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Tag der Deutschen Einheit: Warum Ost und West nur mühsam zusammenwachsen


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Tag der Deutschen Einheit
Warum Ost und West nur mühsam zusammenwachsen

MeinungEin Gastbeitrag von Klaus Schroeder

Aktualisiert am 03.10.2018Lesedauer: 6 Min.
Kurz vor dem Mauerfall erreichen DDR-Flüchtlinge per Sonderzug die BRD: Auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung verlaufen Gräben durch die Gesellschaft. Trotzdem ist die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte.Vergrößern des Bildes
Kurz vor dem Mauerfall erreichen DDR-Flüchtlinge per Sonderzug die BRD: Auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung verlaufen Gräben durch die Gesellschaft. Trotzdem ist die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte. (Quelle: imago-images-bilder)
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Ostdeutsche nehmen Kritik an der DDR zu schnell persönlich, Westdeutsche müssen herunter vom hohen Ross. Noch ist sich Deutschland in Teilen fremd.

Der Zusammenbruch der sozialistischen Diktatur in der DDR öffnete 1989/90 die Tür zur Wiedervereinigung. Sie erfolgte am 3. Oktober 1990 jedoch nicht auf Augenhöhe, sondern es war der Beitritt eines kollabierenden deutschen Teilstaates zu einem größeren Kernstaat.

Fast alle DDR-Bewohner erstrebten die Einheit, um so schnell wie möglich so wie die Westdeutschen leben zu können. Diese wiederum wollten in ihrer weit überwiegenden Mehrheit weder den Lebensstil ihrer "Brüder und Schwestern" noch die "sozialistischen Errungenschaften der DDR" übernehmen. Aus dieser Ausgangslage erklären sich gleichermaßen identitätsstiftende ostdeutsche Trotzreaktionen, die sich schon kurz nach der Wiedervereinigung einstellten, sowie westdeutsche Überlegenheitsgefühle.

Beispielloser Wohlstandssprung im Osten

Der von der Bundesregierung betriebene konsumorientierte Transformationspfad führte zu einer schnellen Angleichung des Wohlstandes. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 1989 in der DDR bei gerade einmal einem Drittel des westdeutschen Niveaus und entsprach damit dem Mitte bis Ende der Fünfziger Jahre in der Bundesrepublik erreichten Stand.

Die Überlegenheit der westdeutschen Wirtschaft zeigt sich noch deutlicher, wenn die Produktivität betrachtet wird. Je nach Berechnungsmethode erzielte die DDR hier nur etwa 13 bis 30 Prozent des westdeutschen Niveaus. Gemessen an dieser Ausgangslage lässt sich in den ersten fünf Jahren nach der Vereinigung ein historisch beispielloser Wohlstandssprung verzeichnen.

Kaufkraft unterscheidet sich

Heute erreichen unter Berücksichtigung fortbestehender regionaler Kaufkraftunterschiede die ostdeutschen Haushaltseinkommen durchschnittlich etwa 85 bis 90 Prozent des Westniveaus. Die Wirtschaftskraft je Einwohner liegt aber nur bei etwa 70 Prozent und die Produktivität bei gut 75 Prozent des Westniveaus. Die Wohlstandsangleichung erfolgte in den ersten Jahren des Transformationsprozesses – seither blieb der Abstand in etwa gleich. Die ostdeutsche Wirtschaft hinkt der westdeutschen immer noch 25 bis 30 Jahre hinterher, so dass eine Konvergenz, wenn überhaupt, erst in einigen Jahrzehnten erreicht sein wird.

Auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung verdankt sich der Lebensstandard der ostdeutschen Bevölkerung weiterhin auch beträchtlichen finanziellen West-Ost-Transfers. Die vor allem in den sozialen Sektor fließenden Zuwendungen betragen inzwischen etwa 2 Billionen Euro. Hierdurch gelangen eine soziale Abfederung des Transformationsprozesses und eine weitgehende schnelle Wohlstandsangleichung zwischen Ost und West.

