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Krise der Debattenkultur: "Furcht vor dem medialen Fegefeuer"


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Sprachliche Aufrüstung
"Furcht vor dem medialen Fegefeuer"

InterviewVon Stefan Rook

Aktualisiert am 06.03.2021Lesedauer: 8 Min.
Gestritten wird derzeit viel – in der Politik und in den sozialen Medien: Was macht diese Daueraufgeregtheit mit uns?Vergrößern des Bildes
Gestritten wird derzeit viel – in der Politik und in den sozialen Medien: Was macht diese Daueraufgeregtheit mit uns? (Quelle: imago images/Arnulf Hettrich/Getty Images)

Sind wir alle zu heiß gelaufen? Es wird immer gereizter und aufgeregter gestritten. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erklärt, was falsch läuft, wie Trump mit seinen Lügen durchkam und was sich ändern muss.

Viel und laut wird derzeit debattiert – in Deutschland und der Welt. Doch gelingt uns noch wirkliche Kommunikation und Auseinandersetzung? Was macht die Dauerverfügbarkeit von Meinungen und Informationen mit uns? Und wie konnte Donald Trump mit all seinen Lügen durchkommen?

Bernhard Pörksen analysiert die "große Gereiztheit" und "kollektive Dauererregung" in Gesellschaft und Politik. Im Interview beschreibt er den Zustand und Mechanismus der Erregungskreisläufe in politischen Debatten und sozialen Netzwerken – und gibt einen Ausblick, was uns im Superwahljahr erwartet.

t-online: Jedes große Ereignis wird in- und außerhalb der Medien über eine Story, eine Geschichte erzählt und erinnert. Die Story der Corona-Pandemie in Deutschland ist derzeit: Versagen und Scheitern – vor allem der Politik. Wie kam es zu diesem Kommunikationsdebakel? Was waren die größten Fehler?

Bernhard Pörksen: Ach, es wäre schön, wenn alles nur ein Kommunikationsproblem wäre, das sich durch ein paar Pressekonferenzen, präziseres Erklären und ein paar weitere Kanzlerinnen-Interviews lösen ließe. Aber das Problem liegt tiefer. Das stimmungsgetriebene, verzweifelte Debattieren, die populistischen, wissenschaftsfernen Forderungen einzelner Ministerpräsidenten, die immer neuen Ankündigungen des Gesundheitsministers – all dies überdeckt die faktische Handlungsschwäche der Regierung, die sich im Moment zeigt.

Woran machen Sie dies fest?

Es gibt die Mutationen und die ernste Gefahr einer dritten Welle. Es gibt zu wenig Impfstoff, zu wenig Tests, keine ausreichende Kontaktverfolgung durch die Gesundheitsämter, eine nicht funktionierende App. Und auch nach einem Jahr wissen wir hierzulande viel zu wenig über die Ausbreitungs- und Ansteckungswege. Die Folge: Es klafft eine beständig größer werdende Begründungs-Lücke zwischen den Zumutungen, die die Bevölkerung seit fast einem Jahr auszuhalten hat, und der fehlenden Effizienz der Virusbekämpfung. Diese Lücke lässt sich nicht durch eine noch so raffinierte Rhetorik der besänftigenden Appelle heilen, das wäre ganz illusionär. Und noch etwas: Die Corona-Bekämpfung ist das größte Parallelexperiment im vergleichenden Regieren. Das bedeutet, dass unabweisbar deutlich wird, wie ungleich viel effektiver andere Staaten und Nationen handeln. Auch das verstärkt die allgemeine Enttäuschung.

Sind schon die Formulierungen "Versagen", "Scheitern" und "Debakel" ein Hinweis auf den Zustand der öffentlichen Debatten, auf "die große Gereiztheit" wie eines Ihrer Bücher heißt?

Ich denke nicht, nein. Meine Diagnose der großen Gereiztheit war vor allem mediendiagnostisch gemeint. Die Kernthese: Vernetzung verstört. Denn wir kommen uns im digitalen Dorf unvermeidlich zu nahe, sehen das Bestialische, Banale und Berührende zu schnell, zu direkt, zu unmittelbar und auf einem einzigen Kommunikationskanal. Und driften schon allein deshalb in eine Grundstimmung der rauschhaften Nervosität. Die aktuelle Gereiztheit scheint mir primär ereignisbedingt, nicht medienbedingt. Sie ist das Resultat von realer Verzweiflung und existenziellen Sorgen.

