Die subjektive Sicht zweier Autoren auf ein Thema. Niemand muss diese Meinungen übernehmen, aber sie können zum Nachdenken anregen.
Debatte um Corona-Amnestie Das ist geradezu lächerlich
Die Pandemie-Regeln beschäftigen Deutschland auch lange nach ihrem Ende. Nun fordert ein Politiker die Corona-Amnestie.
Berlins Ex-Bürgermeister hat eine Idee: Er bringt eine Amnestie ins Spiel für Strafen, die während der Corona-Pandemie ausgesprochen wurden – beispielsweise für Menschen, die mit sechs statt der zwischenzeitlich erlaubten fünf Kontaktpersonen unterwegs waren. Das Land diskutiert mal wieder über die Pandemie:
Sollten Strafen aus der Corona-Zeit erlassen werden?
Zur Aufarbeitung gehört auch: Manches war Quatsch!
"Nein, ein Buch lesen auf einer Bank ist nicht erlaubt". Allein dieser Tweet der Münchner Polizei beweist: Michael Müller hat mit seiner Idee einer Corona-Amnestie absolut recht.
Der Tweet stammt vom 7. April 2020. Wir befanden uns mitten im Corona-Lockdown, arrangierten uns so gut es ging mit Homeoffice und Homeschooling, machten Zoom-Calls mit Oma und erklärten den Kindern, warum sie nicht mehr in die Kita gehen durften und das Fußballtraining ausfiel. "Nicht mal Lesen? Nicht mal allein?", dachte ich damals. Daran kann ich mich gut erinnern. Irre Zeiten, schaut man zurück. Die meisten von uns haben dennoch nach Kräften versucht, sich solidarisch und verantwortungsvoll zu verhalten.
Wir haben trotzdem nicht alles richtig gemacht. Wir alle nicht. Meine Frau, meine Kinder und ich haben – jawohl – befreundete Familien getroffen, weil sich die Kids so jämmerlich gelangweilt haben. Wissenschaftler haben sich früh sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Die Politik hat Beschränkungen beschlossen, die teilweise – teilweise (!) – dem Virus weniger geschadet haben als den Grundrechten derer, die sie schützen wollten. Und die Behörden haben bei der Verfolgung von Zuwiderhandlungen manchmal den Bogen überspannt.
Wenn Michael Müller nun den Gedanken einer Amnestie für besonders absurde Corona-Vergehen ins Spiel bringt, dann fällt mir dieser "Lesen verboten"-Tweet der Polizei München ein. Er war wirklich absurd, und so verstehe ich die Idee einer Amnestie für Corona-Vergehen.
Denn rückblickend war es eben kein Superspreading-Event, auf einer Bank in der Sonne ein Buch zu lesen. Und ob man sich zu fünft oder zu sechst zum Spaziergang getroffen hat, war eben egal. Manche Beschränkung hat sich in der Tat als Quatsch erwiesen. Manches harsche Urteil hat uns als Gesellschaft entzweit. Mancher Strafbefehl ist heute, was seine Verhältnismäßigkeit angeht, das Papier nicht wert, auf dem er ausgestellt ist.
Zur Aufarbeitung der Corona-Zeit gehört diese Erkenntnis dazu. Nicht, um mit dem Finger auf die zu zeigen, die damals übers Ziel hinausgeschossen sind. Kein Politiker, kein Wissenschaftler und erst recht kein Polizist hat wirklich gewusst, was richtig und falsch ist. "Wir werden einander viel verzeihen müssen", hat Jens Spahn während der Pandemie schon gesagt, und er hat recht behalten.
Noch können wir manche Fehler beheben. Wer beim Besuch seiner Liebsten erwischt wurde, die er bitter vermisste, wer Kranken Gesellschaft leistete und wer verflixt noch mal ein Buch las im Park, weil ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, dem lasst uns das verzeihen. Nach klaren juristischen Kriterien.
Nein, das wäre inkonsequent und kurzsichtig
Wenn wir von Amnestie sprechen, geht es oft um die großen Ungerechtigkeiten. In Deutschland gibt es mehrere Beispiele für Amnestien. Eine davon betraf politisch Inhaftierte in der ehemaligen DDR – 17.000 Menschen wurden dadurch endgültig auch juristisch von den Überresten des Unrechtsstaates befreit. Diese Amnestie war ein Akt der Gerechtigkeit.
Vor diesem historischen Hintergrund wirkt Michael Müllers Idee geradezu lächerlich. Eine Amnestie für Regelverstöße während der Corona-Zeit – warum eigentlich, und für wen? Wir sprechen bei der Bundesrepublik der Jahre 2020 bis 2022 nicht von einem DDR-gleichen Unrechtsstaat. Wer gegen die Regeln verstieß, wurde nicht aus politischen Gründen inhaftiert, sondern bekam in den allermeisten Fällen eine Verwarnung oder ein Bußgeld – auch, wenn sich einige von ihnen das im trotzigen Bewusstsein ihrer vermeintlich heldenhaften Rebellion gegen "die da oben" anders einreden mögen.
Was Michael Müller hier tut – bewusst oder unbewusst – ist klar: Seit Wochen schwappt eine Welle der Corona-Revision durch das politische Land, ein "Vielleicht war das Virus gar nicht so schlimm". Müller will diese Welle reiten. Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, wie nachhaltig das Virus tatsächlich Schaden anrichten konnte: Mehr als 180.000 Corona-Tote gab es in Deutschland seit März 2020, Spitzensportler wie Lewis Hamilton brauchten nach einer Corona-Infektion Monate, bevor sie sich wieder auf einen leistungsfähigen Körper verlassen konnten. Viele leiden noch heute an den Spätfolgen
Es ist einfach, heute auf einzelne Regelungen zu zeigen und festzustellen, dass man anders hätte vorgehen können. Nur: Man wusste in vielen Fällen damals nicht, was man heute weiß. Der Kampf gegen ein bis dahin unbekanntes Virus bedeutete, dass die Verantwortlichen gewissermaßen auf Sicht fahren mussten. Regeln, die in dieser Zeit galten, waren unter diesen Umständen durchaus sinnvoll, auch wenn sie selbstverständlich ihre absurden Ausschläge hatten, wie beispielsweise Strafen für sechs- statt fünfköpfige Spaziergruppen.
Doch wer es nicht schafft, sich im Angesicht eines tödlichen Virus solidarisch zu verhalten, der muss die Konsequenzen tragen – noch mal, wir reden hier nicht von jahrelangen Haftstrafen, sondern von Strafzetteln und Verwarnungen. Die Idee einer Corona-Amnestie ist inkonsequent und kurzsichtig. Denn auch in der nächsten Pandemie, die laut Experten nur eine Frage der Zeit ist, muss klar sein, was gilt und was nicht. Ein Aufweichen dieses Prinzips heute schwächt die Autorität des Rechtsstaates in der Zukunft.
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