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Coronavirus-Maßnahmen: "Die Politik sollte nicht nur auf Wissenschaftler hören"


Corona-Entscheidungen
Die Regierung sollte nicht blind der Wissenschaft vertrauen

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 16.04.2020Lesedauer: 5 Min.
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RKI-Chef Lothar Wieler mit Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzlerin Angela Merkel (Archivbild vom 11. März): Die Politik sollte bei ihren Entscheidungen zur Corona-Krise nicht blind den Wissenschaftlern vertrauen, findet t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor.Vergrößern des Bildes
RKI-Chef Lothar Wieler mit Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzlerin Angela Merkel (Archivbild vom 11. März): Die Politik sollte bei ihren Entscheidungen zur Corona-Krise nicht blind den Wissenschaftlern vertrauen, findet t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor. (Quelle: IPON/imago-images-bilder)

Wissenschaftler spielen im Kampf gegen die Corona-Krise eine bedeutende Rolle. Doch nicht nur sie sollten zurate gezogen werden, wenn es um gesellschaftliche Maßnahmen geht.

Wissenschaft ist ein guter Leitfaden für politische Entscheidungen. Die Diskussionen um den Klimawandel beweisen es. Aber Wissenschaft ist kein politisches Allheilmittel und der Rat von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern allein reicht nicht aus, wenn es um die Steuerung einer Gesellschaft geht.

In der Corona-Krise ist mir die akademische Fokussierung inzwischen zu starr geworden. Das zeigt die aktuelle Debatte über die Exit-Strategie. Bund und Länder haben gestern zwar einen insgesamt vernünftigen Plan beschlossen, wie sich die Einschränkungen lockern beziehungsweise aufrechterhalten lassen, aber hatte dabei irgendjemand Alleinerziehende und junge Eltern im Blick? Wer hat an Schülerinnen und Schüler, die ein kostenloses Mittagessen in öffentlichen Tageseinrichtungen brauchen, gedacht? Warum dürfen Baumärkte öffnen, Gottesdienste aber weiterhin nicht stattfinden? Buchhandlungen ja, Kaufhäuser, nein? Weshalb können Restaurants nicht mit Einlassbeschränkungen arbeiten und beispielsweise an jedem zweiten Tisch servieren?

Solche Verzerrungen beziehungsweise Inkonsequenzen sind problematisch, nicht nur weil sie wirtschaftliche Schäden verursachen, sondern auch weil sie zu sozialen Verwerfungen führen, die wie so oft die Schwächsten einer Gesellschaft treffen. Auch das kann kurz-, mittel- und langfristig die Gesundheit von Menschen schädigen und zum Tod führen. Zum Teil sind diese Ungerechtigkeiten in einer Pandemie-Lage leider nötig, weil man sonst bis auf Großveranstaltungen wie Messen, Konzerte, Kongresse, Sportevents alles auf einen Schlag unter entsprechenden Auflagen wiedereröffnen müsste.

Da unsere Gesellschaft aber nicht so diszipliniert ist, dass sich alle an die Auflagen halten würden, wäre das mit Blick auf die Ausbreitung des Virus zu gefährlich. Es geht weiterhin um die Entwicklung der Infektionszahlen. Erst eine schrittweise Lockerung des Lockdowns bietet die Chance, Auswirkungen einigermaßen zu kontrollieren und gegebenenfalls wieder gegenzusteuern. In den vergangenen Tagen hatte es einen gefährlichen politischen Wettkampf bei den Forderungen nach den schnellsten und weitgehendsten Aufhebungen der Einschränkungen gegeben – angeführt von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. Dem musste Einhalt geboten werden.

Die Bundesregierung darf nicht nur durch die Wissenschaft beraten werden

Die gravierendsten Verzerrungen in der Exit-Strategie allerdings könnten sich vermeiden lassen, wenn die Beratung der Bundesregierung besser aufgestellt wäre, denn zum Teil scheinen die Ungerechtigkeiten dem zu starren Blick durch die wissenschaftliche Brille geschuldet zu sein.

Um die Corona-Pandemie, das Virus SARS-CoV-2 und die Krankheit Covid19 verstehen und behandeln zu können, waren in den vergangenen Wochen Epidemologinnen, Virologinnen oder Pneumologinnen die ersten Ansprechpartner. Auch künftig werden sie zentral bleiben. Aber wie der Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, Christian Drosten, richtig betont hat, Wissenschaft kann keine Politik machen.

Bereits vor einer Woche hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Nationale Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina, hervorgehoben und als "sehr wichtig" für die jetzigen Entscheidungen über das weitere Vorgehen bezeichnet. An deren "Studie", sagte Angela Merkel, "sind dann natürlich nicht nur Virologen und Epidemiologen beteiligt, sondern auch Wirtschaftsexperten, Soziologen und Ethiker, also Menschen, die das gesamte gesellschaftliche Leben im Blick haben und damit auch die richtigen Abwägungen treffen können."

