungsszenarien draufkleben. Erstens, weil die EU das einheitlich bestimmt und Deutschland da nicht einseitig vorgreifen sollte. Zweitens wollen wir den Kreml auch nicht in Versuchung bringen, abzuwägen, ob er den ein oder anderen Preis bereit ist zu zahlen. Es gibt eine Reihe von bekannten Instrumenten, vor allem wirtschaftliche, die Russland wehtun werden. Aber was wofür verwendet werden kann, werden wir sehen.
Wenn Putin losschlägt, sollte Deutschland der Ukraine militärisch helfen?
Das werden wir dann diskutieren. Im Moment arbeiten aber alle daran, dass es nicht zum Krieg kommt.
Hieße das auch deutsche Waffen für die Ukraine? Robert Habeck hatte im vergangenen Jahr Defensivwaffen für Kiew ins Spiel gebracht.
Damit es nicht zu solchen Entscheidungen kommen muss, ist Annalena Baerbock unterwegs, um diplomatische Lösungen zu finden.
Ist die Gaspipeline Nord Stream 2 ein "rein privatwirtschaftliches" Vorhaben, wie der Bundeskanzler kürzlich meinte?
Der Ausdruck stammt ja von der früheren Kanzlerin Merkel. Es gibt weltweit keine Energieprojekte von einer solchen Größe in einem politikfreien Raum. Wir Grüne waren immer gegen die Pipeline und hoffen weiterhin, dass sie nie in Betrieb geht. Wir halten Nord Stream 2 für den fossilen Spaltpilz Europas, der Deutschland noch abhängiger von russischem Gas macht. Klar ist aber auch, dass die Zertifizierung der Leitung gerade geprüft wird und wir in diesen Prozess politisch nicht eingreifen wollen. Das gilt allerdings nicht mehr in dem Szenario, über das wir gerade gesprochen haben.
Greift Russland die Ukraine an, ist Nord Stream 2 aus Ihrer Sicht erledigt?
Im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung muss die Beendigung des Projekts als Konsequenz auf den Tisch. Das vernehme ich im Übrigen auch von der FDP und von vielen in der Sozialdemokratie. Außerdem gibt es genau darüber eine Vereinbarung der alten Bundesregierung mit der US-Regierung.
Öffentlich vernimmt man aber derzeit ganz andere Töne von der SPD: So forderte der neue Generalsekretär Kevin Kühnert, die Debatte um Nord Stream 2 zu beenden und mahnte, man solle keinen Konflikt "herbeireden". Und Fraktionschef Rolf Mützenich zeigte Verständnis dafür, dass Russland sich von der Nato bedroht fühle, auch wenn er anderer Meinung sei. Hat die SPD ein Putin-Problem?
Rolf Mützenich hat lediglich die Gefühlslage in Russland beschrieben, wahrscheinlich ziemlich präzise. Nur ist diese Gefühlslage keine Legitimation dafür, einen Angriffskrieg zu starten. Russland ist seit 2014 in drei Nachbarstaaten einmarschiert. Bei Kevin Kühnert gehe ich davon aus, dass er noch nicht ordentlich gebrieft war über die russischen Truppenbewegungen.
Das hat er vor einer Woche gesagt, da standen schon russische Panzer an der Grenze.
Ich bin mir sicher, dass Kevin Kühnert da noch nicht im Dossier war. Es war ja auch seine allererste Pressekonferenz als Generalsekretär, da muss man nachsichtig miteinander sein.
Nett von Ihnen.
(Lacht) Eher Eigeninteresse. Sollte ich Ende Januar Grünen-Chef werden und meine erste Pressekonferenz halten, hoffe ich auch, dass er nachsichtig mit mir sein wird. Ich bin für die 100-Tage-Regel, man muss den Leuten Zeit geben, sich einzufinden. Möge mir Kevin Kühnert also meine Fehler verzeihen.
Haben Sie Zweifel, dass die SPD eine zeitgemäßere Russland-Politik hinbekommt?
