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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Ampel und Corona Die Kehrtwende
Eigentlich wollten sie nur mal reden, doch dann einigten sich Bund und Länder auf schärfere Corona-Maßnahmen. Die Ampelkoalition legt damit ihre erste Kehrtwende hin, bevor sie überhaupt im Amt ist.
Der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke ist nicht unbedingt für lockere Sprüche bekannt. Nach der Bund-Länder-Schalte zur Corona-Lage genehmigt er sich am Dienstagnachmittag trotzdem einen Kommentar: "Einigen kommt es so vor, als wäre schon wahnsinnig viel Zeit vergangen seit der letzten Ministerpräsidentenkonferenz", sagt der SPD-Politiker. Auch ihm sei das so vorgekommen.
Doch Pustekuchen: "Es sind knappe drei Wochen."
Nicht allzu viel Zeit, findet Woidke, aber was die Entwicklung der Pandemie in Deutschland betreffe, "liegen fast Welten zwischen beiden Konferenzen". In Teilen des Landes herrsche inzwischen "eine dramatische Situation".
Wirklich überraschend kommt diese dramatische Situation zwar nicht, zumindest nicht für jeden, der sich damals mit den Warnungen und Modellen der Forscher beschäftigt hat. Aber die Lage ist natürlich in der Tat ganz anders als vor drei Wochen.
Und noch etwas ist völlig anders: Die Einschätzung vieler Politiker, wie ernst es denn nun wirklich ist und wie entschieden man vorgehen muss. Allen voran die Einschätzung der Ampelkoalitionäre auf Bundesebene, wo bisher vor allem die FDP alles ausgebremst hat, was nach doch-wieder-härteren Einschränkungen aussah.
Kriegen Bund und Länder – und allen voran: die Ampelregierung in spe – jetzt also doch noch die Kurve?
Ein Urteil, mindestens zwei Deutungen
Es ist ein ereignisreicher Dienstag, was die Bekämpfung der Corona-Pandemie in Deutschland angeht. Das fängt schon am Vormittag an. Da veröffentlichte nämlich das Bundesverfassungsgericht ein Urteil, das die künftigen Ampelkoalitionäre schon im Vorfeld als wegweisend für ihre nächsten Schritte bewertet hatten. Wenn auch wohl aus unterschiedlichen Gründen.
Die Richter in Karlsruhe hatten darüber zu entscheiden, ob die sogenannte Bundesnotbremse verfassungsgemäß war. Also das Instrument aus der vergangenen Corona-Welle, das ab bestimmten Inzidenzen regional unter anderem Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Schulschließungen vorsah.
Ihr Urteil: Alles erlaubt, zumindest in der damaligen Situation. Eine Passage im Abschnitt zu den Kontaktbeschränkungen wurde von manchem sogleich als Ermutigung für im Zweifel auch deutliche Einschränkungen der Grundrechte gelesen: Gesetzgeberisches Handeln, heißt es da, werde "umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können".
Besonders die Grünen sahen sich somit in ihrem Kurs der vergangenen Tage und Wochen bestätigt. Sie drängen schon länger auf schärfere Einschränkungen. Und sehen sich dabei vor allem im Konflikt mit der FDP, aber auch alleingelassen von der SPD, wie es immer wieder in der Partei heißt.
Die Liberalen, die noch zu Oppositionszeiten selbst in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingelegt hatten, bewerteten das Urteil hingegen eher zurückhaltend. "Natürlich freue ich mich nicht über die Entscheidung des Verfassungsgerichts", sagte die FDP-Politikerin Daniela Kluckert t-online. "Aber wir leben in einem Rechtsstaat und die Gerichte sind zu akzeptieren."
Kluckert betonte deshalb: "Insgesamt ist die aktuelle Situation jedoch eine andere als vor einem Jahr." Das ist derzeit das Hauptargument der Liberalen, das auch von SPD-Politikern geteilt wird. "Die Situation ist heute eine andere als zu Beginn des Jahres", sagte nämlich auch SPD-Corona-Chefverhandler Dirk Wiese nahezu wortgleich. "Die Impfquote ist beispielsweise deutlich höher."
Ein gar nicht so gemütliches "Kamingespräch"
Was aber folgt aus dem Karlsruher Urteil für die Gegenwart, das ja in der Tat nur die Maßnahmen der Vergangenheit gebilligt hat? Für eine Gegenwart dann auch noch, in der es zwar sehr viele Geimpfte gibt, aber eben auch so viele Fälle wie nie?
Darum ging es ab 13 Uhr, als sich Bund und Länder zusammenschalteten. Offizielle Beschlüsse solle es nicht geben, hieß es schon vorher von Seiten der CDU, die solche Beschlüsse gerne gehabt hätte. Deshalb hieß die Runde auch nicht Ministerpräsidentenkonferenz, sondern Kamingespräch.
