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Zum journalistischen Leitbild von t-online.TV-Kritik "Anne Will" "Wir von der Intensivmedizin sagen, es ist fünf nach zwölf"
Anne Will beendet ihren Talkshow-Reigen 2020 mit einem thematischen Paukenschlag: In der letzten Sendung des Jahres diskutierte sie mit ihren Gästen den aktuell beschlossenen bundesweiten Lockdown.
"Advent, Advent, ein Lichtlein brennt…": Vorweihnachtliche und festliche Stimmung wird sich in diesem Jahr anders unter den Menschen verbreiten müssen. Obwohl die Politik mit der Leicht-Version des Lockdowns im November Hoffnung auf Weihnachten im größeren Kreis machen wollte. War das falsch? Hat die Politik mit dem Bund-Länder-Hin-und-Her Vertrauen verspielt? Das wollte Anne Will in ihrer Talkshow von ihren Gästen wissen.
Die Gäste
- Manuela Schwesig (SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern
- Kristina Dunz, Leiterin des Parlamentsbüros der Rheinischen Post
- Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
- Julian Nida-Rümelin, Philosoph und Politikwissenschaftler
- Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin
Die Positionen
"Wir von der Intensivmedizin sagen, es ist fünf nach zwölf", so der eindringliche Appell von Mediziner Janssens. "Wir brauchen ein Absinken der Zahlen." Bald sei eine Grenze überschritten: "Dann sind die Menschen nicht mehr vorhanden, die anderen Schwerkranken helfen", bezog er sich auf die hohe physische und psychische Belastung von Ärztinnen und Ärzten und Pflegepersonal. Wenn man seit Wochen jeden Morgen mit einer Neuinfektionszahl um 20.000 aufwache, dann sei Mitte November absehbar gewesen, dass Weihachten die Kliniken voll sind, so der Mediziner.
Laschet konnte nicht so ein markiges Statement abgeben. Er musste sich zuerst Wills Frage gefallen lassen, ob er in seinem "eigenen Durcheinander noch" mitkomme. Die Moderatorin bezog sich damit auf die Tatsache, dass der Ministerpräsident vor ein paar Tagen noch einen Lockdown erst nach Weihnachten befürwortet hatte. Das sei zu diesem Zeitpunkt der wissenschaftliche Rat der Leopoldina gewesen, so der Ministerpräsident. Dass die Maßnahmen nun doch vor dem Fest ergriffen werden, hänge von der Ad-hoc-Steigerung der Infektionen ab. Der schnellstmögliche Zeitpunkt für den Start sei eben Mittwoch. Schwesig sprang ihm bei. Die Landesparlamente müssten die Möglichkeit haben, die nötigen Prozesse ordentlich vorzubereiten. Laschets ergänzender Appell an die Bevölkerung: "Es müssen alle mitmachen".
Das Zitat des Abends
Das Zitat des Abends kam von Dunz, die von einem sehr persönlichen Umstand berichtete. Nicht wissend, dass sie infiziert war, besuchte sie ihre Familie. Als sie dann im Nachhinein von der Infektion erfuhr, sei sie in ein Loch gefallen. "Sie müssen am Ende damit leben, dass sie ihre Mutter, ihre Oma infiziert haben", so ihr Appell. Das müsse sich jeder bewusst machen, der nun über Besuche an Weihnachten nachdenke. "Das verwindet man nicht." Sie resümierte den Umgang in der Familie mit dem Thema: "Für mich war es sehr schwer. Ich bin drüber hinweg. Wir haben das überstanden." Begleiten wird sie es aber noch sehr lange.
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Die Zahl des Abends
Verwirrung gab es kurz, weil Dunz die für Weihnachten erlaubte Personenzahl für Treffen auf über 10 hochrechnete. So stünde es in der Verordnung: Fünf Personen aus maximal zwei Haushalten mit vier zusätzlichen Personen und deren Lebenspartnern. Kinder unter 14 nicht mitgerechnet. Laschet und Schwesig konnten nicht folgen. Das ging so weit, dass der Unionsmann selbst noch mal in die Verordnung schaute. Die Zahl sei klar. Der Nebensatz, der Dunz zu ihrer Rechnung mit den Lebenspartnern verleitete, sollte nur umschreiben, aus welcher Gruppe die vier zusätzlichen Menschen stammen dürfen, nämlich der engeren Familie.