Es ist eher ein Generationenkonflikt. Nicht nur in der SPD gibt es viele Bewunderer der Ostpolitik Willy Brandts, ich gehöre natürlich dazu. Die Ostpolitik hat historisch gesehen auch große Verdienste vorzuweisen, es gibt Elemente, die man noch heute übernehmen kann, etwa den Dialog bis zum Ende aller Tage. Aber wir leben nicht mehr im Kalten Krieg und Russland ist nicht die Sowjetunion. Putin hat eine andere Agenda, die neue Antworten erfordert. Michael Roth etwa, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses und SPD-Abgeordneter, erkennt das genau.
Mit Mützenich sind Sie schon vor Kurzem aneinandergeraten: Er sagte, die Außenpolitik werde insbesondere im Kanzleramt gesteuert. Sie nannten das eine "überkommene Koch-Kellner-Logik" und warfen ihm eine Herabsetzung des Amtes vor. Wie viel Macht hat das Außenministerium noch?
Rolf und ich haben das längst zwischen uns geklärt. Das Amt ist gut aufgestellt und voller qualifizierter, motivierter Leute. Jetzt ist auch eine Ministerin da, die sehr viel erreichen will.
Wollte das ihr Vorgänger Heiko Maas nicht?
Ich bin kein Fan vom Nachtreten und sehe erst mal die aktuellen Bemühungen der Außenministerin. Ich finde, sie ist hochmotiviert und ambitioniert. Die Diplomatie, die jetzt hochgefahren wird, ist sehr wertvoll. Dass die Außenministerin dieser Tage nach Kiew und Moskau reist, ist ein wesentlicher Beitrag zur Deeskalation. Jetzt gilt es, einen Krieg zu verhindern, nicht darum, ob die Grünen oder die SPD gerade gut aussehen. Ich bin für die Reise der Außenministerin genauso dankbar, wie ich dankbar bin für jedes Telefonat von Olaf Scholz mit Putin.
Den Baerbock-Besuch in den USA haben Sie mit scharfen Worten begleitet: Der Afghanistan-Abzug sei ein "Albtraum" gewesen, US-Präsident Biden kritisierten Sie als halbherzig. War das ein Vorgeschmack auf den designierten Grünen-Chef, der auch außenpolitisch mitreden will? Heißt der künftige Schatten-Außenminister Omid Nouripour?
Das wäre ja absurd. Annalena Baerbock ist die Außenministerin und ich bin ihr größter Fan. Dass ich schärfer formulieren darf als sie, liegt in der Natur ihres Jobs. Ich rede weiter wie bisher, sie redet jetzt als Außenministerin. Und sie formuliert die Leitlinien der deutschen Außenpolitik in Absprache mit dem Kanzleramt.
Wenn Sie die außenpolitische Lage kommentieren, darf man also davon ausgehen, dass Sie den Segen der Außenministerin haben?
Es wäre verheerend, spräche ich mich nicht mit den grünen Regierungsmitgliedern ab, also auch mit Frau Baerbock. Sie ist angetreten für eine wertebasierte Außenpolitik. Aber würde sie so deutlich formulieren wie ich, würde sie als die Chefdiplomatin Deutschlands die Handlungsspielräume deutscher Außenpolitik verkleinern, und das hilft niemandem.
Der Eiertanz um die Impfpflicht droht zur ersten großen Ampel-Krise zu werden. Erst waren alle dagegen, dann viele dafür, jetzt bröckelt die Front der Befürworter. Sie unterstützen das Vorhaben weiterhin?
Ja, noch vor drei Monaten war ich dagegen. Bei fast keinem Thema bin ich so umgeschwenkt wie bei der Corona-Impfpflicht. Aber wir müssen auch an die Menschen denken, die sich seit fast zwei Jahren an alle Regeln halten, die stark Rücksicht nehmen auf andere. Die Leute weiter einzuschränken, ist kaum mehr zu rechtfertigen. Voraussetzung für die Impfpflicht muss allerdings sein, dass sie rechtskonform, angebotsorientiert und zeitlich befristet ist.
