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Corona in Deutschland: Die Fixierung auf Weihnachten ist überzogen und naiv


Meinung
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Weihnachten und Corona
Hält man uns wirklich für so schlichte Gemüter?

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 26.11.2020Lesedauer: 5 Min.
Weihnachtsdeko in einer deutschen Einkaufsstraße: Dass für das Weihnachtsfest die Corona-Regeln gelockert werden, sieht Kolumnistin Lamya Kaddor kritisch.Vergrößern des Bildes
Weihnachtsdeko in einer deutschen Einkaufsstraße: Dass für das Weihnachtsfest die Corona-Regeln gelockert werden, sieht Kolumnistin Lamya Kaddor kritisch. (Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa)
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Bund und Länder haben neue Corona-Beschlüsse vorgelegt. Ihre Kommunikationsstrategie dabei ist desaströs – vor allem ihre naive Fixierung auf Weihnachten.

Oh ja, ich mag Weihnachten. Ich mag es, über Weihnachtsmärkte zu streifen, meinen Schülern bei Adventsfeiern zuzuschauen. Ich mag die bunten Lichter in den dunklen Wintertagen. In meiner eigenen Wohnung strahlen Lichterketten, leuchten Sterne und Monde. Es werden Vanillekipferl gebacken, es riecht nach Mandeln, Zimt, Bratapfel, und Rolf Zuckowski und seine Freunde singen "In der Weihnachtsbäckerei". Am Morgen vor Heiligabend wird bei der christlichen Oma der Tannenbaum geschmückt, darunter liegen später die Geschenke.

Schon früher als Kinder kamen wir am 24. Dezember mit Familie und Freunden zusammen und gingen bis zum 26. Dezember nicht mehr auseinander – ganz ohne dabei an das Christkind zu denken. Unsere Tische bogen sich unter Kilos von Kibbeh, Kishk, Tabouleh, Fatteh, Freekeh, Hommus, Mutabbal, während das 80er-Jahre-Binge-Watching begann mit Disneys "Dornröschen", "Der kleine Lord" und später "Stirb langsam".

Fixierung auf Weihnachten absurd und problematisch

Oh ja, Weihnachten entlockt mir schöne Erinnerungen. Für gläubige Christen ist es ein zentrales religiöses Fest, für viele andere ein prächtiger Anlass, um ebenso zusammenzukommen. Und trotzdem ist die Fixierung auf Weihnachten, die uns aus der Politik seit Wochen aufgezwungen wird, absurd und problematisch.

Ob Kanzlerin oder Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten – es hört sich an wie eine gesprungene Schallplatte: "damit wir ein schönes Weihnachtsfest verbringen können", "damit Weihnachten im Kreise unser Liebsten möglich wird", "damit es keine Weihnacht der Einsamkeit gibt", sollten wir uns jetzt an die Corona-Beschränkungen halten und bitte, bitte akzeptieren, dass Bund und Länder die Auflagen verlängern und verschärfen. Mehr zu den am Mittwoch beschlossenen Maßnahmen lesen Sie hier.

Hält man die Deutschen für so schlichte Gemüter?

Seit Wochen hören wir in Endlosschleife solche Motivationsappelle. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich fühle mich angesichts dessen irgendwie nicht ernst genommen. Nach bald neun Monaten Coronakrise mit wirtschaftlichen Existenzängsten, Sorgen vor schweren Erkrankungen, erzwungener Distanz zu Großeltern, Einschränkungen persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten in Schule, Beruf und Freizeit und womöglich mit der Bewältigung von Todesfällen hält man die Deutschen tatsächlich für so schlichte Gemüter, dass sie die ganze Zeit nur auf Weihnachten, Weihnachten, Weihnachten hoffen?!

Diese Manie zeugt von wenig Gespür für echte gesellschaftliche Belange. Die evangelische Theologin Margot Käßmann warnte gerade vor einer Überfrachtung des Weihnachtsfests. Die Politik dürfe nicht so einen Druck ausüben, als sei an diesen drei Tagen alles ganz anders als sonst im Leben.

Was ist mit denen, die mit Weihnachten nichts anfangen können?

Es ist verständlich, wichtig und schön, wenn sich Familien an Weihnachten treffen können. Aber zum einen ist Weihnachten kein Anlass für Partys. Es kommen keine Massen zusammen wie zu den Superspreader-Events Karneval oder Geburtstagsfeiern. An Heiligabend trifft sich vorwiegend die Kernfamilie.

Zum anderen missachtet die Weihnachtsfixierung jene, die mit Weihnachten nichts anfangen können. Einige Menschen dürften heilfroh sein, wenn der "Weihnachtskitsch" dieses Jahr entfällt. Für nicht wenige ist es die schlimmste Zeit des Jahres. Weihnachten ist ihnen förmlich eine Qual, weil sie einsam sind, und sie die Harmoniesucht, die in der Vorweihnachtszeit und an den Festtagen überall verbreitet wird, permanent daran erinnert, dass sie dieses familiäre Glück eben nicht haben. Weihnachten ist das Salz in ihren Wunden.

Außerdem sind nur noch gut 55 Prozent der Deutschen Katholiken oder Protestanten. Fast ein Drittel bezeichnet sich als nicht gläubig, Atheisten oder Agnostiker. Weitere Millionen Deutsche sind andersgläubig. So gesehen haben rund 40 Prozent mit dem eigentlichen Anlass für die Feiern am 24., 25. und 26. Dezember, nämlich der Geburt Jesu, nichts zu tun. Diese Menschen sollten in der politischen Ansprache nicht ausgeblendet werden, indem man nur die Zielperspektive von uns einnimmt, die wir an Weihnachten tatsächlich in irgendeiner Form miteinander feiern – auch wenn wir die Mehrheit stellen.