Für Will zeigte das nur eines, "dass es einfach wahnsinnig kompliziert ist." Ob es dann nicht einfacher wäre, Weihnachten nur diejenigen zusammen feiern zu lassen, die auch zusammen wohnen, fragte sie Laschet. "Ja", antwortete der verdutzt. Das sei aber nicht die Lebensrealität in Deutschland. Janssens war sich sicher: "Es wird ein hartes Weihnachten." Die Menschen müssten Liebe eben durch Distanz ausdrücken.
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Der Aufreger des Abends
Die aktuelle Runde bei Will war nicht darauf angelegt, sich im Streit zu zerlegen. Allein Kleinigkeiten erhitzten kurz die Gemüter. Etwa als Will von Laschet und Schwesig wissen wollte, warum erst Mitte November der Beschluss fiel, die Gesundheitsämter mit der Software SORMAS vom Helmholtz-Institut zu vernetzen, obwohl diese schon seit dem Frühsommer einsatzbereit gewesen sei.
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Schwesigs etwas patzige Antwort: "Wir haben keine bessere Software blockiert." Oder als Dunz betonte, der Schutz der Risikogruppen in Alten- und Pflegeheimen sei nicht so transparent, wie man sich das wünschen würde. Antigen-Schnelltests seien vielerorts nicht vorhanden. FFP2-Masken ließen auch auf sich warten.
Die Schlussfolgerung
Daher ist es eher eine Erkenntnis, die vom Abend bleibt. Vor allem Nida-Rümelin und Janssens leiteten diese aus der Diskussion ab. Was ist nach dem 10. Januar, dem formal geplanten Ende des Lockdowns? Der Philosoph erwies sich als harter Analyst. Man habe sich schon nach dem ersten Mal "treiben lassen" und zu wenig über weitere Strategien, etwa für die Schulen und Gesundheitsämter, nachgedacht. Seine Frage: "Haben wir eine nachhaltige Strategie in Deutschland und Europa?"
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Janssens stimmte ihm zu. Die Gesellschaft müsse sich darauf einstellen, dass die ersten vier Monate 2021 ebenso hart würden. Erst bei einem Inzidenzwert von zehn bis dreißig auf 100.000 in sieben Tagen könne man von einer Normalisierung sprechen. Weil dann die Gesundheitsämter die Infektionsketten wieder nachvollziehen könnten. Dann könne man Mitte 2021 auch wieder "die Sonne aufgehen sehen".
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Nida-Rümelin plädierte zudem für eine neue Tracking-App, um die Nachverfolgung zielgenauer zu ermöglichen. Auch wenn er als Verfechter des Datenschutzes hier betonen müsse, dass dieser dann hinten anzustehen habe. Es sei aber nicht nachzuvollziehen, dass wegen des Grundrechts auf informelle Selbstbestimmung beim Thema Corona-App keine Fortschritte gemacht würden. Andererseits aber durch den Lockdown viel massiver in andere Grundrechte eingegriffen werde.
Der Faktencheck
FDP-Chef Christian Lindner forderte im Zuge der anstehenden Anti-Corona-Maßnahmen die Wahrung der Verhältnismäßigkeit. Was heißt das? Das Grundgesetz gewährt jeder und jedem elementare Freiheitsrechte. Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Schutz des Eigentums, Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung. Hinzukommt die allgemeine Handlungsfreiheit in Artikel 2, Absatz 1 oder der Auffangtatbestand der Menschenwürde in Artikel 1.
Die zentrale Frage bei der Prüfung eines Grundrechts ist die Definition des Schutzbereichs. Der Staat darf mit hoheitlichen Maßnahmen nur in diese Schutzbereiche eingreifen, wenn eine gesetzliche Legitimation vorliegt. Die Juristen sprechen hier von einer Schranke für ein Grundrecht. Corona-Verordnungen der Bundesländer gehören dazu. Doch nichts ohne doppelte Absicherung: Auch diese Schranken müssen sich an Maßstäben messen lassen. Das ist die Verhältnismäßigkeit. Denn nicht jeder Eingriff, der zielführend ist, ist auch sinnvoll.
Staatliche Eingriffe in ein Grundrecht müssen dabei geeignet und erforderlich sein. Dazu kommt die "Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn". Vier Worte, die ein maßgebliches Ordnungsprinzip unserer Rechtsordnung bestimmen. Es geht hier um die gerichtliche Abwägung zwischen den Dingen, die für die Beschränkung des Grundrechts sprechen oder den Schutz des Freiheitsgrundrechts stützen.
- Redaktionsnetzwerk: "Lindner pocht auf Verhältnismäßigkeit bei neuen Anti-Corona-Maßnahmen"
- Eigene Recherchen