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Auftritt von Anne Spiegel: Hat die Spitzenpolitik ihren Instinkt verloren?


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Erschütternder Auftritt von Spiegel
Hat die Spitzenpolitik ihren Instinkt verloren?

MeinungVon Miriam Hollstein

Aktualisiert am 11.04.2022Lesedauer: 4 Min.
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Nach öffentlicher Entschuldigung: Die Grünen-Politikerin Anne Spiegel ist als Bundesfamilienministerin zurückgetreten. (Quelle: t-online)
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Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hat mit einem Statement am Sonntag versucht, der Kritik an ihrem Verhalten in der Flut entgegenzutreten. Das misslang aus mehreren Gründen.

Es war ein erschütternder Auftritt, den die Bundesfamilienministerin Anne Spiegel am Sonntagabend ablieferte. Verwirrt und den Tränen nahe wirkte die Grünen-Politikerin bei dem kurzfristig angesetzten Pressestatement zu der Kritik an ihrem Verhalten als Landesministerin nach der Flutkatastrophe.

Schlecht beraten war sie dabei auf alle Fälle. So wurde live übertragen, wie Spiegel am Ende jemanden im Off fragt, ob sie nicht jetzt noch das Ganze "abbinden" müsse, um dann zu einer Entschuldigung anzusetzen.

Spiegel war damals kurz nach der Katastrophe für vier Wochen in den Familienurlaub nach Frankreich gefahren, obwohl sie als Umweltministerin mitzuständig für die Situation im Ahrtal war. CDU-Chef Friedrich Merz hatte am Wochenende ihren Rücktritt gefordert.

In ihrem Statement beschrieb Spiegel nun die persönlichen Gründe, warum dieser Urlaub für ihre Familie so wichtig gewesen sei: den Schlaganfall ihres Mannes im Jahr 2019, nachdem er keinen größeren Belastungen mehr ausgesetzt sein durfte; die Belastungen der Pandemie für die vier noch sehr kleinen Kinder. Sie räumte auch ein, dass sie mit den vielen Aufgaben, die sie dann übernahm, überfordert gewesen sei.

Wie erbarmungslos wollen wir sein?

Menschlich können einen ihre Worte nicht kalt lassen. Jeder und jede von uns erlebt Situationen, in denen er oder sie besonderen Belastungen ausgesetzt ist und zugleich beruflich "funktionieren" muss. Alle, die Spiegel für ihre ehrlichen Worte jetzt verhöhnen, sollten sich fragen, in welcher Gesellschaft sie leben wollen.

In einer, in der Spitzenpolitiker den wahnsinnigen Druck ihrer Ämter wegkoksen oder wegsaufen, um nach außen die Fassade des starken Mannes oder der starken Frau aufrechtzuerhalten?

Oder in einer, in der sie auch einmal ganz offen sagen dürfen, wo ihre Grenzen sind, und auf Verständnis hoffen dürfen?

Wer hier Letzteres verneint, der sollte nicht jammern, wenn auch ihm kein Verständnis entgegengebracht wird, wenn er (oder sie) selbst einmal in eine solche Lage gerät. Es gilt der Kantsche Imperativ: Handle (und reagiere) stets so, dass dein Handeln auch ein allgemeines Gesetz werden könnte.

Wer vom Amt überfordert ist, muss zurücktreten

Politisch müssen Spiegels Worte allerdings noch einmal anders beurteilt werden. Wenn man sich für ein hohes Amt entscheidet, weiß man um die Belastungen. In diesem Bewusstsein entscheidet man sich, Verantwortung zu übernehmen. Wenn sich das als eine falsche Entscheidung herausstellt (aus welchen Gründen auch immer), dann müssen Konsequenzen gezogen werden. Wer vom Amt überfordert ist, muss zurücktreten.

Nicht der Urlaub ist dabei das eigentliche Problem. Er reiht sich vielmehr ein in ein ganzes Konglomerat an Reaktionen bei Spiegel, die von vielen als nicht angemessen empfunden wurden. Das Problem ist der fehlende Instinkt.

134 Menschen sind bei der Flut im Ahrtal gestorben. Tausende standen über Nacht buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz. In dieser Situation als politische Verantwortliche zu einer familiären Geburtstagsfeier nach Mallorca zu fliegen (wie es die nordrhein-westfälische Umweltministerin Ursula Heinen-Esser tat, die inzwischen zurückgetreten ist) oder vier Wochen in den Familienurlaub zu reisen, mag menschlich nachvollziehbar sein, ist aber politisch instinktlos.

Scharping brachten Urlaubsbilder in die Bredouille

Das ist in der Vergangenheit immer mal wieder vorgekommen. Rudolf Scharping geriet als Verteidigungsminister 2001 in die Kritik, weil er sich inmitten der Balkan-Krise mit seiner neuen Liebe beim Planschen im Pool auf Mallorca für die "Bunte" ablichten ließ. Eine dubiose Lobbyisten-Affäre im Jahr darauf, war dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Scharping wurde entlassen.

Edmund Stoiber mutierte vom als sicher geltenden Gewinner zum Verlierer der Bundestagswahl, weil er bei der Hochwasserflut 2002 nicht schnell genug seinen Urlaub abbrach, während sein Konkurrent Gerhard Schröder bereits in Gummistiefeln vor Ort den Betroffenen Hilfe versprach.

Armin Laschet verlor die Bundestagswahl auch, weil er bei einem TV-Statement des Bundespräsidenten im Flutgebiet im Hintergrund über einen Scherz lachte.

Der Fluch der sozialen Netzwerke

Umgekehrt zeigt sich, dass der richtige Instinkt in solchen Situationen große Karrieren befördert. Helmut Schmidt stieg einst zu Deutschlands Krisenmanager Nummer eins auf, weil er im Februar 1962 schnell und entschlossen handelte, als eine Sturmflut Hamburg heimsuchte.

Die Politiker und Politikerinnen von heute haben den Nachteil, dass sie durch das Internet und die sozialen Netzwerke noch einmal ganz anders in der Öffentlichkeit stehen. Jeder ihrer Schritte wird beobachtet, ein Fehler in Minuten millionenfach verbreitet und kommentiert.

Umso wichtiger ist, in Krisensituationen den richtigen Instinkt zu beweisen. Und umso wichtiger ist, wenn man dies versäumt hat, den Fehler schnell und schonungslos einzugestehen.

Update: Inzwischen hat Anne Spiegel ihren Rücktritt erklärt. Angesichts der Situation war es der einzig richtige Schritt.

In einer früheren Version des Kommentars hieß es, Rudolf Scharping sei infolge der Poolbilder zurückgetreten. Tatsächlich wurde er aber erst ein Jahr später nach einer Lobby-Affäre von Kanzler Gerhard Schröder entlassen. Wir haben dies korrigiert.

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