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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bodo Ramelow "Den Menschen wurde der Stolz auf ihre Heimat genommen"
Bodo Ramelow kämpft am 27. Oktober um die Wiederwahl als Ministerpräsident von Thüringen.
Die Vorzeichen waren nicht die besten, als Bodo Ramelow vor fünf Jahren das Amt des Ministerpräsidenten von Thüringen antrat. Seiner rot-rot-grünen Koalition wurde das vorzeitige Scheitern prophezeit, noch bevor sie die Arbeit aufgenommen hatte: Ein Bündnis mit einem linken Regierungschef an der Spitze, mit nur einer Stimme Mehrheit im Landtag – das konnte doch nur schiefgehen.
Ging es nicht. Nach Meinung der Thüringer hat Ramelows Mannschaft in den fünf Jahren durchaus ordentliche Arbeit geleistet. Der Landesvater, wie auch seine Regierung, kommen auf beachtliche Beliebtheitswerte. Umfragen sagen Ramelows Linken sogar ein Stimmenplus bei der Wahl am 27. Oktober voraus. Doch weil die Koalitionspartner schwächeln, steht in den Sternen, wie es nach der Wahl weitergeht.
Wenige Wochen vor der Landtagswahl hat t-online.de den Ministerpräsidenten zum Interview in Erfurt getroffen und mit ihm über die komplizierte politische Lage gesprochen, über das Duell mit Björn Höcke, seine Verbundenheit mit dem Freistaat und den Zorn vieler Thüringer wie Ostdeutscher beim Blick zurück auf die Wende.
t-online.de: Herr Ramelow, sind Sie gern Einzelkämpfer?
Bodo Ramelow: Ich habe die Kunst des Einzelkampfes lernen müssen. Ich bin Legastheniker, allerdings wurde mir diese Diagnose erst im 20. Lebensjahr gestellt. Während meiner Schullaufbahn war noch die freundlichste Botschaft an meine Mutter: Er ist hochintelligent, aber stinkend faul. Das war keine einfache Zeit. Inzwischen bin ich zum Teamplayer geworden. Ein Ministerpräsident kann nur im Team bestehen, als Einzelkämpfer hätte ich das nie geschafft.
Von Ihrer Partei können Sie im Moment eher keine Rückendeckung erwarten. Sie müssen es alleine richten.
Ich habe kein Parteiamt und konzentriere mich auf meine Aufgaben als Ministerpräsident für Thüringen. Ich habe eine tolle Landespartei und mit Susanne Hennig-Wellsow eine starke junge Frau als Landes- und Fraktionsvorsitzende an meiner Seite. Wir kommen aus unterschiedlichen Generationen und sind in unterschiedlichen Lebenswelten unterwegs. Davon kann ich lernen. Das geht nur mit einem hohen Maß an Offenheit.
Die Umfragen sagen, dass es bei der Landtagswahl wahrscheinlich mit Rot-Rot-Grün nicht noch einmal klappt.
Die Umfragen sahen für Rot-Rot-Grün noch nie gut aus. Aber wir haben einen hohen Sympathiewert, den höchsten aller ostdeutschen Landesregierungen. 56 Prozent der Wähler sind mit unserer Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden. Auch ich persönlich erfahre eine hohe Zustimmung, ebenso wie Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee von der SPD. Paradox ist, dass meine Partei davon profitiert, Wolfgang Tiefensees SPD nicht. Es scheint, als würden ihm und der Thüringer SPD der Streit und die Entscheidungen in der großen Koalition angelastet.
Und Sie können den Streit, den es in Ihrer Partei ja gibt, erfolgreich abblocken?
In der großen Koalition agieren zwei Partner zusammen, die nicht wirklich zusammengehören wollen, um einen Satz von Willy Brandt umzudrehen. Und das bekommt die SPD in Thüringen ab. In unserer Partei gab es schon immer Streit. Abgesehen davon liegen wir bundesweit immer noch stabil bei acht Prozent.
Wie erklären Sie sich die Niederlagen bei den Landtagswahlen in Sachsen und in Brandenburg?
Das hatte sehr viel mit der aktuellen politischen Polarisierung zu tun. Ich kenne Stammwähler der Linken in Sachsen, die diesmal die CDU gewählt haben. Wahlforscher beziffern ihre Zahl auf insgesamt 8.000. Abgesehen von dem Umstand, dass meine Partei Federn lassen musste. Positiv zu vermerken sind die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung, aber auch der in der Bestätigung des jeweiligen Ministerpräsidenten zum Ausdruck kommende Wunsch einer deutlichen Mehrheit, die Instrumente der Demokratie nicht den Demokratieverächtern zu überlassen. Einen AfD-Politiker als Parlamentspräsidenten möchte ich mir nicht vorstellen.