Politische und mentale Unterschiede

Der aufgrund unterschiedlicher und zum Teil gegensätzlicher Sozialisationen und Erfahrungen anfängliche breite politische und mentale Graben hat sich in nennenswerten Teilen der Bevölkerung eher verfestigt als verkleinert. Differenzen bestehen im Wahlverhalten, im politischen und ehrenamtlichen Engagement sowie in den Einstellungen zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Auf diesen Feldern ist in den vergangenen 28 Jahren nur mühsam etwas zusammengewachsen.


Die neuen Institutionen sind bis zum heutigen Tag vielen Ostdeutschen fremd geblieben. Die Ernüchterung über die Realität führte nicht nur bei ewig Gestrigen zu einer Renaissance sozialistischen Gedankenguts, wonach die kapitalistische Bundesrepublik von sozialer Kälte beherrscht werde, auch Normalbürger sehen sich als vom Westen bzw. vom Kapitalismus unterdrückt und ausgebeutet.

Ostdeutsche werden in "rechte Ecke" gerückt

Ostdeutsche sind seit Anfang der Neunziger Jahre empfänglicher für extremistische und populistische Parteien. Diese erzielten nicht nur bei Landtagswahlen, sondern auch bei Bundestagswahlen deutlich bessere Ergebnisse als im Westen. Bei der letzten Wahl im Herbst 2017 erreichten links- und rechtspopulistische Parteien zusammen knapp 40 Prozent der Stimmen (West: 18,1 Prozent).

Gleichzeitig ist das rechtsextreme Personenpotenzial im Osten, das schon zu DDR-Zeiten relativ hoch war, deutlich größer als im Westen, mit der Folge, dass es in den neuen Ländern mehr als doppelt so viele rechtsextreme Gewalttaten wie in den alten gibt. Anstatt die Ursachen hierfür zu ergründen, rücken Kommentatoren oftmals die Ostdeutschen pauschalisierend in die "rechte Ecke". Als ein Beispiel können die Geschehnisse in Chemnitz und die mediale Verarbeitung der Vorgänge gelten, nachdem zwei oder drei Asylbewerber einen deutschen mutmaßlich in einem Streit töteten.


Einer Demonstration gewaltbereiter Neonazi-Hooligans hatten sich zunächst hunderte Bürger angeschlossen, die ihre Trauer über den getöteten Deutschen und ihre Abscheu gegenüber den Tätern zeigen wollten. Laut Polizei lenkten die rund 50 Gewaltbereiten das Demonstrationsgeschehen und gaben den Ton an. Es kam zu Angriffen auf Polizeibeamte, zu Parolen und Pöbeleien, zu Attacken auf jugendliche Ausländer.

Gemüter werden sich so schnell nicht beruhigen

Schnell war in den meisten überregionalen Medien aber die Rede von Rechtsextremen, die aufmarschiert seien. Regierungssprecher und Bundeskanzlerin sprachen von "Hetzjagden". Der Regierungssprecher sprach sogar von "Zusammenrottungen", die es gegeben habe. Offenbar weiß er nicht, dass dieser Begriff für einen mehr als fragwürdigen Straftatbestand in der DDR stand.

Die Gemüter werden sich angesichts der medialen Reaktionen und des Streits über den Begriff "Hetzjagd" zumindest in weiten Teilen Ostdeutschlands nicht so schnell beruhigen. Denn es demonstrierten in Chemnitz eben auch in den Folgetagen Bürger, selbst wenn Neonazis und Hooligans die Demonstrationen mit Bannern und Sprechchören dominierten. So waren beispielsweise nur etwa 2500 der rund 8000 Teilnehmer des AfD-"Schweigemarsches" dem Verfassungsschutz Thüringen als Rechtsextremisten bekannt.


Warum jemand zum Ausländerfeind erklärt wird, wenn er kriminelle Asylbewerber und so genannte Wirtschaftsflüchtlinge schnell abschieben will, leuchtet einer Mehrheit der Ostdeutschen, aber auch vielen Westdeutschen eben nicht ein. Und: Ist den Politikern und Journalisten bewusst, dass sie mit ihren pauschalisierenden und vorurteilsbehafteten Berichten und Kommentaren die ostdeutschen Wähler der AfD geradezu in die Arme treiben?

