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Jung, konservativ, liberal: Ist Carsten Linnemann (CDU) der neue Merz?


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Konservativer CDU-Politiker Carsten Linnemann
Ist er der neue Friedrich Merz?


Aktualisiert am 28.02.2021Lesedauer: 8 Min.
Unterwegs vor den Gebäuden des Bundestags: Wird Linnemann der nächste Wirtschaftsminister?Vergrößern des Bildes
Unterwegs vor den Gebäuden des Bundestags: Wird Linnemann der nächste Wirtschaftsminister? (Quelle: Michael Hübner für t-online)

Carsten Linnemann ist der neue Star der Konservativen in der CDU. Anders als deren einstiges Idol Friedrich Merz schwankt er jedoch zwischen Anpassung und Aufbegehren und will mit einem sanften Politikstil nach oben.

Die Stimmung ist gerade auf dem Tiefpunkt, als die Karriere von Carsten Linnemann einen neuen Höhepunkt erreicht. Es ist ein grauer Tag im Januar, der Vorstand der einflussreichen CDU-Mittelstandsvereinigung (MIT) hält via Videokonferenz ein digitales Scherbengericht ab. Der Grund: Friedrich Merz wurde beim Parteitag nicht zum Vorsitzenden gewählt.

Es ist ein Desaster für das Merz-Lager. Deshalb steht die Frage im Raum: Wie soll es weitergehen? Es sei nun an der Zeit, dass "der Carsten endlich sichtbarer wird", sagt jemand. Ein anderer fordert: "Der Carsten müsste mehr in den Vordergrund". Es gibt viel Zustimmung für den Carsten. Immerhin ist Linnemann Vorsitzender der MIT. Doch der Auserwählte reagiert zurückhaltend auf die Charmeoffensive. Und Merz, der auch zugeschaltet ist, schweigt. So berichten es CDU-Politiker, die dabei waren.

Das Treffen der MIT, die für den wichtigen Wirtschaftsflügel der CDU steht, zeigt, wie sehr die Partei im Umbruch ist. Armin Laschet ist zwar Parteichef, gilt aber vielen in der Partei als zu liberal. Doch Friedrich Merz ist zum zweiten Mal innerhalb von rund zwei Jahren gescheitert. Und einen dritten Versuch gibt es in der Politik selten.

An Unterstützern mangelt es nicht

Deshalb soll nun ein neuer Kopf her, der Merz' Erbe antritt. Viele wissen noch gar nicht genau, was das inhaltlich im Einzelnen bedeutet. Doch die Stoßrichtung lautet: Weniger Sozialstaat. Weniger Steuern. Weniger Regulierung.

Linnemann ist jetzt 43, also ungefähr in dem Alter, als Merz im Jahr 2002 Fraktionschef im Bundestag wurde und so zum Held der Wirtschaftsliberalen in der Union aufstieg. Bislang ist Linnemann Fraktionsvize im Bundestag, da ist er einer von elf. Um wirklich das Erbe von Merz anzutreten und in der Spitze mitzuspielen, müsste er bald den nächsten Karriereschritt machen.

An Unterstützern mangelt es nicht. Auch außerhalb der MIT. So fordert etwa der Hamburger CDU-Chef Christoph Ploß: "Aus meiner Sicht sollte er für die CDU eine größere Rolle als bisher spielen." Sogar Patricia Lips, die Chefin der Kampagne für die Parteivorsitz-Kandidatur von Merz, sagt t-online: "Ich würde mich freuen, wenn Carsten Linnemann in Zukunft mehr Verantwortung übernimmt. Ich glaube, es braucht starke Stimmen wie ihn."

Linnemann, der Kanzler?

In einem Teil des konservativen Flügels der CDU hat man da schon konkretere Vorstellungen: Linnemann soll nach der Bundestagswahl Finanzminister werden. Und irgendwann vielleicht sogar Kanzler.

