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Zum journalistischen Leitbild von t-online.TV-Kritik "Anne Will" Teil-Lockdown in Deutschland: "Natürlich gäbe es Alternativen"
Deutschland geht erneut einen Corona-Lockdown. Kurz vor Tag X lud Anne Will ihre Talkrunde nochmal zur Berufungsverhandlung: Sind die gefassten Beschränkungen alternativlos?
Die Lage in Deutschland wegen der Ausbreitung des Coronavirus ist besorgniserregend, darüber herrschte auch in der ARD-Talksendung "Anne Will" Einigkeit. Handeln ist gesamtgesellschaftlich angezeigt. Allerdings wirkte die Diskussion ein wenig wie der Blick in die – mathematische – Glaskugel.
Die Gäste
- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Richterin am Bayerischen Verfassungsgerichtshof und Bundesjustizministerin a.D.
- Viola Priesemann, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
- Markus Söder (CSU), Parteivorsitzender und Ministerpräsident von Bayern
- Helge Braun (CDU), Chef des Bundeskanzleramts und Bundesminister für besondere Aufgaben
- Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin
- Till Brönner, Jazz-Musiker und Fotograf
Die Positionen
Der Ausbreitung der Pandemie mit Kontaktbeschränkungen begegnen – das ist der Plan für Menschen bundesweit für die nächsten vier Wochen. Wills Eingangsfrage musste daher jene nach etwaigen Alternativen sein. "Natürlich gäbe es Alternativen", betonte Söder etwa die Möglichkeit der Durchseuchung. Ohne damit aber ernsthaft die von ihm mitgetragenen Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz vom letzten Mittwoch in Zweifel zu ziehen. Die Tatsache, dass in 75 Prozent der Fälle die Infektionsketten nicht mehr nachvollziehbar seien, erfordere das Betätigen der Notbremse. Unionskollege Braun sprang ihm bei: "Es war immer klar, wenn dann trotz aller Vorsichtsmaßnahmen die Infektionszahlen steigen, dann bleibt irgendwann nur noch das Instrument der Beschränkung übrig."
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Fast schon melancholisch wirkte da der Rückblick der Runde auf den diesjährigen Sommer mit sehr stabilen Infektionszahlen. Auch der Mediziner Willich stimmte Braun und Söder im Grunde zu: "Ich denke, der Zeitpunkt ist genau richtig", meinte er, auch mit Blick auf die sinkenden Kapazitäten in der Intensivmedizin. Er schränkte das aber in mehrfacher Hinsicht ein: Für eine relativ geringe Sterblichkeit von 0,2 bis 0,3 Prozent nehme man gravierende Nebenwirkungen des Lockdowns in Kauf: Existenzbedrohungen, Armut, soziale Isolation, Verschlechterung der klinischen Versorgung jenseits von Corona. Man müsse regionaler adjustieren und einzelne Bereiche differenzieren, indem man etwa Risikogruppen mehr schütze. Kultur und Gastronomie hätten durch akribisch gute Hygienekonzepte keine relevanten Infektionsketten zugelassen. Söder konterte: "Man weiß es schlichtweg nicht." Wissenschaftliche Empfehlung sei die Kontaktreduzierung um Dreiviertel. Hygienekonzepte und Appelle an Eigenverantwortung würden nicht mehr helfen.
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Leutheusser-Schnarrenberger versuchte, eine Diskussion über die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahmen als Eingriffe in Grundrechte anzustoßen. Grundrechtseingriffe müssten auf solidere gesetzliche Grundlagen gestellt werden, um so Akzeptanz zu erreichen. Wills Talkshow sollte hierfür dieses Mal aber nicht den Rahmen bilden. So blieb es bei einer kurzen Nickligkeit mit Söder und die Ministerin a.D. war raus aus der Diskussion.