Das jedoch klingt zu gemütlich für die ausführliche Diskussion und das Ausmaß der Beschlüsse, auf die sich diese Runde zumindest inoffiziell festlegte. Kommt alles so, wie es jetzt angekündigt wurde, legen die Ampelkoalitionäre nichts weniger als eine Kehrtwende hin. Und verabschieden sich endgültig von ihrem Mantra, dass es einige der ganz scharfen Einschränkungen inzwischen nicht mehr brauche.
Die Korrektur der Korrektur der Korrektur
Noch während der Bald-Kanzler Olaf Scholz mit der Noch-Kanzlerin Angela Merkel und den Länderchefs virtuell am Kamin zusammensaß, drang die Hauptbotschaft des Tages an die Öffentlichkeit. Scholz stellte in der Runde nach t-online-Informationen in Aussicht, dass seine Ampelkoalitionäre noch mal an das Infektionsschutzgesetz ran wollen.
Wohlgemerkt jenes Infektionsschutzgesetz, das sie das erste Mal vor ziemlich genau fünf Wochen selbstbewusst und fröhlich der Presse vorstellten – und als Ersatz für die epidemische Notlage feierten. Und das sie dann angesichts der sich auftürmenden vierten Welle schon kräftig nachschärfen mussten, bevor es überhaupt in den Bundestag kam.
Nun kommt gewissermaßen die Reform der Reform der Reform. Oder eben die Korrektur der Korrektur der Korrektur.
Die Länder sollen jetzt nämlich wieder "alle Instrumente in die Hand bekommen, um diese Krise zu meistern". So hat zumindest Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer das Ergebnis verstanden. Und der bayerische Landeschef Markus Söder auch.
Denn genau das war zuvor die Hauptkritik aus den Hochinzidenzländern an der Ampel: Dass sie einige mögliche Einschränkungen aus ihrem vielzitierten "Instrumentenkasten" für die Länder herausgenommen hatte. Etwa die flächendeckende Schließung von Gastronomie und Handel in Regionen, wo es Spitz auf Knopf steht.
All das soll nun wieder möglich werden, so wie es unter der epidemischen Notlage möglich war. Hinzu sollen jetzt doch viele bundeseinheitliche Regelungen kommen: Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte etwa, 2G und 2G+ für Veranstaltungen und 2G für alle Läden, mit Ausnahme von Supermärkten und anderen Geschäften des täglichen Bedarfs.
Entschieden werden soll vieles davon schon am Donnerstag auf einer regulären Ministerpräsidentenkonferenz. Alles, was das Infektionsschutzgesetz angeht, muss jedoch der Bundestag entscheiden, und das möglichst bald.
Es hat etwas von: Zurück auf Los.
Trägt die FDP das mit?
So etwas kommt in der Politik immer wieder vor. Aber von einem besonders glücklichen Start für die Ampel kann man bei dem Corona-Hin-und-Her nicht unbedingt sprechen. Für SPD und Grüne dürfte das Nachschärfen dabei kein größeres Problem sein. Besonders bei den Grünen gab es zuletzt zunehmend Kopfschütteln über die harte Haltung der FDP.
Nur: Wie gehen die Liberalen mit den jüngsten Beschlüssen um? Was die Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag angeht, herrscht erst mal Optimismus. Ein ranghohes Mitglied erwartet, dass die Partei die Beschlüsse zwar im Wesentlichen mitträgt, aber die Ultima Ratio trotzdem noch verhindern kann: "Die FDP tut alles, um einen generellen Lockdown – insbesondere auch bei den Schulen – abzuwenden." Kein generelles Herunterfahren des Landes, das ist inzwischen so etwas wie das liberale Hauptanliegen.
Und, das ist angesichts der jüngsten Historie nicht überraschend, natürlich gibt es auch Kritik. Manch einer sieht die angedachten Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte kritisch. Regelungen, die nicht kontrolliert werden können, machten keinen Sinn. Der FDP-Abgeordnete Thorsten Herbst warnt, dass die Länder nun die Möglichkeit für weitergehende Maßnahmen hätten, diese aber "verhältnismäßig und wirksam" sein müssten.
Der große Aufschrei in der Partei bleibt trotz der großen Kehrtwende allerdings aus. Wohl auch, weil viele in der FDP wissen, dass man es niemandem vermitteln kann, bundesweit auf weitere Einschränkungen zu verzichten, wenn die Luftwaffe schon Patienten innerhalb Deutschlands verlegt.
Die wichtigste Frage, die nicht nur die Liberalen betrifft, lautet nun: Werden die Beschlüsse ausreichen, um die vierte Welle zu brechen?
Für eine abschließende Antwort ist es natürlich noch zu früh. Was man allerdings schon jetzt sagen kann: Einfacher wäre es gewesen, wenn Deutschland in den vergangenen Wochen nicht so viel Zeit verloren hätte.
- Eigene Recherchen