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Aufzeichnung von Vernehmungen: Polizisten fürchten Rache der Clans


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Aufzeichnung von Vernehmungen
Polizisten fürchten die Rache der Clans

Von Dietmar Seher

Aktualisiert am 15.07.2019Lesedauer: 3 Min.
Vernehmung eines Kindes (2002) in einer gestellten Szene in einem speziellen Verhörzimmer: Künftig müssen sehr viel mehr Vernehmungen auf Video aufgezeichnet werden.Vergrößern des Bildes
Vernehmung eines Kindes (2002) in einer gestellten Szene in einem speziellen Verhörzimmer: Künftig müssen sehr viel mehr Vernehmungen auf Video aufgezeichnet werden. (Quelle: Jochen Tack/imago-images-bilder)

Bei Mord und Totschlag muss die Polizei bald ihre Vernehmungen mit Videokameras aufnehmen. Viele Dienststellen sind dafür noch gar nicht ausgestattet. Werden sogar Beamte in Gefahr gebracht?

Ein kahles Zimmer. Zwei, drei Stühle. Ein Tisch und gegebenenfalls ein "venezianischer Spiegel", um das Vorgehen drinnen unbeobachtet von außen begleiten zu können. So spartanisch ausgestattet kennen Fernsehkrimi-Fans den klassischen Vernehmungsraum der Polizei. In Deutschland gehört das bald der Vergangenheit an.

Kritik der Gewerkschaften

Ab 1. Januar 2020 müssen weit mehr Vernehmungen von Beschuldigten als bisher audiovisuell aufgenommen werden. In vielen Polizeidienststellen und unter Gewerkschaftern führt das aktuell zu Ärger. Ihr Vorwurf: Es fehlt an den notwendigen Voraussetzungen, um in sechs Monaten zu starten.

Hintergrund: Videovernehmungen sind künftig Pflicht, wenn vorsätzliche Tötungsdelikte wie Mord und Totschlag aufzuklären sind oder es um die Einvernahme von Minderjährigen oder Personen mit eingeschränkt geistigen Fähigkeiten geht, denen eine Haftstrafe droht. Das schreibt der geänderte Paragraf 136 der Strafprozessordnung vor, den der Bundestag 2017 verabschiedet hat. Bisher ist die Videoaufnahme nur üblich, wenn es um Sexualdelikte geht und betroffenen Kindern die direkte Aussage vor den Gerichten erspart werden soll.

Richter sollen besseren Überblick bekommen

Das Parlament setzt mit der Änderung eine Vorgabe der EU zur Stärkung der Beschuldigtenrechte um. Das Ziel: Richter sollen sich in den Hauptverhandlungen ein besseres Bild von den Fragen der Polizisten und den Antworten der Beschuldigten in den ersten Einvernahmen machen können. In der Vergangenheit hatte es durchaus Probleme mit dem Vorgehen der Beamten in Vernehmungen gegeben – wie beispielsweise 2002 in dem bis heute ungeklärten Mordfall Peggy Knobloch in Bayern.

Doch ein halbes Jahr vor dem Start der neuen Regeln ist ein Großteil der Polizeidienststellen, Staatsanwaltschaften und Gerichte noch nicht mit den nötigen Videokameras, Mikrofonanlagen und anderen elektronischen Einrichtungen ausgestattet. Es fehlen notwendige Räume. Polizeigewerkschaften erwarten erhebliche Mehrarbeit, weil bei Videoaufzeichnungen das weiterhin notwendige schriftliche Protokoll wortgetreuer ausfallen muss. Vor allem: Es mangelt an klaren Vorgaben, wer auf den Videos zu sehen sein muss und wer die Aufnahmen wie verwenden darf.

"Wer muss verpixelt werden?"

Frank Schniedermeier, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen, hält viele Fragen für offen: "Wer darf aufgenommen werden? Nur der Beschuldigte? Der vernehmende Beamte? Der Rechtsanwalt? Der Dolmetscher? Wer muss eventuell verpixelt werden?" Schniedermeier ist selbst Kommissariatsleiter in Dortmund. Er warnt im Gespräch mit t-online.de sogar davor, dass persönliche Angriffe auf Polizeibeamte künftig eher möglich werden.

"Rechtsanwälte haben die Möglichkeit, für die Vertretung ihrer Mandanten Akteneinsicht zu fordern", sagt er. "Dazu gehört aus meiner Sicht dann auch die Videografie. Er muss seinen Mandanten davon in Kenntnis setzen. Ich habe große Sorge, dass solche Daten über Social Media verbreitet werden könnten. Das kann im Bereich der Clankriminalität dazu führen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen identifiziert werden und von der entsprechenden Klientel angegangen werden."

Gewerkschaft fürchtet Engpässe

Ein Kernproblem der zum 1. Januar umzusetzenden tiefgreifenden Veränderungen der Vernehmungspraxis in Deutschland ist die videotechnische und räumliche Ausstattung der Polizeidienststellen. "Das wird eng", sagt Dirk Peglow, Bundesvize des Bundes Deutscher Kriminalbeamten. Peglow ist Landesvorsitzender in Hessen und kennt die Lage der Polizei in Frankfurt am Main. "Dort gibt es bisher nur zwei Räume, die geeignet sind."

Das sei viel zu wenig, wenn alle Dienststellen, die sich mit Kapitalverbrechen und Jugendkriminalität beschäftigten, betroffen seien und bundesweit jährlich allein 2.500 Tötungsdelikte bearbeitet werden müssten. "Schließlich brauchen wir unter Umständen neben stationären auch mobile Lösungen zum Beispiel bei audiovisuellen Vernehmungen in Gefängnissen und Krankenhäusern", sagte er t-online.de.

Erste Prognosen in Bundesländern

In mehreren Bundesländern wird derzeit eine Bedarfsanalyse gemacht. In Hamburg gibt es zwei Räume, die Beschaffung von zehn Koffern für mobile Videovernehmung ist geplant, meldet der "Behördenspiegel". Bekannt sind auch erste Prognosen des NRW-Justizministeriums. Danach gibt es in den 47 Polizeibehörden des bevölkerungsreichsten Landes mit ihren 530 Kriminalkommissariaten einen Mehrbedarf von 1.060 Vernehmungsräumen.

Polizeigewerkschaftler Schniedermeier sieht deutlichen Nachholbedarf: "Nur ein kleiner Teil der Behörden ist ausreichend ausgestattet. Ich glaube, wir müssen deutlich aufrüsten und das ist bisher nicht geschehen." Peglow verweist zudem auf die rechtlichen Unsicherheiten, wenn die Umrüstung nicht rechtzeitig zum 1. Januar abgeschlossen werden kann: "Ich bin gespannt, ob die Vernehmungen nach der heute üblichen schriftlichen Methode überhaupt noch verwendet werden dürfen."


Die Kosten für den großen Umbau müssen die Länder und Behörden tragen. Laut Bundesregierung fallen dafür pro Vernehmungsraum zwischen 15.000 und 140.000 Euro an. Deutschlandweit rechnet die Bundesregierung mit einem Umbau- und Beschaffungsaufwand von 8,5 Millionen Euro – ohne die notwendigen Aufwendungen für die Fortbildung der Polizisten und den späteren Unterhalt.

Verwendete Quellen
  • eigene Recherchen
  • Bundestags-Drucksache 18/11277
  • Behörden-Spiegel, Mai 2019
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