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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Debatte um Corona-Maßnahmen "Die Impfpflicht ist Teil einer Art Eskalation"
Ist eine allgemeine Impfpflicht in Deutschland aktuell möglich? Jurist und Ethikratsmitglied Steffen Augsberg hat seine Zweifel. Allerdings hält er andere Modelle für denkbar.
Für die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel war sie ein rotes Tuch, doch mit den steigenden Corona-Zahlen dreht sich bei vielen Politikern die Meinung zu einer Impfpflicht gegen das Coronavirus. In der Union trommelt etwa CSU-Chef Markus Söder gemeinsam mit Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier für verpflichtende Impfungen. Auch in den Ampelparteien ist die Einführung einer Pflicht für bestimmte Berufsgruppen im Gespräch. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ist ebenfalls für eine generelle Impfpflicht.
Wie aber ist eine solche Impfpflicht juristisch zu bewerten? Steffen Augsberg, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Gießen und Mitglied im Deutschen Ethikrat, schließt eine solche Regelung für Deutschland grundsätzlich nicht aus. Im Gespräch mit t-online erläutert Augsberg, warum die Hürden allerdings hoch liegen, wie eine solche Regelung in der Praxis aussehen könnte und welche Alternativen er für sinnvoller hält.
t-online: Herr Augsberg, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat immer wieder betont, dass es keine Impfpflicht in Deutschland geben wird, auch nicht für einzelne Berufsgruppen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn positionierte sich im Bundestag vor rund einem Jahr ebenfalls so. War es aus ethischer Sicht richtig, diese Maßnahme kategorisch auszuschließen?
Steffen Augsberg: Nein, mit Sicherheit sind solche kategorischen Aussagen gerade in einer Pandemie unklug. Das gilt aus meiner Sicht auch für die Frage, ob es künftig einen Lockdown geben wird. Wir haben das schon mehrfach gesehen: Es wurden frühzeitig Dinge ausgeschlossen, die später dann doch eingeführt wurden. Das kostet Vertrauen.
Bei der Impfpflicht wird immer wieder über die Verhältnismäßigkeit einer solchen Regelung gesprochen. Grob gesagt heißt es oft: Sie ist juristisch denkbar, wenn zuvor alle anderen Möglichkeiten ausgereizt wurden, um eine höhere Impfquote zu erzielen.
Es ist richtig, dass man sich zunächst bemühen muss, die Menschen auf andere Arten zum Impfen zu motivieren. Die Impfpflicht ist Teil einer Art Eskalation: Sie kann nur am Ende stehen.
Haben wir diesen Endpunkt aller Maßnahmen schon erreicht?
Nein, es wurde leider zu wenig getan. Die politisch Verantwortlichen hätten sich noch stärker informieren müssen, welche Personengruppen die Impfkampagne nicht erreicht – und warum. Gewisse Regionen waren zwar erfolgreicher, als es das Gesamtbild gerade vermuten lässt. Aber warum hat man sich die nicht zum Vorbild genommen? Dann wäre vermutlich eine deutlich höhere Impfquote mit einer besseren Kommunikation möglich gewesen.
Eine allgemeine Impfpflicht wäre juristisch also im Moment nicht durchsetzbar?
Ich halte sie gegenwärtig nicht für verhältnismäßig. Sie ist Ausdruck einer Differenzierungsaversion, die wir immer wieder in dieser Pandemie sehen: Die Maßnahmen sollen möglichst alle Menschen in gleicher Weise treffen. Wenn aber vor allem ältere Menschen durch das Virus gefährdet sind, ist es fraglich, warum auch die Jüngeren von einer Impfpflicht erfasst sein sollten.
Also eine Impfpflicht für gewisse Alters- oder Risikogruppen?
Eine Impfpflicht für Risikogruppen und ihre Kontaktpersonen halte ich eher für vorstellbar. Das ist auch eine Frage der Zielsetzung: Wenn wir vor allem schwere und tödliche Verläufe vermeiden wollen, müssen wir doch die Personen in den Blick nehmen, bei denen das häufiger zu erwarten ist.
Verhindert die Bundesregierung also die mögliche Einführung einer solchen Pflicht allein schon dadurch, dass sie nicht mehr Anstrengungen unternimmt, um die Impfquote mit freiwilligen Mitteln zu steigern?
