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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Asylklagen vor Gericht "Ich rate jedem Mandanten: Heirate, krieg Kinder!"
Die Politik will Asylklagen in nur drei Monaten abschließen. Doch davon sind die Gerichte weit entfernt. Woran liegt das? Ein Besuch.
Avan U.* hält die Arme vor der Brust gekreuzt, den Kopf gesenkt. Über der weißen Tischplatte wirkt sein Körper ruhig. Unter dem Tisch aber sind die Füße des 19-Jährigen ständig in Bewegung. Seine Knie und Fersen wippen nervös von oben nach unten, halten nie still.
Grund für die Unruhe des jungen Mannes sind Laura Anderl und ihr Diktiergerät. Die Richterin trägt schwarze Robe, Brille, kleine Creolen in den Ohren, die Haare im Nacken zum Zopf gebunden. Wann immer Anderl eine Frage an den jungen Mann richtet, beschleunigen sich seine Füße unter dem Tisch. Und Anderl nimmt ihren Job ernst, sie hat viele Fragen.
"Warum haben Sie die Türkei verlassen?"
"In welchen finanziellen Problemen steckte Ihre Familie genau?"
"Warum hatten Sie Angst?"
Die Antworten des jungen Mannes und was Anderl von ihnen hält, sind heute entscheidend für seine Zukunft. Avan U. ist Kurde aus der Türkei, im Herbst 2022 kam er nach Deutschland. Seinen Antrag auf Asyl hat das Bundesamt für Migration abgelehnt. Er klagte dagegen, will bleiben – deswegen sitzt er nun vor Anderl. Auf seiner linken Seite sitzt eine Dolmetscherin, auf der rechten eine Anwältin, hinter ihm eine Betreuerin aus seinem Heim.
Für Avan U. hängt vom Urteil der Richterin sein weiteres Leben ab: Darf er bleiben? Soll er Deutschland verlassen?
Für Richterin Anderl ist es ein üblicher Arbeitstag: Drei Fälle will sie heute mündlich verhandeln, alle Kläger stammen aus der Türkei. Die Taktung ist eng, auf Bildschirmen in den Gängen des Gerichts werden Anderls Termine digital angeschlagen: 9.15 Uhr, 10.30 Uhr, 12.40 Uhr. Verhandlungen im Akkord.
Das ist keine Seltenheit: Die Zahl der Asylklagen an deutschen Verwaltungsgerichten ist hoch, die Akten stapeln sich. In Berlin arbeiten am Verwaltungsgericht rund 130 Richter, sie alle übernehmen Asylverfahren. Der Anteil beträgt laut einem Sprecher schon jetzt 40 Prozent – Tendenz steigend. Fälle zu Beamten-, Straßenverkehrs-, Tierschutz- oder Versammlungsrecht sind zur Nebensache geworden.
Trotzdem kommen die Richter nicht hinterher. Rund 6.000 Asylklagen sind im Jahr 2022 in Berlin eingegangen, sogar 7.700 haben die Richter erledigt. Und doch blieben mehr als 7.000 weitere Verfahren offen – oder "anhängig", wie es in der Gerichtssprache heißt. Grund sind vor allem Altlasten, die das Gericht seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 vor sich herschiebt.
Der Politik aber geht alles nicht schnell genug. Sie hat den Druck in den vergangenen Monaten erhöht. Denn es gibt eine neue Migrationskrise, in der Bevölkerung ist die Stimmung rau. CDU und AfD wüten, die Ampel fürchtet um ihre Zustimmungswerte. Deshalb fordern die Bundesregierung und die Ministerpräsidentenkonferenz: so schnell wie möglich soll raus aus dem Land, wer keine Chance auf Asyl hat.
Drei Monate, dann sollen eher aussichtslose Asylverfahren final geklärt sein – so verlangt es die Politik.
Im Schnitt zwei Jahre und drei Monate, bis ein Asylverfahren erledigt ist – so sieht die Realität am Verwaltungsgericht Berlin aus.
Wie kann das sein?
Wer dieser Frage nachgeht, stößt auf ein System, das schon lange am Limit arbeitet. Auf Richter, die ihren Job trotzdem gewissenhaft machen. Auf Kläger, die nach jedem Strohhalm greifen. Und auf Anwälte, die das System und die Notlage ihrer Mandanten zu ihrem eigenen Vorteil nutzen.
"Ich hatte Angst vor diesem Mann"
9.15 Uhr, Verhandlungssaal 4.102. 75 Minuten wird Avan U.s mündliche Verhandlung dauern. Sie findet im Dreieck statt: Richterin Anderl richtet ihre Fragen an die Dolmetscherin, die blickt zu Avan U. und übersetzt auf Türkisch. Avan U. antwortet der Dolmetscherin, die blickt zu Anderl und übersetzt zurück ins Deutsche.
