Landtagswahlen im Osten Denkzettel der Unzufriedenen - und nun?
Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ergeben ein unübersichtliches Bild. Das Regieren in den nächsten Jahren dürfte enorm kompliziert werden. Einen gemeinsamen Nenner gibt es dennoch.
Die Wählerinnen und Wähler in Thüringen und Sachsen haben der Politik eine schwierige Aufgabe aufgetischt - vielleicht sogar ein nahezu unlösbares Puzzle. Erstmals ist die AfD nach einer Landtagswahl stärkste Kraft. In Thüringen schaffte die Rechtsaußenpartei das mit großem Abstand vor der CDU. In Sachsen lieferte sie sich mit der Union am Wahlabend ein Fotofinish. Doch wird die AfD wohl mangels Partnern nirgends regieren. Anders der Senkrechtstarter des Jahres: Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) könnte dank zweistelliger Ergebnisse in beiden Ländern mitmischen - vorausgesetzt, es finden sich völlig neue Konstellationen zusammen.
Die thüringische BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf schien von den ersten Prognosen für ihre Partei von 14,5 bis 16 Prozent der Stimmen denn auch überwältigt. "Ich habe Gänsehaut, ich geb"s zu", sagte die ehemalige Linken-Politikerin und Bürgermeisterin von Eisenach bei der BSW-Wahlparty mit Blick auf den Erfurter Dom. Sie sprach von einem historischen Moment. Mit Parteigründerin Sahra Wagenknecht lag sie sich in den Armen, immer wieder brandete Jubel auf. Es handele sich um einen "riesigen Vertrauensvorschuss", sagte Wolf. "Wir versprechen diesem Land: Wir lassen euch nicht allein."
AfD sieht "historischen Sieg" in Thüringen
Die AfD, die nach Hochrechnungen in Thüringen deutlich über 30 Prozent und damit weit vor der CDU lag, ließ die Öffentlichkeit an Jubelszenen nicht teilhaben - sie hatte kurzfristig alle Journalisten von der Wahlparty ausgeschlossen. Spitzenkandidat Björn Höcke sprach aber beim Verlassen der Party von einem "historischen Sieg", bevor er in den Landtag abfuhr. Aus dem für die Medien geschlossenen Partylokal drangen entfernt Applaus sowie Sprechchöre: "Höcke, Höcke" und "Jetzt geht"s los".
Forderungen formulierte derweil AfD-Bundeschefin Alice Weidel im Fernsehen: Unter normalen Umständen sei ja die stärkste Partei mit Sondieren am Zuge - alles andere wäre "Ignorieren des Wählerwillens", sagte Weidel in der ARD. Im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass die Partei in Thüringen voraussichtlich eine sogenannte Sperrminorität von mehr als einem Drittel der Landtagsmandate hat und theoretisch wichtige Entscheidungen blockieren könnte. Das wolle man aber "auf keinen Fall missbrauchen", versicherte Höcke. Blieb unterm Strich: Die AfD ist stark, aber weit von einer eigenen Mehrheit entfernt - in Thüringen wie auch in Sachsen, wo sie nach Hochrechnungen mit Werten um die 31 Prozent hauchdünn hinter der CDU von Ministerpräsident Michael Kretschmer lag.
In Sachsen hat Kretschmer Chancen, im Amt zu bleiben. In Thüringen hingegen muss Regierungschef Bodo Ramelow nach einem Absturz seiner Linken das Heft wohl an den Zweitplatzierten abgeben, CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt. Wer in beiden Ländern mit wem regieren wird, dürfte sich erst in den nächsten Wochen abzeichnen. Klar schien am Sonntagabend nur, dass die AfD dabei vermutlich nichts zu melden haben würde. André Wendt, Landtagsvizepräsident in Sachsen, räumte ein, dass er mit einem besseren Ergebnis gerechnet hätte. "Mir ist bewusst, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen." Er persönlich sei "glücklich, aber nicht überglücklich".
Parteiensystem unter Druck
Wenn eine gemeinsame Botschaft in diesem komplizierten Wahlergebnis steckt, dann vielleicht die: Es ist ein Denkzettel der Unzufriedenen. Mehr als 40 Prozent in beiden Ländern gaben ihre Stimme zwei populistischen Parteien, die fast alles infrage stellen, was die sogenannten Etablierten bisher im Angebot haben. Die in Berlin Regierenden werden abgestraft, die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP, aber auch die Linke. Die Union schleppt sich ins Ziel. Die bittere Ironie: Das absehbar schwierige Regieren in beiden Ländern könnte den Frust vieler Menschen nur noch weiter aufbauen. Das Parteiensystem steht gewaltig unter Dampf. Das gilt nicht nur in Ostdeutschland, aber besonders da.
