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Corona in Deutschland: Die Politik muss handeln – wir Bürger aber auch!


Meinung
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Explodierende Corona-Zahlen
Corona zeigt all die Probleme des Föderalismus auf

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 15.10.2020Lesedauer: 5 Min.
Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten nach dem Corona-Krisentreffen: Historisches war angekündigt worden, historisches wurde nicht geliefert, findet Kolumnistin Lamya Kaddor.Vergrößern des Bildes
Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten nach dem Corona-Krisentreffen: Historisches war angekündigt worden, historisches wurde nicht geliefert, findet Kolumnistin Lamya Kaddor. (Quelle: Montage: t-online/reuters)
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In Deutschland steigen die Corona-Zahlen rasant, doch die Politik scheitert mit einem großen Wurf an Gegenmaßnahmen. Daran ist sie selbst schuld – doch auch wir haben eine Aufgabe.

Föderalismus ist eine wichtige Errungenschaft. Sie sichert die Demokratie vor Machtmissbrauch. Sie sichert die Vielfalt im Land und die Nähe des Staates zu den Bürgerinnen und Bürgern. Mitunter sorgt die Einteilung Deutschlands in einzelne Bundesländer jedoch für Kopfschütteln. Das gilt nicht nur für die Bildungspolitik, wo man sich mehr Kooperation zwischen Bund und Ländern und damit mehr Einheitlichkeit wünscht. Auch in der Corona-Krise zeigen sich teilweise die Grenzen, bis zu denen der Föderalismus Vorteile mit sich bringt. Jedes Bundesland macht, was es will, und im Ergebnis bleiben die Bürgerinnen und Bürger ratlos, kopfschüttelnd und besorgt zurück.

Niemand hat mehr einen Überblick, was man wann, wo, wie machen darf: Wo ich die Maske drinnen oder draußen tragen muss, welche Strafe bei Verstößen auf mich zukommt, mit wie vielen Leuten ich zu Hause feiern darf, wie viele ich in der Stadt treffen kann, wohin Reisen innerhalb Deutschlands noch möglich sind. Zeitgleich steigt die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen rapide an. Die zweite Welle ist da.

Wir haben das Niveau vom Frühjahr, als das Land dichtgemacht wurde, bereits überschritten. Wenn die Menschen vor jeder Aktivität aber erst einmal auf den Seiten der zuständigen Gesundheitsämter surfen müssen, um sich kundig zu machen, werden die meisten am Ende eines tun, nämlich, was sie wollen.


Die Bundeskanzlerin, die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten setzen mit ihrer Uneinheitlichkeit das Vertrauen der Bevölkerung in die Corona-Maßnahmen, das uns bisher so gut durch die Pandemie gebracht hat, aufs Spiel. Daran haben die gestrigen Bund-Länder-Beratungen im Berliner Kanzleramt nichts geändert. Im Gegenteil, Der Chef des Kanzleramts, Helge Braun, kündigte im Vorfeld ein Treffen von "historischer Dimension" an. Ich kann selbst bei genauerem Hinsehen nichts Geschichtsträchtiges erkennen.

Es ist nicht nachvollziehbar, wenn die Regierungsverantwortlichen selbst bei diesem Thema stundenlang zusammensitzen, streiten wie die Kesselflicker und am Ende kommt Halbgares heraus. Seit Tagen wird über die zu behandelnden Themen öffentlich diskutiert, über manche gar seit Monaten. Vergangene Woche gab es sogar eine erste Abstimmungsrunde im Hinblick auf das gestrige Treffen.

Es darf nicht mehr um Beliebtheitswerte gehen

Dennoch wird jetzt kolportiert, dass die Kanzlerin unzufrieden ist mit der Härte der beschlossenen Maßnahmen, dennoch geht die Sorge um, ob sich die Länder wenigstens an das Vereinbarte halten oder alsbald wieder eigene Wege gehen. Die Frage der Weihnachtsmärkte ist nicht geregelt – und der 24. Dezember ist nicht mehr weit. Die Regelung für das Lüften in den Schulen im Winter ist offen. Über den Flickenteppich bei den Corona-Bußgeldern, deren Einheitlichkeit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder zuletzt lautstark angemahnt hatte, gibt es ebenso keine Entscheidung wie über das aktuell größte Streitthema: das Beherbergungsverbot.

Letzteres soll erst nach den Herbstferien abgeräumt werden. Ein Urlaubsfrage wird also geregelt, wenn die Urlaubszeit vorbei ist… Das erinnert fatal an Jens Spahns Corona-Pflichttests für Urlaubsrückkehrer, die pünktlich zum Ende der Sommerferien angeordnet wurden (). *Ironie off*.

Kleinstaaterei ist angesichts der sich zuspitzenden Krise falsch, und man kann sich nur schwer vorstellen, dass die Streitereien der Kanzlerin und der Regional-Fürstinnen und Fürsten immer nur in der Sache begründet sind. Vielmehr liegt nahe, dass dort persönliche und parteitaktische Überlegungen hineinspielen. Es darf jetzt aber nicht darum gehen, wer das meiste für seine Klientel herausholt. Wer sich am besten für die Wahl des neuen CDU-Chefs im Dezember positioniert. Wer 2021 Kanzlerkandidat wird. Oder wie man aus Umfragetiefs herauskommt.

