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Historiker über die CDU: "Es gibt eine Sehnsucht nach konservativer Politik"


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Historiker Andreas Rödder
"Es gibt eine Sehnsucht nach konservativer Politik"

InterviewEin Interview von Marc von Lüpke

Aktualisiert am 13.12.2018Lesedauer: 8 Min.
Hoffnungsträger der Konservativen: Friedrich MerzVergrößern des Bildes
Hoffnungsträger der Konservativen: Friedrich Merz (Quelle: Christoph Soeder/dpa)
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Braucht Deutschland noch eine konservative Partei? Sehr dringend sogar, sagt der Historiker Andreas Rödder. Ein Gespräch über Konservatismus, die Ära Merkel und deutschen Hochmut.

Die CDU hat mit Annegret Kramp-Karrenbauer eine neue Vorsitzende, die Herausforderungen sind groß. Die größte deutsche Partei ist gespalten, dabei braucht Europa eine handlungsfähige Bundesregierung. Im Gespräch erklärt der Historiker Andreas Rödder, welche Gefahren der CDU nun drohen, was von der Ära Merkel bleiben wird und warum Deutschland dringend seinen Hochmut gegenüber den europäischen Nachbarn ablegen sollte.

t-online.de: Professor Rödder, Annegret Kramp-Karrenbauer ist die neue Vorsitzende der CDU. Bedeutet ihre Wahl Hoffnung für die Christdemokraten oder einen weiteren Schritt zum Niedergang der Volkspartei CDU?

Andreas Rödder: Hoffnung für die CDU gibt es immer, unweigerlich ist gar nichts. Der ganze Wahlkampf hat doch erfreulicherweise gezeigt, wie viel Lebendigkeit trotz der bleiernen Schwere der letzten Jahre noch in der Partei vorhanden ist.

Der Parteitag in Hamburg hat allerdings ebenso offenbart, dass die Partei gespalten ist. 52 Prozent der Delegierten stimmten für Kramp-Karrenbauer, rund 48 Prozent für ihren Konkurrenten Friedrich Merz.

Richtig, die CDU ist gespalten. Sie besteht im Grunde aus zwei gleich großen Lagern. Für Kramp-Karrenbauer besteht die große Aufgabe darin, die enttäuschten Mitglieder für sich zu gewinnen. Oder zumindest in der Partei zu halten.

Gehören Sie auch zu den Enttäuschten?

Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass meine Unterstützung im Wahlkampf Friedrich Merz gehörte.

Warum Merz?

Abgesehen von seiner Weltläufigkeit und seinem Charisma hätte ich von Merz eine stärkere liberal-konservative Profilierung der CDU erwartet. Das würde sowohl der CDU als auch der Demokratie zum Vorteil gereichen. Wenn die CDU die rechte Mitte wieder breiter abbildet, bekäme auf der einen Seite die SPD wieder Luft zum Atmen. Und auf der anderen Seite könnte die Union die Repräsentationslücke schließen, in die die AfD eingeströmt ist. Ich persönlich wünsche mir unterscheidbare Volksparteien, die den politischen Meinungsstreit in die Mitte des Spektrums zurückholen.

Andreas Rödder, geboren 1967, lehrt Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Der Historiker ist Mitglied der CDU, sein neuestes Buch "Wer hat Angst vor Deutschland?" ist kürzlich erschienen.
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Hat die neue CDU-Vorsitzende überhaupt realisiert, wie sehr ihre Partei gespalten ist? Immerhin sieht Kramp-Karrenbauer laut eigener Aussage in ihrer Wahl den Beleg, dass die Partei grundsätzlich "so bleiben will wie sie ist."

Das Wahlergebnis ist ganz sicher kein Manifest des "Weiter so". Im Gegenteil, ein derartiges Weitermachen würde die Spaltung der Partei noch vertiefen. Viele Anhänger haben Hoffnungen auf eine andere CDU nach Angela Merkel gehegt. Diese Menschen sind am vergangenen Freitag erheblich enttäuscht worden. Gerade in dieser Hinsicht ist diese Aussage von Kramp-Karrenbauer ziemlich riskant.

Braucht Deutschland überhaupt noch eine konservative Partei?

