Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet."Sie tanzte nur einen Sommer" Die Kunstfigur Baerbock hat sich schnell entlarvt
Zu viel Fake auf einmal: Die grüne Kanzlerkandidatin ist schneller verzischt als Martin Schulz. Doch ist der Wahlkampf 2021 schmutziger als früher? Ein Blick zurück hilft bei der Einordnung.
"Sie tanzte nur einen Sommer": Dieser Satz aus dem Jahr 2005 gehörte zu den gravierenderen Fehleinschätzungen des ansonsten instinktsicheren Franz Müntefering.
16 Sommer schon tanzt seither Angela Merkel, diesen Sommer ihren letzten. Mehr noch: Nur wenige Wochen nach Münteferings perfider Fehlprognose übte sich die Geschichte einmal mehr in Ironie und wollte es so, dass ausgerechnet jener Franz Müntefering als oberster SPD-Wahlkämpfer, Parteivorsitzender und Chefstratege seine Sommertänzerin Merkel nach deren wenig glorreichen Wahlsieg den Weg ins Kanzleramt bahnte. Und seinen Kanzler Gerhard Schröder ausbremste, der Merkels knappen Sieg in einer legendären Elefantenrunde und auch danach nicht wahrhaben wollte.
Im Sommer 2021 aber bewahrheitet sich Münteferings Spruch bei Annalena Baerbock. Die grüne Kanzlerkandidatin ist schneller verzischt als 2017 Martin Schulz von der SPD. Eine Melange aus Hybris, Dilettantismus und Blenderei hat sich sehr schnell selbst entlarvt und mit ihr die Kunstfigur Annalena Baerbock. Lebenslauf frisiert, optisch optimiert, Buch plagiiert. Zu viel Fake auf einmal. Das hat nun in einem bemerkenswerten Interview auch ihr Parteifreund und unterlegener Kanzlerkandidat Robert Habeck ziemlich deutlich genau so benannt.
Christoph Schwennicke ist Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren als politischer Journalist, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung" und den "Spiegel". Zuletzt war er Chefredakteur und Verleger des Politmagazins "Cicero".
Die Selbstentzauberung der Annalena Baerbock lässt nun manche argwöhnen, der Wahlkampf würde schmutzig. Der von Amts wegen zartfühlige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist kürzlich vom Brocken im Harz zu einer Wanderung aufgebrochen und hat diese Sorge von dort oben im T-Shirt und mit ernster Miene ins Land gerufen.
Erinnerung an "diesen Professor aus Heidelberg"
Schmutziger Wahlkampf? Wenn eine Kandidatin auf den Prüfstand, auf die Waage gestellt und für zu leicht befunden wird? Mit Verlaub, Herr Bundespräsident, früher waren Sie nicht so zart besaitet. Oder erinnern Sie nicht mehr, als Sie seinerzeit zentraler Bestandteil des Teams von Gerhard Schröder waren und Schröder mit fast viechisch politischem Instinkt einen ehrbaren und in der Sache versierten Quereinsteiger der Union als "diesen Professor aus Heidelberg" verhöhnte und kein Mensch mehr über die bedenkenswerten Steuervorschläge des Paul Kirchhof sprach? Das war schmutzig, auch letztlich der Sommertanz-Satz von Müntefering in einem laufenden Wahlkampf.
Embed
Aber doch nicht dieser erste Härtetest einer Politikerin, die zeit ihres politischen Lebens verhätschelt wurde und sich jetzt als nicht sturmfest erweist. Da ist es ungleich schmutziger, wenn der Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet nach Ansicht der Grünen für viele Tote verantwortlich ist, weil er nicht ganz so viele Windräder möchte wie die Öko-Konkurrenz. Das ist völlig absurd und wird noch absurder, wenn man in Betracht zieht, das viel naheliegendere politische Verantwortung für tatsächliche Tote wie in Würzburg aus vermutlich guten Gründen nicht thematisiert wird.
Ich räume ein: Auch nach meinem Geschmack könnte es mehr um die Sache als um die Kandidaten gehen. Denn jenseits dieser Angriffe ad personam und ad hominem tut sich nicht viel. Es ist ein bisschen wie bei der zu Ende gegangenen Fußball-EM. Früher waren mehr Wimpel (an den Autofenstern), und früher war auch mehr Wahlkampf.
Auf subkutane Weise scheint das Narkotikum, das Münteferings Sommertänzerin in mehr als anderthalb Jahrzehnten dem politischen Betrieb und dem Land eingeträufelt hat, über sie hinaus zu wirken. Es muss sich gleichsam erst ausschleichen. Oder das von Corona heruntergedimmte Land kommt politisch einfach nicht in Schwung. Oder beides zusammen.
Von der Alchemie der FDP bis zum Energiegeld der Grünen
Dabei gäbe es so viel, über das man reden, diskutieren, streiten könnte. Die ökonomische Alchemie der FDP, die gleichzeitig Steuern senken und riesenhafte Corona-Schuldenberge abbauen kann. Die künftige Migrationspolitik der CDU beziehungsweise Union, deren Wahlprogramm sich da im hinteren Teil wie ein Gegenentwurf zu Merkels Tun 2015 und 2016 liest, wiewohl Armin Laschet sich seinerzeit von niemandem in der Union die Rolle als treuester Merkelist in dieser Sache nehmen ließ. Das seltsame Energiegeld der Grünen, das denjenigen, die erst viel Geld für teure grüne Energie ausgeben müssen von hintenrum wieder zurückbezahlt bekommen sollen.
Die Frage, welche Partei das beste Konzept hat, Deutschland digital aus dem vorigen Jahrhundert ins aktuelle zu transformieren. Die Frage, wer die Finanzpolitik am besten so handhabt, dass nicht weiter die Sparer die Spesenrechnung der Corona-Hilfspakete abbezahlen, weil höhere Leitzinsen auf einen Schlag ganz viele Staaten sofort in die Pleite führen würde, weshalb die Europäische Zentralbank unter Christine Lagarde schon mal die Toleranz bei der Inflation nach oben geschraubt hat.
Es gibt viel zu besprechen. Es geht auch um viel. Und von uns aus könnte es losgehen. Wir wären dann bereit. Haben wie beim Fußball das Bier kühl und die Chips bereit gestellt für das große Finale ums Kanzleramt. Aber irgendwie kommt kein Anstoß. Und jetzt sind dann ja auch eh alle erstmal in den Ferien.
Schmutziger Wahlkampf? Gar kein Wahlkampf. Nirgends.
- Süddeutsche Zeitung: Interview mit Robert Habeck