Avan U. erzählt, dass seine Familie in finanzielle Schwierigkeiten geriet, weil die Mutter krank wurde und mehrfach operiert werden musste. Er habe die Schule im Abschlussjahr abgebrochen, um in einer Fabrik Geld zu verdienen. Dort habe ihn ein Kollege angesprochen, der ihn für den Kampf der kurdischen Untergrundorganisation PKK in den Bergen gewinnen wollte. "Ich hatte Angst vor diesem Mann", übersetzt die Dolmetscherin.
Das Telefon im Verhandlungssaal unterbricht Avan U. mit einem lauten Klingeln. Anderl steht auf, hebt ab: "Ich habe schon Sitzung, ich melde mich später", sagt sie. Die Zeit ist knapp.
Nach einem Signal der Dolmetscherin fährt Avan U. fort: Er habe Angst gehabt, zu enden wie der Cousin seines Vaters. Der sei in die Berge zur PKK gebracht worden, beunruhigende Nachrichten hätten die Familie von dort immer wieder erreicht, bis hin zur letzten: Der Cousin sei tot.
"Ich wollte nicht denselben Weg gehen", sagt Avan U. Auch für das türkische Militär habe er nicht kämpfen wollen, das gegen Kurden vorgehe. Einen Musterungsbescheid habe er schon erhalten.
"Deswegen bin ich geflüchtet."
Anderl fragt nach:
Wie lange dauerte das Gespräch in der Fabrik?
15 bis 20 Minuten.
Ob der Mann ihn nochmals angesprochen habe?
Nein, er habe die Arbeit ja eine Woche darauf niedergelegt.
Wie er für seine Ausreise bezahlt habe, wenn die Familie doch Geldprobleme gehabt habe?
Der Vater habe bezahlt, von Geld und Gold, das die Familie zur Beschneidungsfeier seines Bruders erhalten habe.
Er habe angegeben, dass die Familie eine Eigentumswohnung gekauft habe. Wovon?
Zum Teil über Kredite, zum Teil vom Geld für die Beschneidungsfeier.
Anderl hakt zu den Fluchtgründen wie zur finanziellen Lage der Familie mehrfach nach. Sie schreibt mit der Hand mit, fasst das Gesagte in Etappen zusammen und spricht es in ihr Diktiergerät. Die Dolmetscherin übersetzt.
"Soweit korrekt?", fragt Anderl. Der junge Mann nickt, nur einmal korrigiert er Anderls Zusammenfassung bei der Dolmetscherin in einem Detail.
Am Ende fragt Avan U.s Anwältin ihn kurz noch einmal nach der Musterung, warum er nicht eingezogen werden wolle. "Ich bin gegen jede Form von Kriegen", führt er aus.
Um 10.20 Uhr zieht Richterin Anderl ihre erste Bilanz. Sie habe vorab recherchiert: Es gebe vereinzelt Berichte, dass jugendliche Kurden von der PKK zwangsrekrutiert würden – das aber passiere in anderen Regionen. In der Breite sei das nicht üblich. Avan U. hätte die Anfrage des Kollegen wohl ablehnen können, findet sie. Auch der Musterungsbescheid sei noch keine Einberufung – und auch davon könne man sich in der Türkei freikaufen. Die Schilderungen zur finanziellen Lage der Familie seien "eher unglaubwürdig".
Sie werde heute nicht entscheiden, sich das Protokoll noch einmal ansehen, sagt Anderl. Doch die Richtung ist klar: Sie sehe hier eher keine Chance auf Erfolg, sagt die Richterin.
Um 10.28 Uhr beendet sie die Verhandlung. Avan U. und seine Anwältin greifen ihre Jacken vom Kleiderständer in der Ecke, verlassen schweigend den Raum.
Spitzenreiter bei Asylklagen: Türkei
Schon zwei Minuten später soll die nächste Verhandlung beginnen. Doch der Kläger erscheint nicht. Anderl hält sich an das Protokoll: Um 10.30 Uhr ruft sie ihn zum ersten Mal über die Mikrofone aus, um 10.45 Uhr zum zweiten Mal. Sie steht auf, schaut noch einmal vor der Tür nach.
Um 10.46 Uhr verkündet sie das Urteil: "Die Klage wird abgewiesen, der Kläger trägt die Kosten", sagt die Richterin. Ihre Vorbereitung für den Termin war umsonst.
Das ist nicht selten, immer wieder erscheinen Kläger nicht vor Gericht. Besonders oft passiert das in aussichtslosen Fällen. Und die gibt es am Verwaltungsgericht häufig – gerade auch mit Blick auf die Türkei.
