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"Anne Will" zur Thüringen-Wahl: 30 Jahre Einheit und der Erfolg von AfD und Linke


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TV-Kritik "Anne Will" zur Thüringen-Wahl
"Totale Auskehr der Demokratie"

Eine TV-Kritik von David Heisig

Aktualisiert am 28.10.2019Lesedauer: 4 Min.
Talkrunde bei "Anne Will": In der Sendung diskutierten die Gäste die Ergebnisse der Thüringen-Wahl.Vergrößern des Bildes
Talkrunde bei "Anne Will": In der Sendung diskutierten die Gäste die Ergebnisse der Thüringen-Wahl. (Quelle: ARD)

Das Wahlergebnis in Thüringen lässt manche jubeln, das gesamtpolitische Gros steht aber ratlos da. Anne Will versuchte, den Erfolg von AfD und Linken in der Gesamtschau zu 30 Jahren Einheit einzuordnen.

Die Gäste

  • Sahra Wagenknecht (Die Linke), Fraktionsvorsitzende im Bundestag
  • Ines Geipel, Publizistin
  • Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt
  • Georg Pazderski (AfD), stellvertretender Bundessprecher
  • Oliver Decker, Rechtsextremismus-Experte und Demokratieforscher
  • Cornelius Pollmer, Ostdeutschland-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung"

Die Positionen

Viele Optionen zur Regierungsbildung bleiben in Thüringen nicht. Für Haseloff eine Denksportaufgabe. Die sicherste Stimmenmehrheit im Parlament verheißt eine bis dato von den politischen Entscheidern ausgeschlossene Konstellation: Rot-Schwarz mal anders. Warum eigentlich nicht, lautete daher die nahe liegende Frage von Will an Haseloff. "Wir haben in den letzten Jahren grundsätzlich gemerkt, dass wir Fallgestaltungen haben, die es bisher noch nicht gegeben hat", bezog der sich auf zurückliegende Wahlergebnisse.

Deutlicher war sein Statement, dass die Mitte keine Mehrheit mehr habe. Will rechnete Haseloff vor, dass 68 Prozent der CDU-Wähler im Land dafür plädierten, eine Koalition mit der Linken nicht grundsätzlich auszuschließen. Haseloff scheute sich ein wenig, hier klare Kante zu zeigen, sprach davon, dass der Wahlsieger und Landesvater Bodo Ramelow (Die Linke) linke Positionen nicht in den Vordergrund gestellt habe und die Union nicht von klaren Prinzipien abweichen würde. Wagenknecht sah es natürlich anders. "Ramelow verkörpert die Mitte", meinte sie. Er habe durch sein "Kontraprogramm zur CDU" den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt, etwa durch die Einhaltung des Tariftreuegesetzes oder die Einstellung von mehr Lehrern und Polizisten. CDU und SPD sollten darüber nachdenken, warum sie die Mitte nicht mehr erreichten.

Der Aufreger des Abends

Was macht den Erfolg der AfD in Thüringen aus, will Will wissen. Decker versuchte die Antwort analytisch: Die Bindung von Wählern an einzelne Parteien lasse nach. Eine Ursache sei die Polarisierung und Radikalisierung von Positionen. Die Themen, die bewegen, seien breiter geworden, die Identifizierung mit einem Leitthema einer Partei – zum Beispiel soziale Marktwirtschaft bei der Union – gebe es nicht mehr. Hauptaufgabe der neuen Koalition in Thüringen sei es, der Verunsicherung in der Bevölkerung zu begegnen.

Pazderski witterte beim Stichwort Radikalisierung sofort AfD-Bashing. Seine Partei werde gewählt, weil die anderen Parteien die Themen nicht aufgriffen, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Seine Conclusio? "Die AfD ist das größte Demokratieprojekt der letzten Jahre." Seine Partei tue etwas gegen die Politikverdrossenheit und bringe die Menschen an die Wahlurne. Haseloff reagierte echauffiert: Nichtwähler wählten in großer Mehrzahl die AfD. Aber nicht, weil sie sie gut fänden, sondern weil sie enttäuscht seien. Pollmer zeigte sich entsetzt, dass ein Viertel in Thüringen den extremen Rand gewählt haben. Pazderski bediente gewohnte Trotzmuster: "Die AfD ist eine demokratische Partei". Decker warf trocken ein: "demokratisch gewählt, aber keine demokratische Partei". Die Spirale bewegte sich kontinuierlich abwärts.

Ein Einspieler legte dar, dass der Verfassungsschutz den "Flügel", eine AfD-Gruppierung rund um Björn Höckes, den Spitzenkandidaten der AfD in Thüringen, wegen extremer Bestrebungen als Verdachtsfall behandle. Decker legte nach: Studien von 2002 bis 2018 zeigten, dass 50 Prozent der AfD-Anhänger antisemitischen Aussagen zustimmten. Die AfD baue Hemmschwellen im öffentlichen Diskurs ab, agiere gegen die liberale demokratische Grundordnung. Der AfD-Mann tat das alles als Unsinn ab. Als Geipel betonte, die Ostdeutschen wählten extremer, weil sie sich für eine Diktatur zwischen Rot und Braun entscheiden mussten, sagte Pazderski: "Wenn sie ein Problem mit ihrer Vergangenheit in der DDR haben, ist das ihr Problem". Ein Tiefpunkt. Denn es konterkarierte das, um was der Rest der Runde bemüht war: Die gesellschaftlichen Hintergründe zu verstehen. Und warum es in der Wiedervereinigung noch vieles aufzuarbeiten gilt.

Das Zitat des Abends

Das kam von Geipel auf die Frage von Will, ob das Wahlergebnis in Thüringen nicht eine Art Vollendung der Wende sein könne, wenn Union und Linke in einer Regierung zusammenarbeiten würden. Geipel hingegen malte eine eher düstere Vision: Die Wahl sei eine "totale Auskehr der Demokratie", ein trauriger Tag, weil das Ergebnis nur zu einen "Kuschelkurs ohne Inhalte" oder zur "Radikalisierung" führe. Die grundsätzliche Frage sei, was in 30 Jahren an demokratischer Arbeit geleistet, wie die Doppeldiktatur im Osten aufgearbeitet worden sei. "Wir wollten Freiheit, wir wollten ein selbstbestimmtes Leben. Und hier schreiben sich die Bürger durch die Wahl ja selber aus der Demokratie heraus."

Der Faktencheck

Thema der Runde war auch die soziale Spaltung der Gesellschaft als Grundlage für Wahlentscheidungen. Während Haseloff die Rechnung aufstellte, die Thüringer seien mehrheitlich zufrieden, betonte Wagenknecht, mit der Union sei "nicht mal die Grundrente machbar." Es gebe im Sozialstaat immer mehr Verlierer und wenige Gewinner. Die Mitte müsse härter kämpfen, um überleben zu können. Die unteren 40 Prozent der Bevölkerung hätten an Wohlstand verloren. Fakt ist: Die Welt ist so reich wie noch nie. In der Tat sind in Deutschland die Vermögen jedoch ungleich verteilt.

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