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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Datenschutzaktivist klagt EU testet Lügendetektor und mauert zu Bedenken
Die EU lässt einen möglichen Lügendetektor-Einsatz an den Grenzen erforschen. Eine Studie zu ethischen Fragen des Vorhabens iBorderCtrl hält sie aber verschlossen. Piratenpolitiker Patrick Breyer will deshalb klagen.
Reisende, die sich vor der Reise in die EU an den Computer setzen und mit einem digitalen Beamten reden, dessen Software in der Gesichtsmuskulatur nach Hinweisen auf eine Lüge sucht: Das lässt die EU im Rahmen eines Forschungsvorhabens testen. Lügendetektortests sind jedoch nach Ansicht vieler Experten kein taugliches Mittel.
Deshalb könnte es spannend sein, was die begleitende Untersuchung der ethischen Fragen rund um das Thema ergibt. Doch die Ergebnisse genau dieser Untersuchung will die EU nicht öffentlich machen. Die Exekutivagentur für Forschung der Kommission (REA) hat einen Antrag abgelehnt, die Informationen dazu herauszugeben.
Die REA verweist darauf, dass das die kommerziellen Interessen von Projektpartnern verletzen könnte. Eine Veröffentlichung verschaffe Konkurrenzunternehmen einen Vorteil.
Der Bürgerrechtler und Datenschutzaktivist Patrick Breyer will sich damit nicht abfinden. Der Piratenpolitiker, den die "Süddeutsche" nach diversen Prozessen den "Endgegner des Überwachungsstaates" genannt hat, wird auf Herausgabe klagen. Er fürchtet eine "Orwell`sche Technologie", wie er im Interview sagt.
Künstliche Intellegenz sortiert an der Grenze vor
Was bei dem mit 4,5 Millionen Euro und Unterstützung an den Grenzen geförderten Forschungsvorhaben erprobt wird, bedeutet nicht weniger als eine Revolution der Grenzkontrollen. Künstliche Intelligenz sortiert, wer als möglicher illegaler Einwanderer, Krimineller oder Terrorist gezielt befragt werden soll und wer als unverdächtig gilt und deshalb schneller einreisen kann.
Dazu dienen Informationen aus den Social-Media-Profilen, und Einreisewillige stellen sich vorab einer Befragung vor einer Web-Kamera. Das soll ein "smarter Lügendetektor" sein. Wenn der Befragte dem virtuellen Grenzbeamten am Bildschirm nicht wahrheitsgemäß antwortet, sollen das Mikro-Bewegungen der Gesichtsmuskeln verraten. Rund 40 Merkmale werden dabei untersucht.
Doch bei vielen Wissenschaftler schrillen beim Thema Lügendetektor die Alarmglocken. "Es gibt keinerlei wissenschaftliche Grundlage für die jetzt verwendeten Methoden", sagte Bruno Verschuere, Professor für forensische Psychologie an der Universität von Amsterdam der niederländischen Zeitung "Volkskrant".
Mikroausdrücke im Gesicht nicht aussagekräftig?
Nicht-verbale Signale wie Mikroausdrücke sagten überhaupt nichts darüber aus, ob jemand lüge oder nicht, so Verschuere.
Die Berlinerin Dr. Vera Wilde, die 2014 an der University of Virginia ihre Dissertation über Lügendetektoren geschrieben hat, bekräftigt das: "Es gibt absolut keine wissenschaftliche Grundlage für die Behauptung, dass es einzigartige 'Biomarker des Betrugs' gibt oder sie nach Jahrhunderten der Suche danach noch entdeckt werden." Die explizit und konsequent wiederholte Behauptung sei zentral für das Projekt, aber eben falsch.
Bislang sei bereits die Ungenauigkeit beim Erkennen von Mikroausdrücken hoch, bei der Interpretation verstärke sich das Problem noch einmal. Die iBorderCTRL-Forscher sprachen bei einem Test an 30 Mitarbeitern von einer Erfolgsquote bei 76 Prozent unter Laborbedingungen.