Sehr dringend sogar.

Warum?

Konservatismus wird oft falsch verstanden. Er ist keine Weltanschauung fixer und starrer Inhalte, sondern eine Haltung zum politischen, gesellschaftlichen und technologischen Wandel. Der Konservative lehnt diesen Wandel keineswegs ab, er will ihn aber verlangsamen und für die Menschen verträglich gestalten.

Dem fortschrittlichen Liberalen kann der Wandel also nicht schnell genug gehen, dem Konservativen gar nicht langsam genug?

Ich drücke es salopp aus: Der Konservative sieht immer das Preisschild, das am Fortschritt klebt. Etwas, was der Liberale bisweilen übersieht. Erinnern Sie sich an die Werbung der FDP im letzten Bundestagswahlkampf: "Digitalisierung first, Bedenken second". Der Konservative würde es anders formulieren: "Bedenken first, Digitalisierung second". Wenn Sie zwischen "Be" und "Denken" noch einen Bindestrich setzen, wird auch deutlich, dass man grundsätzlich erst nachdenken sollte, bevor man ohne weitere Rücksicht auf die möglichen Folgen handelt.

Was unterscheidet den Konservativen von Traditionalisten und Rechtspopulisten? Auch diese sehen Wandel kritisch.

Der Traditionalist will, dass alles so bleibt wie es ist. Was aber natürlich eine Illusion ist. Noch schlimmer ist der Reaktionär, eine Überzeugung, die viele Rechtspopulisten teilen. Er will einen imaginierten früheren Zustand wieder herbeiführen. Der Konservative weiß hingegen, dass sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen lässt. Er will den unvermeidlichen Wandel zum Wohle der Menschen gestalten. Und das ist ein erheblicher Unterschied.

Den Wandel verträglich zu gestalten – eigentlich müsste das Wählerpotenzial bei den rasanten gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen doch enorm sein. Warum bietet niemand dem Konservatismus eine politische Heimat?

Weil sich die CDU unter Angela Merkel dem rot-grünen Mainstream angepasst hat. Und weil es dem modernen zukunftsfähigen Konservatismus derzeit an sichtbaren Vertretern fehlt. Zugleich gibt es aber eine große Sehnsucht unter den Menschen nach einer konservativen Politik. Die Menschen wollen Orientierung. Nehmen Sie den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, er hat gerade ein Buch darüber veröffentlicht.

Wie verorten Sie sich politisch?

Ich selbst bezeichne mich als liberalen Konservativen. Echte Konservative sind fröhliche Skeptiker, und für sie gibt es keinen Grund, verzweifelt zu sein.

Die CDU hat nun unter ihrer neuen Führung die Gelegenheit, sich wieder ein konservativeres Profil zu geben. Trauen Sie dies Annegret Kramp-Karrenbauer zu? Oder könnten sich Konservative in der Partei abspalten?

Alles hängt sehr von den politischen Entscheidungen ab, die nun getroffen werden. Wenn die neue Parteichefin auf die Enttäuschten zugeht und sie erfolgreich integriert, hat die Partei gute Aussichten für die Zukunft. Wenn nicht, halte ich Spaltungstendenzen für nicht unmöglich. Helmut Kohl wäre ein Vorbild für diese Situation. Seine große Stärke war es, so unterschiedliche Vertreter der Parteiflügel wie Norbert Blüm und Rita Süssmuth auf der einen Seite und Gerhard Stoltenberg und Manfred Kanther auf der anderen Seite an einem Tisch vereinen zu können.

Allerdings ist in der näheren Zukunft wenig zu verteilen. Alle Regierungsposten sind besetzt, auf dem Parteitag wurden auch alle Ämter in der CDU neu verteilt.

Das ist richtig. Aber ich rate sehr dazu, Annegret Kramp-Karrenbauer nicht zu unterschätzen. Vor allem nicht ihre Lernfähigkeit. Im Saarland hat sie bereits bewiesen, dass sie die unterschiedlichen Strömungen in der Partei inhaltlich gut integrieren kann. Besser als es Angela Merkel vermochte.

Trotzdem bestehen zwischen ihr und ihrem Konkurrenten Friedrich Merz große Unterschiede.