Weil die Ampel uneins ist, sieht Scholz das Parlament am Zug, eigene Anträge zur Impfpflicht zu erarbeiten. Ist das der richtige Weg, um so eine entscheidende Frage anzupacken?
Es gibt eine große Zahl von Abgeordneten, die eine Impfpflicht als Gewissensentscheidung empfinden. Als überzeugter Parlamentarier, der bereits abweichend von seiner Fraktion abgestimmt hat, finde ich, dass man davor Respekt haben muss.
Kritiker werfen Scholz vor, sich wegzuducken: Bei einem so zentralen Thema müsse er sich die Kanzlermehrheit beschaffen, heißt es. Doch der Kanzler weiß, dass er die wegen der FDP nicht kriegt, also versucht er es auch gar nicht. Ist die Kanzler-Autorität schon beschädigt?
Ab einer kritischen Zahl von Abgeordneten, die in der Impfpflicht eine Gewissensentscheidung sehen, ist das keine Verhandlungsmasse mehr. Laut Grundgesetz sind die Parlamentarier nur ihrem Gewissen verpflichtet. Darüber kann man nicht einfach hinweggehen. Insofern handelt Scholz konsequent. Bei anderen hochsensiblen Gewissensentscheidungen in der Vergangenheit, wie beispielweise der Sterbehilfe, ist kein Mensch auf die Idee gekommen die Kanzler-Autorität in Frage zu stellen. Warum also jetzt?
Der letzte SPD-Kanzler hat es vorgemacht: 1999 brachte Gerhard Schröder die Grünen dazu, unter Bauchschmerzen dem Kosovo-Krieg zuzustimmen. Und noch mal 2001, als er deutsche Streitkräfte nach Afghanistan schicken wollte und wieder auf das Ja des grünen Koalitionspartners pochte. Genug Stimmen hätte er auch so gehabt, doch er wollte die Handlungsfähigkeit seiner Regierung demonstrieren. Gilt das für die Ampel nicht?
2001 hatte Schröder das aber mit der Vertrauensfrage verknüpft. Er hat also die Gewissensfrage, ob deutsche Soldaten in den Krieg ziehen sollen, politisch massiv aufgeladen. Ich wüsste nicht, warum Scholz das jetzt tun sollte. Schröder war damals stark unter Druck aus verschiedenen Richtungen. Scholz ist erst seit wenigen Wochen gewählt. Lassen Sie ihn doch erst mal machen. In die Verlegenheit, diesen Satz zu sagen, wollte ich gar nicht kommen.
Ende Januar wollen Sie zum neuen Parteichef gewählt werden. Sie haben bei der Kandidatur geschrieben, Sie bewerben sich für den "schönsten Job der Welt". Angesichts der schwierigen Startbedingungen der Koalition und der neuen Rolle, in der sich die Grünen einfinden müssen – ist das nicht ein bisschen geflunkert?
Ich meine das wirklich ernst. Wir haben 125.000 Mitglieder, so viele wie noch nie. Das sind sehr viele unterschiedliche Menschen, solche, die mitten im Leben stehen, oder Menschen, die Familie haben, die gerade eine Lehre machen oder noch studieren oder vielleicht im Ruhestand politisch aktiv sind und die sich trotz all der anderen Verpflichtungen die Zeit nehmen, sich zu engagieren, weil sie die Welt verbessern wollen. Das muss man bei den Grünen so fassen, kleiner geht's nicht. Für diese Leute sprechen zu können, hielte ich für eine große Auszeichnung. Es ist ein sehr stressiger Job, aber ich habe richtig Lust drauf.
Sie wollen gemeinsam mit Ricarda Lang die Partei führen. Was schätzen Sie an ihr?
Ricarda Lang ist eine unglaublich starke und kluge Frau, die trotz ihrer Frische feste Standpunkte hat, die sie auch sehr strukturiert vertritt. Sollte ich gewählt werden, wird es eine Freude sein, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Herr Nouripour, vielen Dank für das Gespräch.