Carsten Linnemann, der Kanzler? Er will sich dazu nicht äußern. Zu einem möglichen Job im Kabinett sagt Linnemann nur: "Das ist nichts, worauf ich spekuliere. Ich bin natürlich bereit, Verantwortung zu übernehmen, aber das tue ich in meinen jetzigen Ämtern auch schon." Es ist eine typische Linnemann-Antwort. Denn er will nach oben kommen, das schon. Aber vor allem will er es nicht auf radikale Weise tun. Man könnte auch sagen: Er soll so sein wie Merz, ohne wie Merz zu sein.

Er fühlt sich nicht wohl mit dem Getöse

Manche sagen deshalb, Linnemann sei zu süchtig nach Harmonie, zu weich für die harte Spitzenpolitik. Er kennt das Gerede. Und er bemüht sich, den Gerüchten etwas entgegenzusetzen: Deshalb prescht er manchmal vor, zum Beispiel mit der Forderung nach einem Islamgesetz.

Er spricht sich dabei immer mit Kollegen ab. Und fühlt sich trotzdem nicht richtig wohl mit dem Getöse. Weil er stets zwischen Konsens und Krawall schwankt, zwischen Anpassung und Auflehnung. Wo andere mit dem Kopf durch die Wand wollen, zückt Carsten Linnemann erst mal den Zollstock, um auszumessen, wie dick der Beton an dieser Stelle ist. Und überlegt dann, ob sich die Beule trotzdem lohnt.

Vielleicht zeigt das Anti-Merzhafte von Linnemann aber auch nur, wie sehr Angela Merkel die CDU verändert hat. Es geht bei seinem Zögern und Abwägen eben auch um die Frage, wie konservative Politik nach ihren 16 Jahren im Kanzleramt überhaupt noch erfolgreich sein kann.

Kollegen sprachen ihn an: Warum plötzlich so handzahm?

7.30 Uhr an einem Morgen Anfang Februar, es sind fast null Grad. Carsten Linnemann hat vorgeschlagen, sich am Berliner Hauptbahnhof zu treffen und joggen zu gehen. Neun Kilometer ist die Strecke lang, in seinem Trainingsanzug wirkt er noch schlaksiger und jugendlicher als sonst. Er könnte auch Anfang 30 sein.

Linnemann läuft an der Spree entlang, es geht jetzt um die richtige Art, konservative Politik zu machen. Und wie es nicht laufen sollte, erklärt er gleich mal an sich selbst. Vor zwei Jahren forderte Linnemann eine Vorschulpflicht für Kinder, die noch nicht richtig Deutsch können. Es gab viel Aufregung, er stand als jemand da, der keine Ausländer in den Schulen haben will. Linnemann atmet kräftig aus und sagt: "Ich wurde plötzlich in die rechte Ecke gerückt, es war unfassbar."

So schnell kann es gehen, dachte er damals. Um die Wogen zu glätten, gab er ein Interview. Doch er vermied darin jede griffige Formulierung, der Text war nichtssagend. Daraufhin, erzählt er, hätten ihn Fraktionskollegen angesprochen, was das jetzt wieder für eine Kehrtwende sei: warum plötzlich so handzahm?

Linnemann springt über eine Eisenstange und sagt: "Da merkte ich plötzlich: Carsten, mach das nicht. Du bist gewählt worden, um deine Meinung zu sagen." Und damit seine Botschaft auch wirklich ankommt, schiebt er schnell einen Satz nach, den er Journalisten ständig diktiert: "Das Wichtigste für mich ist, dass ich mich nicht verbiege."

Am Beispiel der Vorschulen zeigt sich: Linnemann ist ein Mann, der sich tastend vorwärts bewegt. Doch bereits jetzt hat er enormen Einfluss in der CDU: Seit 2013 ist er Chef der konservativen MIT. Der unternehmensnahe Kreis hat 40.000 Mitglieder und ist der größte Verein in der CDU.