Es sei nicht transparent, wie dieser Wert zustande gekommen ist und wieso in Realbedingungen ein höherer Wert erwartet wird, so Wilde. Die Wissenschaftler aus Manchester, die im Rahmen von iBorderCTRL zum Videolügendetektor AADS forschen, steckten zugleich hinter einem Startup, das die Technik vermarkten wolle.
Testläufe an vier Grenzübergängen
Patrick Breyer fürchtet, dass für gestresste, nervöse, auffällig angezogene oder müde Menschen solche Risikoanalysesysteme schnell zum Alptraum werden könnten. Sie diskriminierten Nicht-Durchschnittsmenschen wie Angehörige von Minderheiten oder kranke Menschen. "Wohl aus diesem Grund hat ein Ethik-Berater das Lügendetektor-Projekt unter die Lupe genommen."
An vier Grenzübergängen in Griechenland, Lettland und Ungarn haben Testläufe begonnen. "Sie sind aber nur eine Simulation, es gibt keine Wirkung für die Teilnehmenden, und die Teilnahme ist freiwillig", sagt die Professorin Tina Krügel, Leiterin des Instituts für Rechtsinformatik der Leibniz Universität Hannover zu t-online.de.
Das Institut untersucht bei dem Forschungsvorhaben die Fragen der rechtlichen Rahmenbedingungen – auch für den Fall, dass diese oder ein ähnliches System einmal operativ eingesetzt werden sollte.
Beteiligte Juristin: "Nur Forschungsprojekt"
Doch bis dahin sei es noch ein weiter Weg: Es gebe nicht einmal Bestrebungen, durch nötige Gesetzesänderungen den regulären Einsatz zu ermöglichen. "Ein Teil der Funktionalitäten ist durch die derzeit verfügbaren Rechtsgrundlagen nicht abgedeckt", sagt Krügel.
"Und selbst wenn Gesetzesänderungen angestrebt würden, müsste ein solches Gesetz die demokratischen Institutionen mit einer hoffentlich dann stattfindenden intensiven interdisziplinären Diskussion durchlaufen." Das sei bisher in der Öffentlichkeit untergegangen. "iBorderCtrl ist nichts weiter als ein Forschungsprojekt, das Möglichkeiten und Potentiale erschließen und auch deren Grenzen aufzeigen soll."
Aber trägt das Zurückhalten der Forschungsergebnisse nicht zu Misstrauen bei? Die EU verweist auf die Rechte der beteiligten Firmen. "European Dynamics" in Luxemburg, Anbieter von Soft- und Hardware-Lösungen für Verwaltungen und bei iBorderCtrl federführend, beantwortet mehrere Anfragen von t-online.de überhaupt nicht.
Breitere Debatte bisher nur in der Wissenschaft
Ob ein solches Vorgehen Vorbehalte wachsen lasse, hängt aus Sicht von Krügel "wohl davon ab, wie misstrauisch Menschen gegenüber öffentlichen Institutionen sein wollen". Sie will die Verweigerung nicht kommentieren, das Gutachten herauszugeben. "Das wird durch die REA beurteilt, nicht durch uns."
Sie wünsche sich jedoch eine breitere Debatte: "Die Frage, ob und eventuell unter welchen Bedingungen Technologien wie Künstliche Intelligenz an der Grenze, bei der Polizei, oder auch in anderen Bereichen eingesetzt werden soll, und wie wir uns unser Leben in Zeiten künstlicher Intelligenz vorstellen, wird zurzeit vorwiegend im wissenschaftlichen Kontext diskutiert." Das reiche inbesondere vor dem Hintergrund der Vorbehalte nicht.
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Wenn dazu öffentlich finanziert geforscht werde durch unabhängige Universitäten und Forschungseinrichtungen, dann sei zumindest sichergestellt, dass auch die rechtlichen und ethischen Herausforderungen ergebnisoffen bereits bei der Entwicklung berücksichtigt würden.
Breyer beklagt, dass diese Erkenntnisse von der EU aber ebenso unter Verschluss gehalten werden wie die aus Steuergeldern finanzierte "Strategie zur Öffentlichkeitsarbeit" für das Projekt. Deshalb habe er Klage eingereicht (Az. T-158/19).
Anm. d. Red.: Der Text ist mit der Information aktualisiert, dass die Klage bereits eingereicht ist.