Prozesse um Klimaproteste Kommt jetzt bundesweit eine Lex "Letzte Generation"?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bayern sperrt Klimaaktivisten präventiv für 30 Tage hinter Gitter. Werden andere Bundesländer dem harten Kurs folgen?
23 Tage lang war Joel Schmitt auf sechs Quadratmetern eingesperrt. Ein Bett, ein Fernseher, Waschbecken und Toilette auf engstem Raum – darauf beschränkte sich Schmitts Welt.
Der 23-Jährige, der in Freiburg Volkswirtschaftslehre studiert, wurde nicht in einem Prozess für bereits begangene Taten verurteilt, sondern präventiv inhaftiert. Zweimal innerhalb von 24 Stunden blockierte Schmitt Anfang November mit anderen Aktivisten der "Letzten Generation" den Verkehr in München. Nach der ersten Aktion am Morgen wurde er aufgegriffen und wieder freigelassen, nach der zweiten Blockade am Abend entschied ein Haftrichter: Schmitt soll sofort für 30 Tage in die Justizvollzugsanstalt Stadelheim.
"Das war ein Ding von zehn Minuten", sagt Schmitt über die Entscheidung, die ihn hinter Gitter brachte.
Bayerischer Sonderweg: 60 Tage hinter Gittern möglich
Die sogenannte "Präventivhaft", die zukünftige Straftaten verhindern soll, ist hochumstritten. Diskutiert und eingeführt wurde sie vor allem mit Blick auf terroristische Gefährder, die Attentate planen. Angewendet wird sie nun aber auch bei viel geringfügigeren Delikten. Während der Pandemie wendete Bayern sie auch bei Verstößen gegen die Corona-Regeln an.
Nirgendwo in der Bundesrepublik darf die Maßnahme zeitlich so lang ausfallen wie in Bayern – und nirgendwo sonst wird sie zurzeit so stark gegen politische Aktivisten genutzt. 33 Mitglieder der "Letzten Generation" und der befreundeten "Scientist Rebellion" saßen in den vergangenen Monaten in München präventiv in Haft, teilt die "Letzte Generation" mit.
Sofort und lange wegsperren, ohne Prozess – es ist ein harter Sonderweg, den Bayern im Umgang mit den Klimaaktivisten beschreitet. Und dem bislang kein anderes Bundesland folgt. Ärger und Empörung über die "Letzte Generation" sind allerdings bundesweit groß. Deshalb werden auch in anderen Ländern Forderungen nach einer verschärften Präventivhaft lauter.
"Sperrt diese Kriminellen einfach weg!"
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) wünscht sich, dass das bayerische Vorbild überall Schule macht. "Der Verhinderungsgewahrsam ist ein wirksames Instrument des gesetzlichen Auftrags der Gefahrenabwehr", sagte Gewerkschaftschef Jochen Kopelke dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Und so mancher Politiker klingt noch deutlicher: "Solange sie sitzen, ist draußen Ruhe", twitterte CDU-Chef Friedrich Merz. "Sperrt diese Kriminellen einfach weg", forderte Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU).
An diesem Mittwochabend nun startet die dreitägige Herbstkonferenz der Innenminister – unter Leitung des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU). Er ist der Vater des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) in Bayern, das die Präventivhaft regelt. Vor der Innenministerkonferenz kündigte er an, dass er den Umgang mit den Klimaaktivisten, die Straßen blockieren und sich an Kunstwerke kleben, ausführlich besprechen will. Man wolle "auch präventive Maßnahmen ergreifen, um unsere Bürgerinnen und Bürger vor den Gefahren derartiger Protestformen zu schützen", sagte Herrmann.
Werden sich nun auch andere Bundesländer auf Bayerns Pfad begeben? Droht also eine Lex "Letzte Generation" in ganz Deutschland?
Berlin will verschärfen – auf maximal vier Tage
Verschärfungen der Präventivhaft scheinen punktuell wahrscheinlich zu sein. Dass ein anderes Land so weit gehen will wie Bayern, zeichnet sich bisher aber nicht ab. Das hat auch damit zu tun, dass die Präventivhaft in anderen Bundesländern wesentlich restriktiver geregelt ist. Während in Bayern 30 Tage Präventivhaft und eine Verlängerung um weitere 30 Tage möglich sind, dürfen Menschen in Berlin nur zwei Tage lang präventiv festgehalten werden, in Rheinland-Pfalz sind es maximal sieben Tage, in Sachsen dürfen es nicht mehr als zehn Tage sein. Die Ausweitung auf 60 Tage wie in Bayern wäre deshalb ein gewaltiger Schritt.
Iris Spranger (SPD), Innensenatorin in Berlin, will die Präventivhaft in Berlin zwar verlängern – allerdings nur von zwei auf vier Tage. "Berlin würde damit – mit Brandenburg, Bremen, dem Bund und Sachsen-Anhalt – noch immer über die kürzeste (maximale) Gewahrsamsdauer verfügen", heißt es auf Anfrage von t-online aus der Berliner Innenverwaltung. Eine Verlängerung nach bayerischem Vorbild sei "ausdrücklich nicht" vorgesehen.