Die fortbestehende Entfremdung zwischen Ost und West zumindest bei Minderheiten lässt sich vor allem auf zwei Faktoren zurückführen: auf die jahrzehntelange Teilung und den sozialen Umbruch nach der Wiedervereinigung. Die ostdeutsche Gesellschaft kann aufgrund der jahrzehntelangen Prägungen durch den von Kommunisten errichteten und betriebenen Sozialismus und die sozialen Verwerfungen im Transformationsprozess als postsozialistische Gesellschaft charakterisiert werden, die viele Gemeinsamkeiten mit den Gesellschaften in anderen ehemaligen mittel- und osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion aufweist.

Schlichtes Weltbild in ostdeutschen Familien

Mit der Kritik am Westen und den regierenden Politikern geht in vielen ostdeutschen Familien eine Weichzeichnung der DDR einher, die an die junge Generation weitergegeben wird. Der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur ist vielen jungen Menschen nicht geläufig. Sie übernehmen das schlichte Welt- und Gesellschaftsbild der Altvorderen, demzufolge "die da oben" alles bestimmen und "wir hier unten" nichts zu sagen haben. Das treffe auf die DDR ebenso wie auf das wiedervereinigte Deutschland zu, wo auch staatliche Maßnahmen als "alternativlos" bezeichnet werden.

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Viele Ostdeutsche empfinden weiterhin die Kritik an der sozialistischen Diktatur als Angriff auf ihre Person. Sie differenzieren nicht zwischen System und Lebenswelt und fordern mehr Anerkennung auch für das System. Doch die kann und darf es pauschal nicht geben. Der individuellen Lebensleistung gebührt Anerkennung, unabhängig davon, in welchem System die Person gelebt hat. Gerade an dieser Differenzierung mangelt es bis zum heutigen Tag.

Im Westen fühlt man sich noch immer überlegen

Westdeutsche rechnen sich die Überlegenheit ihres Systems auch persönlich zu und werten gleichzeitig Ostdeutsche gemeinsam mit ihrem alten System ab. Erst wenn dieses Missverständnis ausgeräumt ist, kann das Zusammenwachsen ohne individuelle oder sogar kollektive Kränkungen gelingen. Dabei darf jedoch die notwendige Delegitimierung der sozialistischen Diktatur nicht zugunsten der Anerkennung individueller Lebensleistungen aufgegeben werden.

Die öffentliche Wahrnehmung hebt zumeist fortbestehende Unterschiede und Probleme des Wiedervereinigungsprozesses hervor und übersieht oft die positiven Seiten. So gerät aus dem Blick, dass die Umwelt in den ostdeutschen Ländern flächendeckend saniert und die Infrastruktur umfassend modernisiert wurde. Viele nahezu zerstörte Innenstädte erstrahlen in neuem Glanz. Aber auch der Einzelne profitiert von der schnellen Wohlstandsangleichung und der Verbesserung des Gesundheitswesens.

Die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung deutlich niedrigere ostdeutsche Lebenserwartung hat sich zumindest bei Frauen dem westdeutschen Niveau angeglichen. Gleiches gilt für die Selbsttötungsrate, die in der DDR deutlich höher als in der Bundesrepublik war. Seit der Jahrtausendwende sind sich die Deutschen in West und Ost zudem einig, dass die Wiedervereinigung ein Grund zur Freude und nicht zur Sorge ist.

Kurzum: Die Lage ist besser als die Stimmung! Trotz aller Widrigkeiten und Probleme kann die deutsche Wiedervereinigung als eine Erfolgsgeschichte charakterisiert werden, auf die wir stolz sein dürfen.

Verwendete Quellen
  • Professor Klaus Schroeder leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind die deutsche Teilung und Wiedervereinigung sowie der linke und rechte Extremismus.
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