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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Krise Warum tut bloß niemand was?
Die Corona-Lage könnte außer Kontrolle geraten, doch die Politik schiebt nur die Verantwortung hin und her. Das liegt auch daran, dass die Ampelkoalition in der harten Realität angekommen ist. Aber eben nicht nur.
Mitte Oktober ist die Welt der Ampelkoalitionäre noch in Ordnung. Als die Spitzen von SPD, Grünen und FDP müde, aber zufrieden vor den Kameras stehen und ihr Sondierungspapier präsentieren, wird Olaf Scholz fast emotional. "Hier ist ein Aufbruch möglich", sagt der Wohl-bald-Kanzler und wippt die Hände im Takt seiner Worte auf und ab.
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Doch nur wenige Wochen später muss sich die Ampel statt mit einem Aufbruch erneut mit einem Ausbruch beschäftigen: Die Corona-Krise droht außer Kontrolle zu geraten, schon wieder, muss man sagen. Die Inzidenz ist so hoch wie noch nie, die Intensivstationen laufen wieder voll, die Zahl der Toten steigt.
Man muss nicht zynisch sein, um das Gefühl zu haben, die Politik stecke noch immer in ihrer ganz eigenen Corona-Zeitschleife fest: Denn wie so oft modellieren die Experten seit Wochen und die Mediziner warnen. Aber die Politiker scheinen sich wieder erst für die Pandemie zu interessieren, wenn der Druck so groß geworden ist und die Lage so schlecht, dass sanfte Lösungen kaum noch möglich erscheinen.
Wer jedenfalls dachte, nach dem Wahlkampf würde Corona-Politik wieder einfacher, weil niemand mehr dringend zeigen muss, was für ein toller Hecht er doch ist, wird in diesen Tagen eines Besseren belehrt. Es ist eher umgekehrt: Denn wo früher 16 Bundesländer und eine Bundesregierung um den richtigen Weg stritten, sind es heute 16 Bundesländer, eine Gerade-noch-so-Bundesregierung und eine Noch-nicht-ganz-Ampelkoalition.
Dadurch entsteht schon jetzt mitunter ein gar nicht unterhaltsames Karussell der Verantwortungslosigkeit: Die Länder zeigen auf den Bund, dort zeigt die geschäftsführende Bundesregierung auf die Ampelkoalition, und die Ampelkoalition zeigt wieder auf die Länder. Und dann geht alles wieder von vorne los. Wer will noch mal, wer hat noch nicht?
Doch wenn jetzt nichts passiert, wenn die Zahlen weiter so stark steigen, dann dürften Anfang Dezember nicht die Nachrichten über Olaf Scholz' Wahl zum Kanzler die Schlagzeilen beherrschen, sondern die Nachrichten von überfüllten Intensivstationen. Die Corona-Krise ist trotz aller Fortschritte noch mächtig genug, sehr viel unnötiges Leid zu verursachen – und den Start der selbsternannten Zukunftskoalition zu überschatten.
Umso dringender stellt sich die Frage: Warum nur tut niemand was?
1. Das Problem mit den Bundesländern
Auf diese Frage gibt es mindestens drei Antworten, und für eine davon muss man auf die Bundesländer schauen. Denn dort spielen einige Ministerpräsidenten ihr Lieblingsspiel dieser Pandemie, das durch die Ampelverhandlungen auf Bundesebene für sie noch zusätzlich an Reiz gewonnen hat: Statt selbst eher unpopuläre Einschränkungen zu beschließen, die dann wenigstens für ihr Land gelten würden, fordern sie lieber deutschlandweite Regelungen.
Das Kalkül: Wenn alle böse sind, steht man selbst nicht mehr als ganz so fieser Spaßverderber da.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat diese Methode über die vergangenen Monate perfektioniert. Statt nun eine wirklich flächendeckende 2G-Regelung im aktuell besonders betroffenen Bayern einzuführen, fordert er lieber bundesweit eine. Dabei könnte er längst mehr tun, als er bisher tut. Sein Kollege Michael Kretschmer (CDU) macht in Sachsen vor, wie es geht. Darauf weist auch der Bund gerade gerne hin. Nur dann müsste Söder eben auch die Kritik aus Gastronomie und Hotellerie selbst aushalten, statt bequem auf Regeln verweisen zu können, die für alle in allen Bundesländern gelten.
Die Forderung nach einem Bund-Länder-Treffen, wie sie auch der neue nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) aufstellt, hat für die Unions-Länderchefs gerade noch einen willkommenen Zusatznutzen: Sie legt die Unordnung auf Bundesebene offen.
Denn dort gibt es gerade gleich zwei Regierungen, die nicht wirklich handlungsfähig sind. Eine, die noch nicht so richtig weg ist: die geschäftsführende große Koalition, die ohne Absprache eigentlich nichts Weitreichendes mehr entscheiden darf. Und eine, die noch nicht so richtig da ist: die Ampelkoalition, die nach der Anfangseuphorie in einer kritischen Verhandlungsphase feststeckt.
2. Das Problem mit der Merkel-Regierung
Die geschäftsführende Bundesregierung, also die große Koalition, ist schlicht nicht mehr mächtig genug, alleine auf einen Corona-Gipfel zu bestehen. Jedenfalls offensichtlich nicht gegen den Willen von Vizekanzler und Bald-Kanzler Olaf Scholz (SPD).
Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) hat Scholz gerade erst vorgeworfen, aus Rücksicht auf die Ampelverhandlungen eine Bund-Länder-Besprechung zu verweigern. Das sei "für einen zukünftigen Kanzler verantwortungslos", sagte Braun in bemerkenswerter Deutlichkeit.
Da er selten etwas sagt, das seine Vertraute und Chefin Angela Merkel anders sieht, sind die Konfliktlinien in der scheidenden großen Koalition also recht eindeutig. Und so richtig überraschend kommt das nicht: Scholz war auch in der Vergangenheit nie ganz so vorsichtig und restriktiv, wie es Merkel immer war oder zumindest gern sein wollte.
Doch schon jetzt ist er offensichtlich mächtiger als sie, noch ohne offiziell im Amt zu sein.
3. Das Problem mit der Ampelkoalition
Es ist nicht so, dass gerade gar nichts passieren würde in der Corona-Politik. Die Frage ist nur, ob es früh genug passiert ist – und ob überhaupt das Richtige passiert. Und da kommt die Ampelkoalition ins Spiel.
Dort hat sich vor einigen Wochen ein Dreierbündnis im Dreierbündnis herausgebildet, das umzusetzen versucht, was Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vor Wochen nur raunend gefordert hatte: die epidemische Lage von nationaler Tragweite zu beenden.
Dass das nach "Freedom Day" klingt, ist dabei schon ein Teil des Problems. Denn eigentlich bedeutet es nur, dass nicht mehr die Bundesregierung die Corona-Leitlinien in einer Art Notfallmodus allein bestimmen kann, sondern wieder der Gesetzgeber ranmuss, also der Bundestag.
So zumindest wollen es die Ampelpartner mit ihrem neuen Gesetz demonstrieren, das sie bis nächste Woche durchs Parlament bringen wollen. Vor allem, so begründen sie das, damit vor Gerichten nicht erfolgreich geklagt werden könne, weil Richter möglicherweise keinen Anlass mehr für einen Notfallmodus sähen.
Das Dreierbündnis im Dreierbündnis besteht aus Dirk Wiese (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Marco Buschmann (FDP). Sie sagten bei der Vorstellung des Plans zwar, das alles bedeute nicht, dass die Pandemie vorbei und der "Freedom Day" gekommen sei. Allerdings betonte besonders die FDP auch immer wieder, dass das Gesetz ausdrücklich keine Lockdowns mehr vorsehe.
Die fordert zwar eigentlich sowieso niemand ernsthaft mehr. Aber offenbar wollte man auch die "Bild"-Zeitung beruhigen, für die die Frage nach Lockdowns zuletzt zur wichtigsten der Pandemie geworden zu sein scheint.
Also ein Ende der epidemischen Lage und auf keinen Fall noch Lockdowns? Selbst in der Ampelkoalition hält das mancher hinter vorgehaltener Hand für ein schwieriges öffentliches Signal in der derzeitigen Lage. Nach dem Motto: So schlimm kann's dann ja nicht mehr sein.
Ein anderes Verständnis von Politik – nicht nur bei Corona
Noch schwieriger wird es mit der Einigkeit der Ampel, wenn es um die Maßnahmen selbst geht. Die FDP hat sich zwar breitschlagen lassen, den Ländern im Instrumentenkasten, den das Gesetz für sie definiert, 2G-Regelungen zu ermöglichen. Auf eine bundeseinheitliche 2G-Regel für besonders sensible Orte aber, wie sie etwa die Grünen wollen, konnte man sich nicht einigen.
Auch über eine Impfpflicht zumindest für bestimmte Berufsgruppen wollen die Grünen diskutieren. Allerdings haben selbst sie Angst davor, dass dann die Pflege zusammenbricht, weil Teile des Personals schlicht nicht mehr kommen. Die Gegenliebe bei FDP und SPD? Sehr überschaubar.
Und so zeigt sich in der Corona-Politik der Ampel im Kleinen, was auch die Koalitionsgespräche in vielen anderen Politikfeldern so kompliziert macht: Die Parteien haben an vielen Stellen eine grundsätzlich andere Vorstellung davon, was Politik überhaupt regeln soll.
Sollten Bund und Länder mehr Druck durch 3G und 2G erzeugen, damit sich mehr Menschen impfen lassen? "Menschliche Gesellschaften funktionieren nicht mechanisch", schrieb FDP-Politiker Buschmann dazu jetzt auf Twitter. "Druck führt zu Gegendruck." Im Zweifel also raushalten. Es ist eine sehr grundlegende Aussage zu den Grenzen von Politik. Und zu den Grenzen der Ampelkoalition, mindestens was die Corona-Politik angeht.
Das scheint inzwischen auch die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt zu befürchten. Noch vor wenigen Tagen jubelte sie bei der Vorstellung der Corona-Initiative: "Die Ampel funktioniert, bevor es sie gibt."
Am Montag war vom Jubel nicht mehr viel übrig. Sie mache sich "täglich mehr Sorgen darüber", sagte Göring-Eckardt, "wie sich die vierte Welle in unserem Land gerade ausbreitet". Und dann mahnte sie, wohl vor allem ihre Koalitionspartner in spe: "Wir müssen dafür sorgen, dass wir dieser hohen Dramatik gerecht werden."
- Eigene Recherchen