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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Welthungerhilfe Durch Corona "schwere Rückschläge bei Bekämpfung des Hungers"
Kinder, die arbeiten oder heiraten müssen, dazu häufiger Mangelernährung: Die Welthungerhilfe blickt darauf, wie sich in Pandemiezeiten Armut und Not zugespitzt haben.
Die Welthungerhilfe sieht viele ihrer schlimmen Befürchtungen zu den Folgen der Corona-Krise bestätigt. Einer Untersuchung mit 16.000 Haushalten in 25 Ländern ergab, dass Ende 2020 fast die Hälfte der Menschen weniger zu essen hatte. Die "alarmierenden Ergebnisse" hätten sich für das erste Halbjahr 2021 bewahrheitet, erklärte Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe.
Im Jahresbericht, der am Mittwoch vorgestellt wird, heißt es, es habe wegen der Coronapandemie "schwere Rückschläge bei der Bekämpfung des Hungers" gegeben. Mogge sagte zu t-online: "Die aktuellen Rückmeldungen unserer Kollegen aus den Ländern zeigen deutlich, dass das tägliche Leben der Menschen schwerer geworden ist. Kinder gehen nicht mehr in die Schule, Mahlzeiten werden gestrichen."
Die Welthungerhilfe hat t-online exklusiv Einblick in die Einschätzung von Länderverantwortlichen gegeben. Mehr als 3.000 Mitarbeiter arbeiteten 2020 für 539 Auslandsprojekte.
Folgen der Pandemie treffen auf Auswirkungen der Klimakrise
Oft verstärkten sich demnach Krisen gegenseitig – Folgen der Pandemie trafen auch auf Auswirkungen der Klimakrise. Die Programmländer seien meist besonders betroffen; Überschwemmungen, Dürren oder Stürme treten demnach heftig und viel häufiger auf. So schildern Welthungerhilfe-Mitarbeiter zu im Fokus stehenden Krisenherden beispielhaft aus einzelnen Ländern ihre Perspektive:
- Türkei: Durch die Wirtschaftskrise in der Türkei mit einer Inflation von fast 12 Prozent und einer Arbeitslosenrate von 13,1 Prozent verschlechterte sich die Situation für Flüchtlinge massiv. Viele verloren ihre prekären Beschäftigungen. Ihre Lebenshaltungskosten sind jetzt im Schnitt doppelt so hoch wie das monatliche Einkommen. Die Folgen: Flüchtlinge essen weniger, borgen sich Geld. Kinderarbeit nimmt zu, Kinder- und Zwangsheiraten steigen an.
- Tadschikistan: Weil coronabedingt die Grenze zu Russland geschlossen wurde, entfiel für etwa jeden zehnten Einwohner die Möglichkeit, dort Geld für lebensnotwendige Rücküberweisungen an die Familien zu verdienen. Auf dem Land lebten viele Haushalte nur davon. Weizenmehl und Speiseöl – importierte Grundnahrungsmittel – sind dramatisch teurer geworden. Menschen nehmen Kredite zu hohen Zinssätzen auf oder verkaufen ihre Haushaltsgüter.
- Bolivien: Die Armutsrate steigt auf 36 Prozent, das Land fällt damit bei Hunger- und Armutsbekämpfung zurück in eine Situation von vor 20 Jahren. Wachsende Armut verschärft den Zugang zu Nahrungsmitteln, die sich auch stärker verteuert haben als andere Produkte. Viele Menschen können sich keine gesunden Nahrungsmittel mehr leisten. Oft trifft es besonders die indigene Bevölkerung.
- Syrien: Die ohnehin katastrophale Wirtschaftslage durch den Krieg hat sich durch die Pandemie verschärft. Bei Durchschnittseinkommen von 24 Dollar im Monat und einer Inflation von im Schnitt 200 Prozent können zwei Drittel der Bevölkerung Grundbedürfnisse nicht mehr decken. Aktuell kommt eine weitere Dürre hinzu. Nothilfe wird immer wichtiger, ohne Rücküberweisungen aus dem Ausland könnten viele Familien nicht leben. Von Frauen geführte Haushalte sind am stärksten davon betroffen,
- Nepal: Corona hat zu Job- und Einkommensverlusten sowie Inflation geführt, Nahrungsmittel wurden um 10 bis 20 Prozent teurer. Besonders hart getroffen hat das etwa Tagelöhnerinnen, Tagelöhner und Menschen, die wegen Corona in ihre Heimat Nepal zurückkehren mussten. Rücküberweisungen für viele Arme sanken, zugleich hat die Regierung Notleidende nicht unterstützt.
- Äthiopien: In Teilen des Landes überlagern sich Dürre, Heuschreckenplage und Corona, Vieh stirbt aufgrund eines Futtermangels. Die meisten Lebensmittel kosten jetzt dreimal so viel oder sind nicht verfügbar. Lokale Märkte funktionieren nicht mehr und Importe sind teuer. Ohne Aufstockung von humanitärer Hilfe gibt es wachsenden Hunger. Aus Angst vor Corona suchen viele Menschen auch keine Hilfen in der Hauptstadt.
- Haiti: Wirtschaftskrisen mit politischen Unruhen gab es schon vor Corona, die Rezession (minus 3,8 Prozent im Jahr 2020) hat dies verschärft. Überraschend ist, dass nach Haiti die Rücküberweisungen aus dem Ausland sogar um 6 Prozent gestiegen sind – das federt schlimmste Nöte ab. In zehn Regionen herrscht dennoch seit Mai 2021 eine Hungerkrise, verschärft durch zu wenig Regen.
- Uganda: Ein Jahr der geschlossenen Schulen bedeutet für rund 15 Millionen Kinder nicht nur fehlende Bildung. Viele Kinder sind auch deutlich schlechter ernährt. In armen Haushalten spielten die Schulmahlzeiten eine wichtige Rolle, fehlende Schulspeisungen sind auch in Nachbarländern ein Problem. Kinderarbeit, Teenagerschwangerschaften und Frühverheiratungen nehmen zu, viele Kinder kehren nach dem Lockdown nicht mehr zurück in die Schulen.
Für die Welthungerhilfe heißt das, dass insgesamt mehr Mittel bereitgestellt werden müssen. "Dies muss auch beim nächsten Bundeshaushalt berücksichtigt werden. Wir werden in den kommenden Jahren schlichtweg mehr Geld brauchen, ob für den Ausbau der Gesundheitssysteme, die Krisenprävention oder den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen", sagt Generalsekretär Mogge.
Am Mittwoch will die Welthungerhilfe auch genaue Zahlen vorlegen, wie viele Spenden sie für ihre Arbeit erhalten hat und wie viel sie fördern konnte. Das zumindest ist offenbar eine gute Nachricht: Hilfsbereitschaft und Solidarität der Bevölkerung in Deutschland seien groß gewesen, heißt es.
- Gespräch mit Mathias Mogge
- Welthungerhilfe