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Das Zitat des Abends
"Die Menschen gehen ja nicht in ein Konzert, weil der Bundesgesundheitsminister das erlaubt, sondern weil sie sich sicher fühlen", betonte Brönner. Er machte damit deutlich, dass in seiner Branche Hygienekonzepte doch funktionierten, man aber staatlich verordnet Millionen von Soloselbständigen das Wasser abgrabe. Der Voll-Lockdown für Kunst und Kultur werde sich – ab März 2020 gerechnet - über mehr als ein Jahr hinziehen. Da wirkte Brauns Statement, die Kultur sei wichtig und man stelle ja 10 Milliarden Euro bereit, um Soloselbstständigen Umsatzverluste auszugleichen, ein wenig hilflos. Zumal er auch durchscheinen ließ, dass andere Branchen systemrelevanter als die Freizeitgestaltung seien. Brönner brachte zudem Zweifel an, dass die Hilfen unbürokratisch bei den richtigen Adressaten landeten.
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Der Aufreger des Abends
Es ist wohl der gesellschaftsübergreifenden Bedrohung, die vom Coronavirus ausgeht, geschuldet, dass in Politik-Talkshows zu diesem Thema der Disput unter den Diskutanten aktuell nicht den Ton angibt. So war es auch an diesem Sonntagabend. Der Tenor war unisono: Die Zahlen müssen runter. Vehement mathematisch versuchte Priesemann das zu begründen. Und darin lag so etwas wie die Glut, die unter normalen Umständen manchmal auch ein Talkstudio abfackeln ließe. Selbst die Politik habe mittlerweile verstanden, was exponentielles Wachstum sei. Damit nahm sie denjenigen ein wenig den Wind aus den Segeln, die in der aktuellen Infektionslage Hygienekonzepte als Sicherungsmaßstab ansehen. "Die Ausbreitung ist vom Verhalten der Menschen getrieben", beschrieb sie. Im Sommer sei die Lage unter Kontrolle gewesen. Diesen Zustand wieder zu erreichen lohne sich, um perspektivisch wieder Dinge zu ermöglichen. Mit einer unkontrollierten Ausbreitung funktioniere das nicht. Problem seien die Virusträger, die gar nicht wissen, dass sie Träger sind.
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Auch Willich betonte, dass Kontaktbeschränkungen aktuell der Goldstandard seien. Allerdings ergänzte er: "Langfristig ist das viel zu optimistisch, dass wir nur ein paar Monate überbrücken müssten, bis dann der Impfstoff da ist". Daher käme es vor allem auf den bestmöglichen Schutz der Risikogruppen und die bessere Ausstattung der Gesundheitsämter für die Nachverfolgung von Infektionsketten an. Das helfe nicht, wenn die Zahlen exponentiell anstiegen, so Priesemann. Gingen die Fallzahlen runter, bräuchte man auch die Gesundheitsämter nicht, so die Physikerin. Braun meinte dazu: Sich an ewöhnen hohe Zahlen zu gewöhnen, heiße auch, sich an eine Dynamik zu gewöhnen. Das sei gefährlich.
Der Faktencheck
Was bedeutet eigentlich exponentielles Wachstum? Es beschreibt die Vervielfachung der Infektionsfälle in kurzer Zeit. Mathematische Rechenmodelle helfen dabei, die Entwicklung der Pandemie und der mit ihr verbundenen Risiken einzuschätzen und zu messen, in welcher Zahl die Infektionsfälle im Laufe der Zeit steigen.
Bei Infektionskrankheiten, wie Covid-19 geht man von eben jenem exponentiellen Wachstum aus, wenn die Möglichkeit besteht, dass ein Infizierter mehrere Menschen anstecken kann. Nähme man an, eine Person könnte nur zwei weitere anstecken, die wiederum selbst zwei weitere infizieren, kommt man relativ schnell zu einem rasanten Anstieg der Zahlen. Die Zeitspanne, in der sich die Infektionszahlen potenzieren wird dann immer kürzer. Das führt perspektivisch zu einer eventuell zu hohen Belastung des Gesundheitssystems, gemessen am Anteil der Menschen, die wegen Covid-19 behandelt werden müssen.
- Planet Wissen: "Coronavirus – die Gefahr des exponentiellen Wachstums"
- Eigene Recherchen