Und doch: Polarisieren und Eskalieren werden zum Normalfall. Die Daueraufgeregtheit in der öffentlichen Kommunikation vor allem in und durch die sozialen Medien führt zu Erschöpfung. Die Erschöpfung wiederum sorgt für eine große Gereiztheit, die in Aggression umschlagen kann. Wie entkommt man dieser "toxischen Situation" der "Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters", wie Sie es nennen?

Aus meiner Sicht leben wir in einer Übergangsphase der Medienevolution. Die Mediendemokratie alten Typs, organisiert um zentrale journalistische Gatekeeper am Tor zur öffentlichen Welt, wird schwächer, die Macht intransparent agierender Plattformen größer. Und gleichzeitig kann sich heute jede und jeder barrierefrei zuschalten, die eigenen Ideen und Empörungsangebote ganz unmittelbar in die Erregungskreisläufe einspeisen. Mein Punkt ist: In dieser Situation steckt ein großer, noch unverstandener Bildungsauftrag...

Also, was tun?

Wir müssen medienmündig werden, weil wir, die man früher und in einer anderen Epoche das Publikum genannt hätte, längst medienmächtig geworden sind. Meine Bildungsvision nenne ich die redaktionelle Gesellschaft. Die Grundidee besagt, dass in den Maximen des guten Journalismus eine allgemeine Ethik für die Kommunikation im digitalen Zeitalter steckt. Diese Maximen sind heute für jeden nützlich, so meine These. Sie lauten beispielsweise: "Prüfe erst, publiziere später... verlasse Dich nie nur auf eine einzige Quelle. ... höre immer auch die andere Seite... mache ein Ereignis nicht größer als es ist und orientiere Dich an Relevanz und Proportionalität."

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: der Medienwandel im digitalen Zeitalter, Krisen- und Reputationsmanagement, Kommunikationsmodelle und Kommunikationstheorien, Inszenierungsstile in Politik und Medien und die Dynamik von Skandalen als Spiegel aktueller Wertedebatten. Zuletzt schrieb er mit Friedemann Schulz von Thun das Buch "Die Kunst des Miteinander-Redens: Über den Dialog in Gesellschaft und Politik".

Deeskalation und sprachliche Abrüstung scheinen notwendig zu sein. Sie fordern in Ihrem jüngsten Buch "Die Kunst des Miteinander-Redens", das sie zusammen mit Friedemann Schulz von Thun geschrieben haben: "Wer das Kommunikationsklima verbessern will, muss das Zögern lernen, das Abwarten, die zunächst vorsichtige, um Genauigkeit ringende Bewertung." Wie realistisch ist diese Forderung im Zeitalter der digitalen Sofortberichterstattung?

Nicht sehr realistisch, zugegeben. Das ist Idealismus pur, denn die Anreize sozialer Netzwerke und des Clickbait-Journalismus begünstigen einen kommentierenden Sofortismus. Sie belohnen den Hype, den Superlativ, das Extrem. Und wir wissen aus zahlreichen Studien: Was emotionalisiert, funktioniert – und bindet Aufmerksamkeit, die es dann erlaubt, die Datenspuren der Userinnen und User optimal für die Werbung auszubeuten. Eben deshalb ist es so notwendig, dass die Medienbildung mit aller nötigen Entschiedenheit in der Schule beginnt. Die Schule wäre der richtige Ort, um der Idee einer redaktionellen Gesellschaft zumindest schrittweise näherzukommen.

Ein Beispiel für misslungene Kommunikation aus den letzten Wochen: Der Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter wird in einem Interview gefragt, ob die Grünen den Neubau von Einfamilienhäusern generell verbieten wollen. Das verneint er sehr deutlich, macht aber zugleich auf die negativen ökologischen Folgen von Einfamilienhäusern in bestimmen Regionen Deutschlands aufmerksam. Daraus wird in der öffentlichen Debatte dennoch: "Die Grünen wollen Einfamilienhäuser verbieten." "Die Grünen werden wieder zur Verbotspartei." Was ist da schiefgelaufen, was hat Anton Hofreiter falsch gemacht?