Die Delegierten in Hamburg haben sich mit Kramp-Karrenbauer für Bodenständigkeit und Volksnähe entschieden. Das sind ihre großen Stärken. Allerdings entschieden sie sich damit auch gegen die souveräne Weltläufigkeit, strategische Kompetenz und Führungsstärke eines Friedrich Merz. Damit eröffnet sich das Problem einer Provinzialisierung der CDU. Und das ist eine echte Gefahr. Die Partei ist gut beraten, Merz in Zukunft einzubinden.

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Sie loben Friedrich Merz, zugleich kommt das Ende seiner einstigen Kontrahentin näher. Was wird einst in den Geschichtsbüchern über Angela Merkel stehen? Außer dass sie die erste Bundeskanzlerin gewesen ist.

Es ist ein paradoxes Erbe, das Merkel hinterlässt. Einerseits hat sie als Krisenmanagerin permanent versucht, das Zerbrechen der europäischen Institutionen zu verhindern. Andererseits wird sie Europa, die deutsche Gesellschaft und auch die CDU gespalten hinterlassen.

In vielen Teilen der Welt wird Merkel als politische Autorität angesehen.

Das ist richtig. Ehrlicherweise muss man eingestehen, dass Merkels außenpolitisches Renommee aber auch daher rührt, dass sie einen positiven Konterpart zu den unberechenbaren und hysterischen Männern bildet, die die Weltpolitik bevölkerten und bevölkern wie Silvio Berlusconi, Recep Tayyip Erdogan oder auch Nicolas Sarkozy.

Fraglos eine Leistung.

Sicher. Ich schätze ihr Krisenmanagement auch. Aber im Vergleich zu Emmanuel Macron wird Merkels Mangel an Strategie deutlich. Das ist die Kehrseite ihrer pragmatischen Unaufgeregtheit. Im Gegensatz zum französischen Präsidenten hat Merkel niemals eine europapolitische Perspektive entwickelt.

Halten Sie diese für notwendig? Viele Bürger wollen eher weniger als mehr Europa.

Nicht nur der Brexit macht eine innereuropäische Debatte notwendig. Vor allem in der konstruktiven Auseinandersetzung mit Macron. Es gibt keine klare Strategie, wo Europa eigentlich hin will. Es muss geklärt werden, wo es mehr Europa geben muss – und ebenso, wo es weniger Europa geben sollte.

Sollte Deutschland diese Diskussion anstoßen?

Ja. Das ist Teil der Führungsaufgabe Deutschlands in Europa.

In Europa herrscht großes Misstrauen gegenüber einem deutschen Führungsanspruch.

Eine Führungsmacht wird selten geliebt. Damit muss sie leben. Allerdings befindet sich Deutschland seit der Wiedervereinigung 1990 und dem Ende des Kalten Krieges in einem Dilemma: Einerseits wird von Deutschland Führung erwartet, andererseits wird eben diese immer wieder von den anderen europäischen Staaten als Vormachtstreben kritisiert.

Wie erklären Sie diesen Zwiespalt?

Das Dilemma liegt bereits in der geopolitischen Lage Deutschlands in der Mitte des Kontinentes begründet. Deutschland hat mehr Nachbarn als andere europäische Staaten und entsprechend mehr kriegerische und gewalttätige Konflikte mit ihnen geführt.

Spielt nicht auch die Geschichte der Staatswerdung Deutschlands eine Rolle?

Absolut. In Frankreich entstand zum Beispiel zuerst der Staat, erst später das Bewusstsein, eine Nation zu sein. Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Idee der Nation wirklich virulent wurde, existierte allerdings kein deutscher Nationalstaat. Deswegen hat man sich behelfsweise als "Kulturnation" verstanden – der von Anfang an eine gewisse Überheblichkeit gegenüber den anderen europäischen Nationen anhaftete. Die Deutschen waren angeblich aufrichtig, gottesfürchtig, fleißig, tapfer, ernst, ganz im Gegensatz zur vermeintlichen Oberflächlichkeit der Franzosen oder dem Materialismus der Engländer. Das kulminierte dann alles in der Rassenideologie der Nazis, wie in der angeblichen ethnischen Minderwertigkeit beispielsweise der Slawen.