Linnemann kann Stimmung machen: mal für, mal gegen die Kanzlerin. Doch anders als Merz stimmt er sich eher zu viel als zu wenig ab. Wenn andere schon keiner Kamera mehr aus dem Weg gehen, führt Linnemann noch ein halbes Dutzend Telefonate. Es soll bloß niemand verärgert werden.

Vorbild: Wolfgang Bosbach

Oft funktioniert das gut: Linnemann hat Erfolge vorzuweisen, von denen viele Menschen profitieren, etwa indem er dafür sorgte, dass es durch Lohnsteigerungen nicht ständig zu steuerlichen Mehrbelastungen kommt.

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Und Linnemann hat durchaus ein Profil: 2015 stimmt er gegen die Griechenland-Hilfen. In diesen Tagen macht die MIT Schlagzeilen mit dem Vorschlag, ARD und ZDF zu fusionieren. Es ist ein Herzensanliegen von Linnemann, er hat monatelang an der Idee getüftelt. Sie hätte wohl auch von einem Mann kommen können, der Linnemann sehr geprägt hat: Wolfgang Bosbach.

Bosbach wetterte gegen die "Islamisierung" Deutschlands, Killerspiele und plädierte für scharfe Anti-Terrorgesetze. Mit ihm bekam die rechte Strömung in der Union um 2010 herum wieder einen Kopf, nachdem Merz in die Wirtschaft geflüchtet war. Bosbach ebnete mit seinen Auftritten allerdings den Boden für Merz, bevor dieser 2018 in die Politik zurückkehrte. Seither war er wieder der Anführer der Konservativen.

Merz: Kein direkter Vorwurf gegen Linnemann, natürlich

Bosbach und Merz sind beide eher laute Vertreter ihres Fachs. Sie mäkelten ständig an der Regierung herum, forderten heute dies und morgen jenes. Von ihren Fans hörten sie deshalb oft: "Endlich sagt es mal jemand!". Aber im politischen Betrieb hatten sie weit weniger Einfluss als ihre öffentliche Präsenz vermuten ließ.

Linnemann versucht mit seiner vorsichtigen Art den Spagat: Er will konservative Sehnsüchte bedienen, aber an entscheidender Stelle auch gehört werden. Er sagt es so: "Dicke Bretter kann man in der Politik nur bohren, wenn man vorher Mehrheiten organisiert. Alleine jedenfalls erreicht man nicht viel."

Fragt man Merz und Bosbach, was sie über Linnemann denken, bekommt man interessante Antworten. Merz sagt: "Manchmal würde ich mir zwar wünschen, dass sich die MIT, der Parlamentskreis Mittelstand und der Wirtschaftsrat enger untereinander koordinieren, aber das ist kein persönlicher Vorwurf gegen Linnemann." Es ist ein klassischer Merz: Natürlich, kein persönlicher Vorwurf. Nur ein Vorwurf gegen die MIT. Und deren Chef heißt eben: Linnemann.

"In der Politik gibt es so gut wie keine Freundschaften"

Fragt man Bosbach nach Linnemanns größter Schwäche, wird es für einige Sekunden still am Telefon. Dann sagt er: "Ich habe noch nie etwas von ihm gehört, wo ich dachte: Das geht jetzt aber gar nicht." Die größte Schwäche eines Spitzenpolitikers ist demnach seine mangelnde Bereitschaft zum Krawall.

Merz stichelt indirekt, Bosbach will anecken – beides käme Linnemann nicht in den Sinn. Es ist nicht seine Vorstellung von Politik.

Frage beim Joggen: Was haben Sie in den zwölf Jahren, die Sie nun schon im Bundestag sitzen, über Politik gelernt? Linnemann schaut kurz auf den Boden und sagt: "In der Politik gibt es so gut wie keine Freundschaften."

Er hat die kühlen Mechanismen der Macht schon selbst gespürt: Nach der letzten Wahl sollte er als Vize-Fraktionschef eigentlich für Arbeit und Soziales zuständig sein, er wollte das unbedingt. Doch dann beanspruchte Ex-Gesundheitsminister Hermann Gröhe den Posten. Linnemann blieben am Ende nur die Bereiche Wirtschaft und Energie.