Nun könnte sich aber nach der Landtagswahl die Frage einer Minderheitsregierung stellen. Könnten Sie damit leben?
Ich kämpfe für eine rot-rot-grüne Mehrheit. Ich strebe keine Minderheitsregierung an, sie wäre aber auch kein Weltuntergang. Ich hätte mir gewünscht, Frau Merkel hätte nach dem Scheitern von Jamaika dafür die Kraft gehabt. So etwas wäre auch mal eine politische Lockerungsübung für Deutschland gewesen.
Aber kann das in Thüringen auch funktionieren? Zwischen Ihrer Partei und der CDU liegen Welten.
Das ist eine rein theoretische Betrachtung, die keinerlei Einfluss auf die praktische Politik hat. Ich darf daran erinnern, dass bis vor einigen Jahren eine Dreierkoalition als undenkbar galt, schon gleich eine mit nur einer Stimme Mehrheit. Ich habe keine Abstimmung mit nur einer Stimme gewonnen. Ich habe es also offensichtlich geschafft, auch andere zur Zustimmung zu bewegen. Das gilt in einzelnen Sachfragen natürlich auch für die CDU. Die Re-Kommunalisierung des größten Energieversorgers in Thüringen, der TEAG, haben wir im Landtag gemeinsam auf den Weg gebracht. Damals war ich noch Oppositionsführer und Frau Lieberknecht Ministerpräsidentin. Ich wüsste nicht, warum so etwas künftig nicht auch möglich sein sollte.
Ihre Kritiker sagen, Sie haben schon für eine Minderheitsregierung vorgebaut mit der Verabschiedung des Haushalts 2020, also für das Jahr nach dem Ende Ihrer aktuellen Amtszeit. Die Opposition war erbost und sprach von Verfassungsbruch.
Wortreich von Verfassungsbruch zu reden, dann aber nichts weiter zu unternehmen, entlarvt sich selbst als leeres Gerede.
Die CDU hat ein Gutachten erstellen lassen, das zu diesem Urteil kommt.
Dass ein von der CDU in Auftrag gegebenes Gutachten die politische Auffassung der CDU wiedergibt, überrascht mich jetzt nicht wirklich. Aber dann sollten sie auch konsequent sein und das Verfassungsgericht anrufen. In Hessen und in Sachsen haben CDU-geführte Regierungen vor Landtagswahlen einen Haushalt für das darauffolgende Jahr beschlossen. Aber weil es in Thüringen ein Linker macht, soll es auf einmal Verfassungsbruch sein? Das ist albern.
Die Landtagswahl in Thüringen steht noch einmal besonders im Fokus. Ein linker Ministerpräsident gegen einen harten Rechtsaußen. Spüren Sie diese Polarisierung?
Das war in Sachsen oder in Brandenburg vorher nicht anders, im Hinblick auf die Polarisierung zwischen dem Amtsinhaber und der AfD. Die AfD wird mittlerweile maßgeblich von Höckes "Flügel" geprägt. Von Leuten somit, die ständig mit rechtsextremen Versatzstücken spielen, die die NS-Zeit zum Vogelschiss verharmlosen und so weiter. Diese Leute sind angetreten, die demokratischen Instrumente zu nutzen, um die Demokratie lahmzulegen oder vorzuführen.
Das scheint ein Viertel der Wähler nicht mehr abzuschrecken.
Das Einzige, was die AfD zu bieten hat und zusammenhält, ist Empörung. Aber wenn die einzige Antwort auf diese Empörung die Empörung über die AfD ist, dann fühlen sich deren Sympathisanten bestätigt. Sie sehen, dass ihre Probleme nicht angepackt werden, dass Versprechen, die man ihnen gemacht hat, nicht eingehalten werden.
Woher kommt die Empörung?
Viele Menschen aus der ehemaligen DDR fühlen berechtigten Unmut. Es sind im Zuge der Vereinigung Fehler gemacht worden. Die geschiedenen Ehefrauen als mithelfende Ehefrauen in Kleinbetrieben – eine Rentenkategorie, die es im Westen nicht gibt – wurden im Einigungsvertrag schlicht übersehen. Das kann passieren. Was nicht passieren darf, ist aber, dass dieser Fehler bis heute nicht repariert wurde und die Frauen immer noch auf ihre Rente warten. Es gibt eine Vielzahl solcher Fälle, und sie sorgen für Empörung und Verbitterung.