Die Lage in dem Land hat sich in den vergangenen Monaten zwar verschärft. Erdoğans Regime tritt repressiv auf, diskriminiert Kurden sowie andere Minderheiten und schmeißt unliebsame Akademiker aus Universitäten und Behörden. Zudem ist die wirtschaftliche Lage schlecht, die Not in vielen Regionen seit dem zerstörerischen Erdbeben im Februar weiter gewachsen.
Immer mehr Menschen treibt das aus dem Land, hin nach Deutschland, wo die türkische Community stark ist. Inzwischen machen Menschen aus der Türkei die zweitgrößte Gruppe unter den Asylsuchenden in Deutschland aus, gleich hinter Syrern und noch vor Afghanen. Tendenz steigend.
Doch wer aus der Türkei hier Asyl will, muss nachweisen, dass er aus politischen oder anderen Gründen individuell verfolgt wird. Viele scheitern daran. 14 Prozent betrug die Gesamtschutzquote für Menschen aus der Türkei in diesem Jahr nur. Für Syrien liegt sie bei über 80 Prozent. Oft also lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asylanträge von Türken ab.
Das hat Folgen für die nachfolgende Instanz: 39 Kammern mit jeweils drei oder vier Richtern hat das Berliner Verwaltungsgericht – alle beschäftigen sich mit Asylklagen, nach Ländern unterteilt. Ab Januar 2024 werden zehn Kammern für die Türkei zuständig sein – Spitzenreiter. Erst danach folgen mit Abstand Syrien und Afghanistan.
Mit Blick auf anhaltende Herausforderungen wie diese hat der Deutsche Richterbund (DRB) klare Forderungen an die Politik: "Wer massive Verfahrensbeschleunigungen verspricht, muss auch in die Justiz investieren, will er keine falschen Erwartungen wecken", sagt Sven Rebehn, DRB-Bundesgeschäftsführer t-online. Ohne personelle Verstärkungen für die Verwaltungsgerichte werde es nicht gehen, wie in Berlin arbeiteten viele Gerichte noch Fälle aus 2016 und 2017 ab.
Der Anwalt schweigt
Manche Anwaltskanzlei aber schlägt aus dieser Situation gehörig Profit. Viele Fälle, wenig Arbeit, oft hilflose Mandanten, sichere Honorare – das lockt.
Zur dritten Verhandlung von Richterin Anderl erscheint an diesem Tag zunächst nur der Anwalt. Er trägt karierten Schal, Tweed-Anzug, Lederschuhe, die schwarzen Haare nach hinten gegelt. Mit seinem Mandanten hat er vorab nicht gesprochen, wie er einräumt. Ob Herr E. selbst erscheine? Der Anwalt weiß es nicht.
Doch Herr E. kommt. Er trägt eine grüne Winterjacke, legt sie nicht ab. Ohne ein Wort mit seinem Anwalt zu wechseln, nimmt er neben ihm Platz und antwortet auf Anderls Fragen, die Dolmetscherin übersetzt.
Auch Herr E. ist Kurde. Er gestikuliert heftig, während er erzählt, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Er erzählt: In der Türkei sei er Mitglied der Oppositionspartei HDP gewesen. Mehrfach sei er nach Veranstaltungen im Wahlkampf von der Polizei festgehalten und stundenlang verhört worden. Mit Pfefferspray sei man gegen Versammlungen vorgegangen, an denen er teilgenommen habe. Auch Hausbesuche habe es gegeben.
Schließlich habe er es nicht mehr ausgehalten und sei geflohen. Seine Frau sei vorerst in der Heimat geblieben. Inzwischen habe er einen Job hier – und einen Antrag auf Arbeitsgenehmigung gestellt.
Warum er in der Anhörung beim Amt nicht erzählt habe, dass er von der Polizei festgehalten worden sei?
Weil ihm dazu keine Fragen gestellt worden seien, sagt Herr E.
Ob er Belege für seine Mitgliedschaft bei der HDP vorlegen könne?
Könne er, die müsse er aber zuerst einmal besorgen.
Aber verhandelt werde heute, das Amt habe ihn bereits darauf hingewiesen, dass es die Belege brauche. Warum die immer noch fehlten?
Er sei zu kurzfristig über die Verhandlung informiert worden.
Ob er mit seinem Anwalt darüber gesprochen habe?
Nein, mit dem habe er damals nur über die Einreichung der Klage gesprochen.
Eine Stunde lang gehen die Fragen im Dreieck Anderl-Dolmetscherin-Herr E. hin und her. Dann erweitert Anderl den Kreis, fragt, ob der Anwalt noch Fragen habe?