Ist das wirklich so? Und hat die Leopoldina tatsächlich eine "Studie" vorgelegt? "…sollten die Kitas für die jüngeren Jahrgänge bis zu den Sommerferien weiterhin im Notbetrieb bleiben", hieß es in ihrem Papier. Ein solcher Satz ist ein kleiner Schritt für einen Expertenrat, aber ein Riesenschritt für Eltern, insbesondere für Frauen. Zum Schutz vor dem Coronavirus schlug die Leopoldina folglich vor, Millionen Kinder weiterhin wochen- und monatelang nicht professionell betreuen zu lassen. Das würde bedeuten, Millionen Eltern, vor allem Alleinerziehende und darunter insbesondere Frauen, die schon Schwierigkeiten haben, nach einer Mutterschaft wieder in den Job zurückzukehren, sollen in unserer Industriegesellschaft bis zum Sommer alles allein machen. Wie kommt so eine realitätsferne Einschätzung zustande?

Die Zusammensetzung der Gremien ist aufschlussreich

Ein Indiz: Schaut man sich die Zusammensetzung des Expertenrats an, zählt man 26 Professorinnen und Professoren. Genauer gesagt, zählt man 24 Professoren und 2 Professorinnen. Ein erstaunlicher Frauenanteil von 0,08 für ein Gremium, das Empfehlungen für eine gesamte Gesellschaft machen soll. Im nordrhein-westfälischen Expertenrat, Armin Laschets Pendant zur Leopoldina, beträgt die Frauenquote 41 Prozent. Der Tenor dieses Papiers ist ein anderer: Kinderbetreuung in Kitas und die (Teil-)Öffnung von Schulen "kann Beschäftigten und Selbstständigen wieder Freiräume verschaffen."

Selbstverständlich ist es reine Spekulation, als Erklärung für die unterschiedliche Schwerpunktsetzung den Anteil an Frauen anzuführen. Aber ich halte es zumindest nicht für ausgeschlossen.

Gleichsam erstaunlich: die Leopoldina-Experten wollen den eigenverantwortlichen Umgang der Menschen mit der Corona-Situation fördern. Sie raten zum Beispiel zu "qualifizierten Hilfsangeboten wie Hotlines und Webseiten zum Umgang mit Ansteckungsgefahren, Angst, Depression, häuslicher Gewalt etc.“ Hier schimmert der akademische oder bildungsbürgerliche Hintergrund der Mitglieder durch, die sich allesamt in einer vergleichbaren sozialen Lage befinden dürften. Egal wie "niederschwellig" und "barrierefrei" solche Hotlines und Webseiten sind, nur gebildete Menschen respektive solche mit hoher Resilienz und Problemlösungskompetenz nehmen so ein Angebot wahr. Ein Großteil derjenigen, die Hilfen benötigen, ist jedoch nicht in der Lage, selbst aktiv zu werden. Warum wohl gibt es so etwas wie aufsuchende Sozialarbeit oder Streetwork? Kurzum: Die Empfehlung für Hotlines und Webseiten ist absolut unzureichend.

Praktiker haben andere Blickwinkel – diese sind wichtig

Die Diskrepanz zur sozialen Realität, die man der Leopoldina attestieren kann, hat also möglicherweise auch mit einem mangelnden Praxisbezug zu tun. Der NRW-Expertenrat legt hier wiederum einen anderen Schwerpunkt. Und interessanterweise sind darin auch Menschen, die nah an der Praxis sind: eine Unternehmerin, eine Managerin, ein Psychologe und eine Sozialpädagogin.

Die Leopoldina ist ein rein wissenschaftliches Gremium. Allerdings wird hier keine Forschung betrieben. Somit hat sie keine "Studie" vorgelegt, wie Merkel meinte, sondern eine "Ad-hoc-Stellungnahme" – also eine relativ kurzfristige, zur Sache passende Meinungsbekundung. Die Mitglieder beraten sich und schreiben Empfehlungen. Das tun sie aufgrund ihrer wissenschaftlichen Expertise, aber auch aufgrund ihrer persönlichen Lebenserfahrungen, Wertorientierungen und Alltagseinstellungen. Man darf nicht davon ausgehen, nur weil hier Wissenschafter zusammensitzen, dass automatisch objektiv geurteilt wird. Deshalb spielt die Zusammensetzung der Runde eine Rolle und muss bei der Bewertung der Empfehlungen von der Politik berücksichtigt werden.

Fazit: Die Beratung der Bundesregierung in der Corona-Krise ist mit der Leopoldina allein nicht gut aufgestellt. Der Leopoldina gehört ein Rat aus Praktikern und Praktikerinnen zur Seite gestellt oder ähnliches, um die Praxisperspektive einzubeziehen. Theorie und Praxis stehen im Alltag nicht umsonst nebeneinander. Wenn Gesetze in normalen Zeiten erlassen werden, gibt es Zeit für Expertenanhörungen und anderweitiges Einholen von Know-how. Trotz des Krisen-Zeitdrucks darf darauf nicht gänzlich verzichtet werden, zumal auch nicht nachvollziehbar ist, warum etwa Schulen, Kitas und andere Einrichtungen nicht schon mit Erlass des Lockdowns von der Politik den Auftrag bekommen haben, sich auf die Wiedereröffnung vorzubereiten, sondern dies erst jetzt in den kommenden Wochen tun sollen.

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Es mag die Aufgabe von Politik sein, das Machbare abzuwägen. Als Bürgerin hätte ich jedoch in der Corona-Krise ein deutlich besseres Gefühl, wenn ich wüsste, die Bundesregierung würde nicht so zugespitzt auf Theoretiker und Theoretikerinnen hören.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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