Das BSW um die frühere Linke Wagenknecht will nicht mit der AfD zusammenarbeiten und auch nicht in einen Topf geworfen mit der Partei werden, die sowohl in Thüringen als auch in Sachsen vom jeweiligen Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch gewertet wird. Tatsächlich passt das BSW in keine bekannte Schublade. Wagenknecht vertritt bei der Begrenzung der Migration und bei der Ablehnung der Militärhilfen für die Ukraine eine ähnliche Linie wie die AfD, steht aber sozial- und wirtschaftspolitisch eher links. Nach Einschätzung von Meinungsforschern lebt sie eher von linken Wählern - während die AfD auf einen erheblichen Prozentsatz von Anhängern mit stramm rechten Ansichten zählen kann.
Die "Gegen-die-da-oben-Parteien"
Doch beiden gemeinsam ist das Selbstverständnis als "Gegen-die-da-oben-Parteien". Sie feuerten scharfe Breitseiten gegen die Regierenden, insbesondere gegen die Ampel in Berlin. Sowohl AfD als auch BSW sprechen ihnen fast jede Eignung zur Problemlösung ab. Sie malen den Zustand des Landes in den düstersten Farben und bieten sich selbst als Retter an. "Unser Land ist in keiner guten Verfassung", hieß es schon im BSW-Gründungsmanifest.
Damit trafen sie einen Nerv. Denn das Vertrauen in die herkömmlichen Parteien und in das Funktionieren der Demokratie schwindet in beiden Bundesländern. In der zu Jahresbeginn vorgestellten Umfrage Sachsen-Monitor sagten 81 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass die meisten Politiker nur die Stimmen der Wähler haben wollen. In einer ähnlichen Umfrage in Thüringen, dem Thüringen-Monitor, gaben nur 45 Prozent der Befragten an, mit der Praxis der Demokratie zufrieden zu sein - obwohl die Staatsform der Demokratie grundsätzlich von 88 Prozent befürwortet wird.
Ängste vor Verbrechen und Migration
Hinzu kommen ganz aktuell große Ängste. Nach an diesem Wochenende veröffentlichen Zahlen des ARD-Deutschlandtrends machen sich in Sachsen und Thüringen 77 Prozent der Menschen große Sorgen, dass die Kriminalität künftig massiv zunimmt. 67 Prozent fürchten, dass zu viele Fremde ins Land Kommen, 55 Prozent, dass die ihren Lebensstandard nicht halten können. Nur 39 Prozent in Sachsen schätzten in der Umfrage für die ARD die wirtschaftliche Lage als gut ein, in Thüringen gar nur 30 Prozent.
Zudem bricht sich 34 Jahre nach der Vereinigung der Frust Bahn. In der ARD-Umfrage sagten jeweils drei von vier Befragten in beiden Ländern, dass Politik und Wirtschaft immer noch zu stark von Westdeutschen bestimmt seien und dass Ostdeutsche an vielen Stellen immer noch "Bürger zweiter Klasse" seien. Alles zusammen eine gesellschaftlich explosive Gemengelage, die sich in den Wahlergebnissen spiegelt.
AfD und BSW bestärkten jeweils auf die eigene Weise die Zweifel am "System", an parlamentarischen Abläufen, an herkömmlichen Medien, an der Meinungsfreiheit. Höcke sprach noch am Samstag beim Wahlkampfabschluss von einer "Kartellparteienherrschaft", von Medien, die "gekauft" seien. Es sei "egal, was ihr wählt", alle Parteien "lösen unser Deutschland auf wie ein Stück Seife unter dem Wasserstrahl". Nur die AfD sei anders.
Parteigründerin Wagenknecht sagte ihrerseits im Wahlkampf, das BSW sei angetreten, "damit die Menschen, die protestieren wollen, wütend sind, damit die Menschen, die sich Veränderung wünschen, damit die eine seriöse Alternative haben, die sie wählen können und die wirklich etwas in ihrem Sinne verändert und die Bundesparteien unter Druck setzt."
Große Erwartungen geweckt
Beide Parteien haben große Erwartungen geweckt, dass sie einen "Neuanfang" anstoßen. Höcke beharrte bis zum Schluss darauf, dass er Ministerpräsident werde und bald alles ganz anders laufe. Doch ohne Partner bleibt der AfD nur die Opposition. Das BSW hingegen könnte bald in die Situation kommen, sich in Regierungsverantwortung zu beweisen. Vorher müssten sich allerdings quasi Öl und Wasser verbinden: Der mögliche Partner CDU ist von Positionen des BSW teils meilenweit entfernt. Wagenknecht hat zudem kaum erfüllbare Bedingungen in der Ukraine-, Russland- und Nato-Politik gestellt.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann kanzelte sie ab: "Ich kann nur sagen, in Erfurt wird nicht die Weltpolitik gemacht", sagte er im ZDF. Wagenknecht aber hielt am Wahlabend dagegen: "Was wir natürlich nicht machen werden, ist eine Regierung, die die Menschen enttäuscht, sondern wir möchten eine Regierung, die gerade diese Hoffnungen, auch diese Erwartungen erfüllt." Die CDU solle sich ihrer Verantwortung bewusst sein.
- Nachrichtenagentur dpa