Auch aus unionsregierten Ländern wie Sachsen oder Nordrhein-Westfalen heißt es auf Nachfrage von t-online: Eine Angleichung der Regeln an Bayern ist nicht geplant, dafür sehe man gar keinen Bedarf.
Klagen bei den Verfassungsgerichten sind noch offen
Die aktuelle Debatte legt deshalb vor allem offen, wie groß der juristische Flickenteppich in Deutschland ist – und wie isoliert Bayern mit seinem harten Vorgehen dasteht. Für den Freistaat könnte sich die Diskussion um die Vereinheitlichung der Präventivmaßnahmen deshalb anders entwickeln als von Innenminister Herrmann erhofft.
Sogar in der CDU ist man – allen Sprüchen vom "Wegsperren" zum Trotz – vorsichtig mit Blick auf das Vorgehen der Schwesterpartei in Bayern. CDU-Generalsekretär Mario Czaja beispielsweise fordert keine Präventivhaft für 30 oder 60 Tage, sondern bezeichnet auf Nachfrage von t-online lediglich die kurze Präventivhaft in Berlin von zwei Tagen als "großen Fehler". Sie solle dringend auf vier Tage erhöht werden, fordert er.
Das könnte nicht zuletzt daran liegen, dass noch einige Gerichtsentscheidungen zum Polizeiaufgabengesetz (PAG) ausstehen. Beim bayerischen Verfassungsgericht sowie beim Bundesverfassungsgericht liegen seit Jahren Klagen dagegen vor. Drei Verfassungsbeschwerden sowie ein abstraktes Normenkontrollverfahren gegen Vorschriften des PAG lägen vor, teilt das Bundesverfassungsgericht auf Nachfrage von t-online mit. Es sei zwar nicht absehbar, wann in diesen Verfahren mit einer Entscheidung zu rechnen sei, heißt es. Juristen halten es aber nicht für ausgeschlossen, dass der aktuelle Umgang in Bayern die Klagen auf der Prioritätenliste der stark belasteten Gerichte weiter nach oben rückt.
Grüne: "Verstoß gegen jede Verhältnismäßigkeit"
Die Grünen in Bayern und im Bund fordern jedenfalls schon jetzt, dass der Freistaat seine Politik ändert – und nicht der Rest des Landes. Das hat wenig mit der "Letzten Generation" zu tun – die Kritik an den Methoden der Aktivisten ist auch bei den Grünen groß. Die Haltung der Grünen zum Polizeiaufgabengesetz aber war schon immer deutlich, der bayerische Landesverband hat dagegen beim Verfassungsgericht des Landes geklagt.
"Die aktuellen Fälle führen uns deutlich die Gefahren des polizeilich angeordneten Präventivgewahrsams vor Augen", sagt Katharina Schulze, Fraktionschefin der Grünen im bayerischen Landtag, zu t-online. Das Vorgehen des Freistaats stelle "einen Verstoß gegen jede Verhältnismäßigkeit" dar. "Es stellt sich die Frage, ob bald mit gleicher Härte gegen Zweite-Reihe-Parker oder Rettungsgassen-Verhinderer vorgegangen wird", so Schulze.
Die Grünen in Bayern plädieren für eine zweiwöchige Präventivhaft, das Maximum in anderen Bundesländern. Und auch Irene Mihalic, Polizeibeamtin und innenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, fordert: "Eine Vereinheitlichung von Gewahrsamsregelungen wäre wünschenswert, allerdings nicht in Richtung der bayerischen Praxis, sondern in Richtung von Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit."
"Letzte Generation" verzeichnet so viele Anmeldungen wie nie
Wenig stört die Regelung in Bayern derweil jene, die sie zurzeit am härtesten trifft. Die "Letzte Generation" profitiert nach einiger Aussage massiv vom harten Durchgreifen in Bayern. Laut Joel Schmitt haben sich 1.117 Menschen bei der "Letzten Generation" angemeldet, seit der Freistaat die Aktivisten hinter Gitter sperrt. So viele wie nie. "Davon sind 266 Menschen gefängnisbereit", so Schmitt.
Der Aktivist erklärt sich diesen Effekt so: Das "Versagen der Regierung beim Klimaschutz" werde umso offensichtlicher, wenn sie lieber Aktivistinnen wegsperre, als die "einfachsten Sicherheitsmaßnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes" umzusetzen. Die "Letzte Generation" fordert ein Tempolimit von 100 km/h und die Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets. "Immer mehr Menschen akzeptieren ein solches Unrecht nicht, sondern schließen sich uns an", so Schmitt.
Auch er will wieder auf die Straße gehen. Für ihn steht Bayern, wo die Energiewende im Vergleich zu anderen Bundesländern schleppend vorankommt, dabei "symbolisch für das Klimaversagen". Zunächst aber steht an diesem Mittwoch Schmitts Prozess in München an. Im Eilverfahren wird entschieden, ob er sich mit der Teilnahme an den beiden Blockaden am 3. November überhaupt strafbar gemacht hat.
- Anfrage an alle Bundesländer
- Anfrage an das Bundesverfassungsgericht
- Anfrage an CDU, Grüne
- Gespräch mit Joel Schmitt von der "Letzten Generation"