In der Nachwendezeit mit ihren Umwälzungen ist für viele Menschen in Ostdeutschland, auch hier in Thüringen, ein Stück Heimat weggebrochen. Begegnet Ihnen das heute noch, wenn Sie im Bundesland unterwegs sind?
Das sind zwei verschiedene Ebenen. Die Heimat mit ihren Menschen ist ja noch da. Aber den Menschen hier wurde vielfach der Stolz auf ihre Heimat und ihre Leistungen genommen. Kein Wunder, wenn man den Menschen immer wieder zu verstehen gibt, sie seien undankbare Ostdeutsche, die gerne die Hand aufhalten, den Soli kassieren, aber nichts zum Gemeinwohl beisteuern. Oder schauen Sie auf die Unternehmen. Wir haben viele Industriewerke, die weltweit Maßstäbe setzen, die hochproduktiv sind. Und dann bekommen sie zu hören, die Produktivität des Ostens sei so schlecht, weil der ländliche Raum das Geld kriegt. Das hat mit Ratschlägen nichts mehr zu tun, das sind nur noch Schläge. Das spüren die Menschen, und das macht sie wütend.
Sie leben seit fast 30 Jahren hier in Thüringen. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben aus der Wendezeit?
Mich hat zuerst einmal mitgerissen, wie viel positive Energie am Anfang der Wendezeit da war. Die Neugier, sich in etwas Unbekanntes hineinzubegeben. Dann aber änderte sich die Politik der Treuhand. Ihr ursprünglicher Auftrag bestand ja darin, die Umwandlung zu begleiten, damit die Betriebe eigenständig am Markt agieren können. Sie war nicht als konstruktives Instrument gedacht. Aber dann wurden ganze Betriebe abgewickelt, auch produktive. Das Beispiel des Kalibergbaus in Bischofferode 1993 ist für mich immer noch das bitterste. Wochenlang wurde in Thüringen gestreikt. Auch das wirkt bis heute nach. Was noch schlimmer ist: Diese Politik der Treuhand hat den Menschen die Kraft der Nachwendezeit systematisch genommen. Darunter leiden die neuen Länder noch heute.
Was hilft dagegen?
Wir sagen den Menschen: Schaut auf das, was ihr selber geschafft habt. Schaut, wo ihr stark seid. Ein Beispiel: Die Firma ASML in Eindhoven baut 90 Prozent aller Chipfabriken weltweit. Wer heute von Digitalisierung redet, braucht eine Fabrik von ASML. Aber man muss wissen: Die Hauptschlüsseltechnologie dafür kommt von Jenoptik und von Carl Zeiss aus Jena und weiteren rund 300 Betrieben, die da als Zulieferer fungieren. Die können nicht ohne uns und wir nicht ohne die. Hier aber weiß das keiner. Wir sind ein starker Teil Europas. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt aller 28 europäischen Staaten stünden wir als ganz kleines Land mit 2,16 Millionen Einwohnern schon auf Platz 19. In Deutschland liegen wir, gemessen auf 1.000 Einwohner, immerhin auf Platz vier bei den Industriearbeitsplätzen. Ich hoffe, dass daraus eine Kraft entsteht zu sagen: Hey, wir rocken das.
Wo Sie von Verbundenheit sprechen: Sie hatten im Interview mit t-online.de im vergangenen Jahr geschildert, wie wichtig Ihnen der Begriff Heimat ist, und dass Sie ihn sich nicht von Rechten wegnehmen lassen. In Ihrer Partei kam das nicht bei jedem gut an.
Viele, die sich links verorten, verwechseln Heimat oftmals mit Heimattümelei, Nationalismus und Chauvinismus. Diese Gleichsetzung greift mir zu kurz. Es ist eine Frage der Definition, was ich mit dem Begriff ausdrücken möchte. Heimat ist für mich dort, wo meine Empfindung ist. Als wir in Deutschland das berühmte Sommermärchen 2006 hatten, habe ich in Berlin gelebt und sah in Neukölln Kinder syrischer, türkischer und anderer Herkunft mit Deutschlandfahnen. Denen zu unterstellen, sie seien Nationalisten oder Chauvinisten, ist doch bescheuert. Sie haben damit ein Gefühl ausgedrückt, dass sie Deutschland verbunden sind.