Kontaktbeschränkungen stürzen niemanden mehr in die Sinnkrise

Fast neun Monate Pandemie haben zudem viele abgehärtet. Normalerweise schauen jüngere Familienmitglieder an Heiligabend ab 21 Uhr nervös auf die Uhr, weil sie raus zu ihren Freunden wollen. Da sie schon wochenlang soziale Distanz einhalten müssen, werden sie nicht in die Sinnkrise stürzen, wenn das an Weihnachten weiterhin gilt. Ähnlich ist es für Familien, wenn sie am ersten und zweiten Weihnachtstag keine großen Besuche machen können. Vielleicht sind einige ja heilfroh, die "bucklige Verwandtschaft" mal nicht aufsuchen zu "müssen". Und wie Oma, Opa und Angehörige von Risikogruppen es mit Weihnachten halten, ist Privatsache. Ein völliges Kontaktverbot stand ja nie zur Debatte. Jede Familie kann selbst überlegen, wer wen besucht, damit niemand allein bleibt, der nicht allein sein will. Politischer Paternalismus ist da fehl am Platz.

Selbst für gläubige Christinnen und Christen dürfte ein ausgedünntes Weihnachtsfest "verkraftbar" sein, schließlich mussten sie schon im Frühjahr auf Ostern verzichten, was aus religiöser Perspektive das wichtigere Fest ist. Jetzt können die Kirchen immerhin Freiluft-Gottesdienste, Kurzmessen mit Lüftungspausen und Ähnliches anbieten, damit man den Tag trotzdem in Glaubensgemeinschaft erleben kann, wenn man das möchte. Darüber hinaus übertragen Radio und Fernsehen Christvespern und Christmetten.

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Letztlich wären vermutlich sogar jene, die innig mit Weihnachten verbunden sind, selbst mit einem kompletten Ausfall der Feiertage einverstanden, wenn sie dafür schneller zu einer Post-Corona-Normalität zurückkehren könnten. Von daher ist die Kommunikationsstrategie von Kanzlerin oder Ministerpräsidenten in der Coronakrise ziemlich daneben – und das nicht nur in Bezug auf Weihnachten.

Eine Lockdown-Rücknahme stand nie ernsthaft zur Debatte

Erst mal vier Wochen bis Ende November, hieß es noch im Oktober, dann könne man überlegen, ob es Lockerungen beim Lockdown light gebe. Mitte November wurde dann schon darüber gesprochen, die erlassenen Infektionsschutzmaßnahmen bis Weihnachten zu verlängern und zu verschärfen. Jetzt spricht man vom Januar und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier rechnet bereits mit Corona-Einschränkungen bis zum Frühjahr.

Wenn man ehrlich gewesen wäre, stand eine Rücknahme des Teil-Lockdowns im Dezember nie ernsthaft zur Debatte. Im Frühjahr war vielen klar, dass sich die Corona-Lage entweder im Herbst und Winter wiederholen oder verschlimmern wird. Dennoch wurden Beruhigungs-Placebos ins Volk geworfen: Impfstoff, Sommer, Masken, Abstand werden SARS-CoV-2 womöglich schon im Herbst den Garaus machen. Da kann es niemanden wundern, wenn sich viele Menschen nun betuppt, belogen, betrogen fühlen.

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Und nun kommen noch die PR-Katastrophen der Bund-Länder-Konferenzen oben drauf: mit an die Presse weitergeleiteten Beschlussvorlagen, die mal ganz, mal in Teilen wieder kassiert wurden, mit zusätzlichen Vorschlägen für Corona-Beschränkungen, mit Extrawürsten für einzelne Länder. Trotz aller Vorabberatungen saßen Kanzlerin sowie Länderchefinnen und Länderchefs gestern erneut stundenlang beisammen, und am Ende kam bloß das Erwartbare heraus, mit einigen neu verhandelten Details.

Bund und Länder tragen zur Verunsicherung bei

Am Ende weiß nicht nur kaum jemand, was überhaupt noch gilt, sondern durch das Hin und Her ging wertvolle Zeit im Kampf gegen das Virus verloren, wie t-online-Redakteur Sven Böll hier analysiert hat. Ja, Föderalismus ist eine Bürde für die Bekämpfung einer Pandemie, das hatte ich schon vor Wochen angesprochen.

Mit so einer Performance tragen Bund und Länder mit dazu bei, dass Corona-Leugner Auftrieb und andere Zweifel bekommen. Selbst ich als Angehörige einer Corona-Risikogruppe, die voll und ganz bereit ist, Schutzmaßnahmen einzuhalten und zu verteidigen, fühle mich inzwischen zunehmend genervt. Politische Entscheidungen in Krisensituationen müssen vernünftig abgewogen und dann klar kommuniziert werden. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sind realistisch genug, um zu wissen, dass die Pandemie frühestens Mitte nächsten Jahres vorbei ist – wenn überhaupt. Auf Beruhigungs-Placebos können sie verzichten – auch zu Weihnachten!

Lamya Kaddor ist Deutsche mit syrischen Wurzeln. In ihrer Kolumne "Zwischentöne" analysiert die Islamwissenschaftlerin, Islamische Religionspädagogin und Publizistin, die Mitglied der Grünen ist, für t-online die Themen Islam und Migration. Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorin wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

Verwendete Quellen
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