Wenig. Das ist ein Beispiel für die totale Ritualisiertheit der Empörungskommunikation, für die Paradoxie erstarrter Erregung. Das Ganze fällt in die Kategorie der berechnend produzierten Aufreger, an denen alle ihren Anteil haben: Boulevardjournalisten, die ein paar vermeintlich skandalös schillernde Sätze herausgreifen, politische Gegner, die sofort mit maximaler Eskalationsbereitschaft draufhauen. Und natürlich auch das Publikum, das klickt und teilt, was ihm da angeboten wird. Man sieht hier wie unter einem Brennglas, dass mediale Aufregung in einem Netz von Feedbackschleifen organisiert ist, getrieben von Klicks und Likes, dem Interesse am Hype und dem schnellen Aufmerksamkeitserfolg. Alle haben daran ihren Anteil. Irgendwann geht es vor allem um die Reaktionen auf die Reaktionen. Und das eigentlich relevante Thema, nämlich die absolut notwendige Suche nach gleichermaßen sozialverträglichen und klimafreundlichen Wohnkonzepten, verschwindet aus dem Blickfeld.

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Das Beispiel zeigt: Politikerinnen und Politiker müssen bei ihren Äußerungen immer schon die mögliche Eskalation, den nächsten möglichen Shitstorm mitdenken. Ist das ein Grund dafür, dass Interviews mit Politikerinnen und Politikern oft so langweilig erscheinen?

Absolut. Die Angst vor dem Schlagzeilen-Gewitter oder auch der Twitter-Attacke läuft immer mit, das zeigen inzwischen verschiedene Befragungen. Und diese Furcht vor dem medialen Fegefeuer ist definitiv keine gute Nachricht für eine freie, erörternde, im besten Sinne experimentierfreudige Debatte, die den Krisen der Gegenwart mit der nötigen Wachheit und dem nötigen Ideenreichtum begegnet. Für Politikerinnen und Politiker entsteht hier ein schwer auflösbares Kommunikationsdilemma. Zeigt man sich authentisch und kantig, wird man angreifbar. Floskelt man sich so durch, quittieren dies Medien und Publikum gerne auch mit Verachtung.

Schauen wir auf ein Extrembeispiel außerhalb Deutschlands: Donald Trump hat die Lüge zum Programm gemacht. Immer wieder hat er bewusst und gezielt gelogen – und blieb bei seinen Lügen, selbst wenn sie leicht zu entlarven waren. Die Omnipräsenz in den Medien war ihm damit sicher. Aber wie geht man mit jemandem um, für den Wahrheit keinen Wert hat? Was macht das mit der politischen Debatte? Entzieht sie ihr nicht eine wichtige Grundlage?

So ist es, ja. Allerdings ist die Causa Trump aus meiner Sicht ein Anlass für Selbstkritik, durchaus auch im Feld des seriösen Journalismus. Denn Trump ist ein Mediengeschöpf, durch und durch. Er hat seine politische Laufbahn mit einer Lüge begonnen und beendet. Am Anfang im Jahre 2011 stand die bizarre, durch nichts belegte Behauptung, Barack Obama sei gar nicht in den USA geboren und daher gar nicht dazu berechtigt, das Amt des Präsidenten auszuüben. Dieser rassistische Nonsens, den Trump zunächst im Frühstücksfernsehen von Fox News verbreitete, wurde dann von zahlreichen Medien aufgegriffen. Und mit jeder Menge publizistischem Sauerstoff versorgt. Am Schluss seiner Amtszeit fand sich die Behauptung des Wahlbetrugs, der global Thema war – auch hier fehlte jeder Beleg. Man sieht gerade an diesen Beispielen: Schon der Widerlegungsversuch kann kontraproduktiv sein, denn er legitimiert den Nonsens, wertet ihn auf, macht die Idiotie erst bekannt. Der Typus des skrupellosen Lügners kann aus einem solchen Aufmerksamkeitserfolg für sich Kapital schlagen.