Schauen wir nach Thüringen: Sie können ordentliche Wirtschaftsdaten vorweisen. Aber der Niedriglohnsektor ist weiterhin sehr groß.
Die CDU hat 20 Jahre lang bei Unternehmen mit dem Niedriglohnland Thüringen geworben. Das habe ich 20 Jahre lang scharf kritisiert. Es bedeutete unter anderem, spätere Altersarmut billigend in Kauf zu nehmen. Wir machen seit Regierungsantritt das Gegenteil. Wir werben für Tarifverträge, für Mitbestimmung, für gute Löhne. Ich bin davon überzeugt, dass wir den Standort nur erhalten können mit motivierten Arbeitnehmern, die gut bezahlt werden. Und es verändert sich gerade etwas. Im Schnitt dauert es für ein Unternehmen in Thüringen jetzt sechs Monate, eine offene Stelle neu zu besetzen. Das ist mit Niedriglöhnen nicht zu machen. Wir sind bei den Löhnen vom letzten Platz gestartet und liegen jetzt am drittletzten Platz. Tendenz steigend. In Südthüringen haben wir sogar die Situation, dass Arbeitnehmer aus Bayern einpendeln. Die kommen nicht für Niedriglohn hierher.
Insgesamt verliert Thüringen an Einwohnern. Wie versuchen Sie, das zu stoppen?
Die ostdeutschen Bundesländer haben in den vergangenen 30 Jahren einen riesigen Aderlass hinnehmen müssen. Vier Millionen Menschen sind in den Westen übergesiedelt. Wir brauchen einen Gegenverkehr. Wir stellen fest, dass die ersten umkehren und sich andere ihnen anschließen. Das unterstützen wir. Wir haben eine Agentur für Rückwanderer. Aber wir machen auch gezielte Einwanderungspolitik.
Erläutern Sie das bitte.
Vietnam ist für uns ein wichtiger Partner. Aktuell sind 340 Vietnamesen hier in Ausbildung, 220 junge Vietnamesen studieren hier. Unsere Ansprechpartner in Vietnam haben oft sehr gute Deutschkenntnisse, weil sie früher in der DDR gelebt haben. Mein Dolmetscher auf meiner Staatsreise nach Vietnam war früher im Wohnungsbaukombinat in Erfurt, wie er mir sagte. 80 Unternehmen haben mich auf der Reise begleitet, um dort Ausbildungsverträge zu unterschreiben. Da baut sich etwas auf und das hilft uns auch, so etwas wie ein kosmopolitisches Flair nach Thüringen zu bringen. Wir haben nicht einmal fünf Prozent Nichtdeutsche.
Wenn Sie von Anwerbung sprechen: Finden Sie hier nicht genügend Jugendliche?
Nein. Wir haben 6.000 unbesetzte Ausbildungsstellen. Vor 20 Jahren habe ich die Unternehmen bekniet: Nehmt doch noch einen Auszubildenden. Jetzt laufe ich den Jugendlichen hinterher und sage ihnen, bleibt hier und macht hier eure Ausbildung. Deswegen ist es mir wichtig, den Thüringern deutlich zu machen, wie wichtig Zuwanderung für uns ist.
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In Ihrer Partei gibt es Diskussionen darüber, wen sie eigentlich ansprechen wollen: Linksorientierte Menschen in den Städten oder eher die sozial Abgehängten?
Ich kann mit dieser Unterteilung überhaupt nichts anfangen. Ich bin für alle Bürger da. Die Frage ist, was müssen wir tun, um ein gut funktionierendes Zusammenleben in unserer Gesellschaft hinzubekommen. Wir müssen im Blick haben, was uns als Gesellschaft eigentlich zusammenhält und deshalb können wir uns beispielsweise niedrige Löhne und prekäre Beschäftigung gar nicht erlauben.
Aber schafft es die Linke aktuell noch, die Bedrängten anzusprechen, oder macht das die AfD erfolgreicher?
Es ist ein Irrtum, dass sich die AfD um die Bedrängten kümmert. Die einzigen, um die sich diese Partei kümmert, sind die Empörten. In Gera sitzen niedergelassene Ärzte für die AfD im Stadtparlament. Die sind weder bedrängt noch abgehängt. Ich will mich um die Gesellschaft kümmern. Und offenkundig scheint es mir zu gelingen. Da kann meine Partei gerne gucken, wie das in Thüringen funktioniert.
Herr Ramelow, vielen Dank für das Gespräch.