Wird den Deutschen heute nicht immer noch eine gewisse Überheblichkeit nachgesagt?

Ja, und nicht zu Unrecht. Die Inhalte des deutschen Selbstverständnisses haben sich nach 1945 radikal gewandelt. Heute sind es unter anderem Zivilgesellschaft und Friedenskultur. Aber auch in diesen Bereichen verhalten wir uns unseren Nachbarn gegenüber hochmütig, indem wir glauben, dass wir auch diese gesellschaftlichen Tugenden besser als die anderen praktizieren. Zu keinem Zeitpunkt hat sich das deutlicher manifestiert als in der Flüchtlingskrise 2015.

Bitte erklären Sie das näher. Die deutsche Motivation entsprang doch zutiefst humanitären Beweggründen.

Richtig, die Willkommenskultur war eine menschliche Geste. Zugleich hatte sie aber auch eine Tendenz, sich Ländern überlegen zu fühlen, die nicht oder kaum Flüchtlinge aufnahmen. Das gilt für Ungarn, Polen und Österreich, selbst Frankreich gegenüber. Das hat bei den europäischen Nachbarn Erinnerungen an das alte Stereotyp der deutschen Sprunghaftigkeit geweckt.

Ist Kritik aber an Staaten wie Polen oder Ungarn nicht berechtigt? Rechtsstaat und Pressefreiheit sind dort gefährdet.

Selbstverständlich. Es ist wichtig klarzustellen, dass wir in Europa gewisse Standards haben, die alle Staaten als allgemeingültig akzeptiert haben. Wie die Unabhängigkeit der Justiz oder auch die Pressefreiheit. Aber die pauschale Überheblichkeit, mit der wir Polen oder Ungarn kritisieren, ist überhaupt nicht hilfreich.

Was schlagen Sie vor?

Wir brauchen in Europa größere gegenseitige Empathie. Das gilt für alle Seiten. So auch für viele Griechen, die davon ausgehen, dass sämtliche ökonomische Schwierigkeiten ihres Landes aus der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg resultieren. Und auch für manche Italiener, die der Meinung sind, dass die Deutschen Schuld daran tragen, wenn in Genua eine Brücke zusammenbricht. Vor allem gilt es aber für die Deutschen, die sich wahlweise als Zahlmeister Europas sehen, an anderer Stelle aber den anderen Ländern vorhalten, dass sie nicht die moralische Reife hätten, Flüchtlinge in dem Maß aufzunehmen, wie sie das selbst tun und für richtig halten.


Das dürfte ein schwieriger Weg werden. Wie soll es gelingen?

Im Grunde bräuchte es tatsächlich etwas wie eine Gruppentherapie. Die Europäer kommen zusammen und erzählen sich gegenseitig die Geschichte ihres Landes. Und wie sie die jeweilig andere Nation sehen. Selbstbild und Fremdwahrnehmung treffen so aufeinander.

Faktisch läuft es auf mehr Verständnis hinaus.

Richtig, nennen Sie es empathischen Realismus. Gerade auf politischer Ebene sollte viel mehr die Wahrnehmung der betreffenden Staaten ins eigene Kalkül berücksichtigt werden. Wir sollten uns zum Beispiel nicht über die Ungarn moralisch erheben, sondern zunächst fragen, warum sie so handeln. Zugleich darf man aber nicht die notwendigen Entscheidungen versäumen. Die deutsche Frage in Europa ist und bleibt ein Balance-Problem.

Winston Churchill wird das Zitat zugeschrieben: "Man hat die Deutschen entweder an der Gurgel oder zu Füßen." Brauchen wir Deutschen vielleicht tatsächlich eine Therapie?

Man muss Nationen nicht bis zur letzten Sitzung austherapieren. Wichtig ist, dass Europa politisch handlungsfähig ist. Und die Deutschen müssen, ob sie wollen oder nicht, eine entsprechende Führungsrolle einnehmen. Wichtig ist, die Nachbarn dabei mitzunehmen. Mit Empathie und Realismus, beidem zusammen, kann man recht weit kommen.

Professor Rödder, wir danken für das Gespräch.

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