Die Sehnsucht nach Normalität ist groß

Es muss jetzt alles dafür getan werden, dass die Schulen offen bleiben, Senioren- und Behinderteneinrichtungen nicht wieder isoliert werden, Krankenhäuser nicht an ihre Kapazitätsgrenze kommen oder die Wirtschaft wieder in einen Lockdown geschickt wird. Kurz: Es geht wieder um das Existenzielle. Das lässt sich nur wahren, wenn die Bevölkerung die Corona-Maßnahmen versteht, und dazu ist wie zu Beginn der Pandemie Einheitlichkeit nötig.

Wenn wie aktuell überall im Land Corona-Hotspots aufploppen, ist regionales und zielgerichtetes Handeln womöglich nicht mehr umsetzbar. Vielleicht müssen dann vorübergehend wieder Rasenmäher-Methoden her wie im Frühjahr. Dann brauchen wir für eine befristete Zeit wieder bundesweite, klare Regeln. Zum Beispiel: Vorerst keine privaten Feiern mehr zu Hause. Keine Auslandsreisen. Nicht nur Empfehlung oder Begrenzungen auf Hotspots. Laut dem Robert Koch-Institut gehören Partys und Urlaube zu den Hauptgründen für die derzeitige Ausbreitung des Coronavirus. Wenn die Infektionskurve exponentiell ansteigt, und danach sieht es derzeit aus, muss sie zwingend gedeckelt werden. Die Zeit, um über Freiheiten zu reden, muss hier ein Stück weit warten – so wie im März.

Die Normalitätssehnsucht in der Bevölkerung ist groß. Bei mir ist sie ebenso ausgeprägt. Ich will diese Krise hinter mir lassen, verreisen, Familie und Freunde treffen. Nur, wenn alles durcheinander geht, verstärkt diese Sehnsucht ein Gefühl der Überforderung, und daraus folgt zumeist nichts Gutes: Radikalität, Depression, Gleichgültigkeit etc.

Wir brauchen eine klare Linie in der Corona-Politik, basierend auf den bisher gewonnenen Erkenntnissen, kombiniert mit einer gewissen Experimentierfreudigkeit bezüglich neuer Regelungen. Die klare Linie muss in dieser Situation wieder von Virologen und Epidemiologen vorgegeben werden. Die Wissenschaft muss zeitweise wieder das Ruder übernehmen; Kapitän bleibt freilich die Politik. Und um das in Krisenzeiten besser zu gewährleisten, sollten wir beizeiten miteinander bereden, ähnlich wie bei der Bildungspolitik, wie wir dem Bund an der einen oder anderen Stelle mehr Kompetenzen zubilligen, ohne den Föderalismus zu untergraben.

Erst auf schwere Fälle zu warten, wäre einfach nur makaber

Wir als Bevölkerung müssen derweil eine gewisse Toleranz gegenüber möglichen Fehlern aufbringen. Wenn sich Maßnahmen später als wirkungslos oder falsch herausstellen, hat das immer noch nicht zwangsläufig mit Unfähigkeit von Wissenschaft und Politik zu tun: Wir stecken in Bezug auf das SARS-CoV-2 weiterhin alle gemeinsam in einer Experimentierphase.

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Toleranz beziehungsweise Resilienz können wir als Bevölkerung allerdings nur aufbringen, wenn die Politik aufrichtig ist und nicht andere Dinge als die Überwindung der Pandemie im Sinn hat. Natürlich sollten die Maßnahmen dabei gut überlegt sein – mehr als sechs Monate Corona-Krise, sollte man meinen, schaffen dafür schon gewisse Zeiträume. Als Laien fragen wir uns, inwiefern eine nächtliche Ausgangssperre, wie sie Frankreich gestern verhängt hat, wirkungsvoll ist, oder ob Sperrstunden tatsächlich effektiv sind. Gewiss sind sie besser, als komplette Schließungen wie im März. Gastronomen scheinen aber durchaus auch epidemiologisch schlüssig für längere Öffnungszeiten am Abend und für private Feiern in ihren Räumlichkeiten zu argumentieren: Die Betriebe könnten Hygienekonzepte umsetzen, sagen sie, und Menschen würden nicht dazu verleitet, heimlich privat ohne jegliche Kontrolle zu feiern.

Klar ist am Ende, die Lage wird dramatischer. Handeln tut not. Wer an dieser Stelle auf die niedrige Sterberate in Deutschland verweist und alles als Panikmache abtut, sollte ins Ausland schauen. Aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich kommen bereits die ersten Meldungen über geschlossene Notaufnahmen und steigende Bettenbelegungen mit Covid-19-Patienten. Es ist eine Frage der Zeit, bis auch bei uns die Todeszahlen wieder hochgehen. Alle Expertinnen und Experten sagen, dem Anstieg der Corona-Neuinfektionen folgt ein Anstieg bei den schweren Erkrankungen. Erst darauf zu warten, bis es so weit ist, damit auch die letzten Zweifler verstehen, wäre makaber.

Lamya Kaddor ist Deutsche mit syrischen Wurzeln. In ihrer Kolumne "Zwischentöne" analysiert die Islamwissenschaftlerin, Islamische Religionspädagogin und Publizistin für t-online die Themen Islam und Migration.

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