Falls sie eine Impfpflicht einführen will, kann ihr die bisherige Kampagne bei der Prüfung auf die Füße fallen. Sie muss Antworten auf verschiedene Fragen geben: Was sind etwa die Gründe, warum sich Menschen in Deutschland nicht impfen lassen wollen? Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um sie zu erreichen? Ohne überzeugende Antworten ist eine Impfpflicht nicht verfassungskonform.
Aber rein formal ist sie nicht undenkbar. Zu dem Schluss kam schon 2016 der wissenschaftliche Dienst des Bundestages. In einer Bewertung heißt es, dass eine Impfpflicht bei einer epidemischen Ausbreitung einer Krankheit mit schweren Verläufen zwar ein Eingriff in die Grundrechte ist, in dem Fall "jedoch gerechtfertigt erscheinen kann".
Ausschließen würde ich eine Impfpflicht nicht. Konkret müsste dafür erneut das Infektionsschutzgesetz geändert werden wie in der vergangenen Woche. Darüber müssten dann Bundestag und Bundesrat abstimmen. Das braucht Zeit. Danach dauert es wieder, bis die Impfungen auch ihre Wirkung entfalten. Eine allgemeine Impfpflicht hilft uns deshalb in keinem Fall aus der vierten Welle. Stattdessen könnte man andere Maßnahmen ergreifen.
Welche wären das?
Das "Boostern" muss mehr Fahrt aufnehmen. Ich befürchte zudem, dass wir ohne Kontaktbeschränkungen in den nächsten Wochen die Infektionszahlen nicht reduzieren können. Nur auf 2G und Ähnliches zu setzen, wird vermutlich leider nicht reichen.
In anderen Ländern wie Frankreich oder Israel wurde bereits eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen eingeführt. Auch die Ampelparteien diskutieren den Vorschlag. Wie sehen Sie diesen Ansatz?
Aus Sicht des Deutschen Ethikrates ist das vorstellbar. Wir haben bereits der Bundesregierung empfohlen, eine solche Regelung zu prüfen. Dadurch könnte die Gefährdung vulnerabler Gruppen reduziert werden. Es muss aber vorher klar sein, dass eine solche Regelung keine negativen Effekte hervorruft. Sollte sich etwa herausstellen, dass dann ein größerer Teil von Pflegekräften kündigt, ist die Maßnahme kontraproduktiv.
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Aktuell wird in der Debatte auch die Parallele zur Impfpflicht gegen Masern an Kitas und Schulen gezogen, die seit 2019 gilt. Allerdings steht hier noch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus. Könnte dieses Urteil Maßstab sein, ob eine Impfpflicht gegen das Coronavirus auch in Deutschland juristisch Bestand haben könnte?
Im Prinzip ähnelt diese Pflicht den aktuellen 2G-Maßnahmen: Wenn ein Kind gegen Masern nicht geimpft ist, kann es nicht in die Kita. Allerdings ist die Bedrohungslage bei Corona deutlich größer. Insofern gibt es Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Deshalb ist es fraglich, ob das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Rückschlüsse auf eine Corona-Impfpflicht zulässt.
"Zerren wir dann Sahra Wagenknecht mit der Landespolizei zur Impfstelle?", hatte zuletzt Jens Spahn mit Hinblick auf die Durchsetzung einer solchen Regelung gefragt. Wie muss man sich eine Impfpflicht in der Praxis vorstellen?
Grundsätzlich kann jede Rechtspflicht mit Zwang durchgesetzt werden. Dass aber Menschen zum Impfarzt gezerrt werden, ist unwahrscheinlich. Stattdessen werden wohl Bußgelder verhängt. Die Polizei fährt auch nicht jedem Raser hinterher und zwingt ihn dazu, langsamer zu fahren. Stattdessen gibt es Blitzer und Post vom Amt.
"Ein vollständiges Schließen der Impflücke ist durch nichts zu ersetzen", hatte zuletzt der Virologe Christian Drosten getwittert. In der Tat steigen aktuell auch wieder die Impfzahlen, aber die größten Sprünge werden bei Auffrischungsimpfungen gemacht. Gehen wir davon aus, dass diese Impflücke bleibt und wir in den kommenden Monaten auf eine fünfte oder sechste Welle treffen: Wird dadurch eine generelle Impfpflicht wahrscheinlicher?
Je länger wir sehen, dass andere Mittel nicht helfen, desto stärker wird die Impfpflicht in den Fokus rücken. Das heißt aber nicht, dass die Bundesregierung und andere Verantwortliche deshalb jetzt ihre Überzeugungsarbeit einstellen sollten.
- Interview mit Steffen Augsberg am 23.11.2021