Am Ende von Trumps Amtszeit steht der Sturm auf das Kapitol in Washington. Zeigt uns diese Entwicklung, wie gefährlich es werden kann, wenn die öffentliche Debatte – gefüttert von Lügen – zu erregt, zu gereizt wird? Wenn die Anhänger von Trump seine Lügen für die Wahrheit, die Realität halten und sich durch sie aufgefordert fühlen zu handeln?

Ich denke schon, ja. Wir erleben in den US-Medien etwas, was man eine asymmetrische Polarisierung nennen könnte, einen Wettkampf und eine Auseinandersetzung auf verschiedenen Spielfeldern mit radikal unterschiedlichen Regeln. Auf der einen Seite findet sich der klassische Journalismus, orientiert am Ideal der Objektivität, bemüht um Ausgewogenheit, Fairness, Faktizität. Und auf der anderen Seite steht ein ultrakonservatives, eng verflochtenes Medienmilieu, in dem beispielsweise der Murdoch-Sender Fox News einen zentralen Knotenpunkt bildet. Hier werden im Verbund mit rechten bis rechtsextremen Netzportalen permanent Falschmeldungen in die Erregungskreisläufe hineingepumpt, die das Ökosystem der Information verschmutzen. Das Problem: Eine endlos wiederholte Lüge wird durch ständige Wiederholung zur gefühlten Wahrheit und irgendwann zum Handlungsmotiv der Gläubigen.

Befinden wir uns also an einem Wendepunkt der politischen, aber auch persönlichen Rhetorik und Kommunikation – Sie nennen es "kommunikativer Klimawandel"? Sind wir im Übergang von einer Daten- und Fakten-Gesellschaft zu einer Meinungsgesellschaft – das allerdings ohne Anleitung, wie wir mit der Vielzahl von Meinungen, die uns erreichen, umgehen?

Ja, es stimmt: Es gibt jede Menge Meinungen, haltlose Spekulationen, Desinformation. Aber das ist noch nicht das ganze Bild. Die These unseres Buches über "Die Kunst des Miteinander-Redens" lautet: Wir leben, kommunikationsanalytisch betrachtet, in einer Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten. Zum einen findet man das postfaktische Spektakel, Hass und Hetze, enthemmte Formen der Aggression, insbesondere im Netz. Zum anderen regiert mitunter auch eine schnell entzündliche, vorschnell moralisierende Hypersensibilität, die bei dem so wichtigen Versuch, unnötige Kränkungen zu vermeiden, neue Formen der Verspanntheit produziert. Und schließlich entdeckt man in Schulen, in Universitäten und Unternehmen oft eine von echter Wertschätzung geprägte Kommunikation, die öffentlich jedoch so gut wie nicht beachtet wird. Kurzum: Hass, Hypersensibilität, authentischer Respekt – all das findet sich gleichzeitig.

Ein Ausblick auf das Superwahljahr 2021: Bis Ende September befindet sich Deutschland – überschattet von der Corona-Pandemie – im Dauerwahlkampf. Was haben wir zu erwarten? Wird die Gereiztheit noch einmal zunehmen?

Ich denke nicht, nein. Ein harter, polarisierender, von Angriffslust und Polemik bestimmter Wahlkampf würde mich – jenseits von etwas AfD-Geschrei – total überraschen, dies gleich aus zwei Gründen. Zum einen gibt es klare Indizien für eine europaweit verbreitete Polarisierungsangst in weiten Teilen der Bevölkerung. Der konfrontative Stil und der grobe Ton wären da eher abstoßend. Zum anderen hat die aktuelle Pandemie eines offenbart: Die Gegenwartskrisen sind so massiv, dass sie die politische Phantasie, die Fähigkeit zum vorausschauenden Handeln und die Lösungskompetenz einer einzelnen Partei fundamental überfordern. Wie will man glaubwürdig in die Konfrontation gehen und die Kompetenzillusion, man könne und wisse es tatsächlich so viel besser, aufrechterhalten? In der gegenwärtigen Stimmungslage scheint mir ein Wohlfühlwahlkampf, der Zumutungen vermeidet, den unterschiedlichsten Interessengruppen alles Mögliche verspricht und sonst eher von Gemeinschafts- und Schulterschlussappellen bestimmt wird, am wahrscheinlichsten.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Bernhard Pörksen
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