Manchmal klingt er, als wäre er bei der FDP

Im Zweifel steht jemand im Weg, der mächtiger ist: Für Linnemann war das eine ungewohnte Erfahrung. Er ist in einem 3000-Seelen-Dorf bei Paderborn aufgewachsen, sein Vater betrieb zwei Buchhandlungen. Es muss eine behütete Kindheit gewesen sein: "Mein Vater hat mir Selbstvertrauen mitgegeben, meine Mutter Gottvertrauen", sagt Linnemann.

Sein Vater saß oft bis spät in die Nacht hinein über den Rechnungen. "Er hat mir vorgelebt, dass man mit viel Arbeit viel erreichen kann. Der Zusammenhang zwischen Fleiß und Erfolg, der fehlt mir manchmal in der gesellschaftlichen Debatte." Manchmal klingt Linnemann, als wäre er Mitglied der FDP.

Er studierte VWL in Chemnitz und wurde Assistent des damaligen Deutsche-Bank-Chefökonomen Norbert Walter. Dann wechselte er zur IKB, die in der Finanzkrise noch vor Lehman Brothers zusammenbrach. Linnemann beschloss, in die Politik zu gehen. Und er arbeitet bis heute hart an seinem Aufstieg. Seine Arbeitstage beginnen in der Regel um 8 Uhr und enden selten vor 22 Uhr. In seinem digitalen Kalender stapeln sich die blauen und grünen Kästchen, die jeweils für einen Termin stehen.

Vieles geht bei Linnemann sehr schnell

Nun macht sich Linnemann auf ins Büro. Er absolviert eine telefonische Bürgersprechstunde, hört sich geduldig all den Corona-Frust an und verspricht Unterstützung.

Anschließend redigiert er ein Interview, das er einer Sport-Nachrichtenagentur gegeben hat. Es geht um die Zukunft der Bundesliga. Linnemann sucht eine andere Formulierung für den Begriff "mittelfristig", er ruft einen Mitarbeiter zur Unterstützung, der junge Mann überlegt. Zu lange, findet Linnemann. Er formuliert den Satz kurzerhand um.

Vieles geht bei Carsten Linnemann zügig, sehr zügig sogar: Er spricht schnell, er schreibt schnell, er läuft schnell. Manchmal geht er nur joggen, weil ihm in irgendeiner Verhandlung wieder so langweilig war, dass er lauter Schnittchen vertilgt hat.

Und eigentlich würde Linnemann auch gern politisch vorankommen. In seinem Büro steht die Zukunft schon im Regal: Die Bücher tragen Titel wie "Deutschland 2030" oder "Die machen eh, was sie wollen. Wut, Frust, Unbehagen – Politik muss besser werden." Letzteres ist sein eigenes Werk. Er schreibt darin über CDU und SPD, sie hätten in der großen Koalition "dramatisch an Profil verloren, und dieses Profil gilt es jetzt wieder zu schärfen."

Risiken eingehen, passt das zu Linnemann?

Man könnte das Buch als Linnemanns Bewerbung für eine Kanzlerkandidatur lesen. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg mit zahlreichen Unwägbarkeiten. Und am Ende muss man das als Politiker wollen – und auch mal Risiken eingehen. Passt das zu Carsten Linnemann?

Wenige Tage nach der telefonischen Bürgersprechstunde schreibt er mit dem Chef der Jungen Union, Tilman Kuban, einen Gastbeitrag für die "Welt". Das Plädoyer für einen "modernen Konservatismus" sollte eine konservative Kampfansage ans linke Lager der Partei werden. Friedrich Merz hätte das wohl bis zum Abdruck geheim gehalten, um die CDU-Liberalen zu überraschen. Doch Carsten Linnemann ging lieber auf Nummer sicher: Er schickte den Text vorher an Armin Laschet.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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