Der verneint, winkt ab.
Anderl scheint das nicht zu verblüffen. Sie hebt ein letztes Mal ihr Diktiergerät, fasst noch einmal zusammen, erklärt dann: Sie könne Herrn E. und die Gründe, warum er die Türkei verlassen habe, verstehen. Aber normales Mitglied in der HDP gewesen zu sein, reiche aktuell nicht für den Schutzstatus in Deutschland – dafür müsse man eine offizielle Funktion, ein höheres Amt in der Partei bekleidet haben.
Auch jetzt will sie nicht sofort entscheiden, das Protokoll noch einmal durchgehen. Herr E.s Anwalt werde Post erhalten. "Danach können Sie noch vors Oberverwaltungsgericht gehen."
Herr E. verlässt den Raum, sein Anwalt packt seine Tasche, tritt auf den Flur. Die Aussicht auf das negative Urteil scheint ihn nicht zu stören.
"Für uns ist das Asylverfahren nur das Sprungbrett"
Für manchen Anwalt spielt die Aussicht auf Erfolg hier keine Rolle. Die Verhandlungen beim Verwaltungsgericht seien egal, erklärt einer, der in Berlin viele Asylklagen übernimmt, am Rande eines Verfahrens. "Für uns ist das Asylverfahren nur das Sprungbrett ins Aufenthaltsrecht."
Fast keiner der Fälle hier nämlich gehe anders aus als beim Amt. Wer dort nicht alle Argumente vorgetragen habe, habe kaum Chancen darauf, das Ruder noch herumzureißen.
Doch während das Asylverfahren laufe, könnten die Mandaten Jobs suchen, arbeiten, Deutsch lernen – das erhöht für Menschen in der Türkei die Chancen enorm, ohne Asyl in Deutschland bleiben zu können. Noch besser aber sei eine Ehe mit einer deutschen Frau, am besten: mit Nachwuchs. Der Anwalt lacht. "Ich rate jedem meiner Mandanten als Erstes: Heirate, krieg Kinder!"
Das Verfahren am Verwaltungsgericht ist für solche Juristen nicht mehr als ein Spiel auf Zeit. Ein simpler Kniff, um das System mit seinen eigenen Mitteln auszudribbeln.
Er macht keinen Hehl daraus, dass Anwälte wie er so eine Menge Geld für wenig Arbeit verdienen können. Bei eher aussichtslosen Fällen verschickt würden Standardschreiben, immer dieselben, dazu ein Termin wie dieser bei Gericht. Das macht für ihn nicht einmal zwei Stunden Arbeit – aber ein Honorar, das hoch ausfallen kann.
Und das Asylverfahren ist erst der Anfang, die erste Bindung an oft höchst ertragreiche Mandanten. So sei das eben mit Mandanten, die kaum Deutsch sprechen und deren Bildung oft schlecht sei.
Wieder lacht der Anwalt herzlich. "Ich nenne das: die Biografie des Kurden."
"Nicht zu schaffen"
Die Preise für solche Anwälte zahlen nicht nur ihre Mandanten. Sondern auch Richter wie Laura Anderl, deren Verhandlungssäle sie belegen. Die wissen, dass die meisten Kläger, die vor ihnen stehen, keine Chancen haben. Genaue Zahlen nennt das Gericht nicht, die Statistik sei kompliziert. Aber: "Man kann allgemein sagen, dass die überwiegende Zahl der Klagen in keinem der Bereiche Erfolg hat", teilt ein Sprecher mit.
Es ist Sisyphusarbeit – aussichtslos, freudlos, hart in der Sache. Und der Berg, den die Richter jeden Tag erklimmen, generiert sich noch immer durch den Rückstau aus den Ausnahmejahren 2016, 2017, 2018.
Trotzdem ist die Haltung von Anderl und ihren Kollegen in Gesprächen deutlich: Das mache den Rechtsstaat aus, jeder hier habe das Recht auf ein faires Verfahren. Man könne nicht ausschließen, dass die vorherigen Behörden Fehler machen.
Aber Verfahren in nur drei Monaten abzuschließen, wie die Politik es jetzt will? "Das ist absehbar nicht zu schaffen", so formuliert es ein Sprecher des Verwaltungsgerichts Berlin. Es ist höflich-moderat für: Vergesst es, unmöglich.
In Berlin hat es seit 2016 keine nennenswerten personellen Verstärkungen gegeben. Es wäre der Berg, den die Politik zuerst angehen müsste – damit die Justiz den ihren schaffen kann.
*Name von der Redaktion geändert
- Eigene Recherchen und Beobachtungen