Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Bedrohte Pressevielfalt Die hässliche Fratze des Kapitalismus
Es ist eine lokale Nachricht, hat aber für Deutschland Bedeutung: In Erfurt will ein Medienkonzern eine Druckerei schließen. Das Fundament der Demokratie ist berührt, schreibt Carsten Schneider (SPD) im Gastbeitrag.
Was waren das für warme Worte am Wochenende! 30 Jahre Einheit. Vieles erreicht, einiges bleibt noch zu tun. Aber die Bilanz: Alles in allem positiv.
Und ja, es stimmt natürlich: Weite Teile Ostdeutschlands haben sich positiv entwickelt. Allerdings hat sich der wirtschaftliche Angleichungsprozess verlangsamt, nennenswerte Konzernzentralen gibt es kaum, und auch bei der gesellschaftlichen Repräsentation in Unternehmen, Justiz, Medien und Wissenschaft stimmen die Verhältnisse nicht. Das hat Auswirkungen auf die Stabilität unserer Demokratie, die in den vergangenen Jahren und aktuell während der Pandemie unter Druck geraten ist.
Eine funktionierende Demokratie hat viele Voraussetzungen. Eine besonders wichtige ist die freie und plurale Berichterstattung der Medien.
Rendite ist bisweilen wichtiger
Leider gibt es immer wieder Beispiele, dass Unternehmen die ökonomische Rendite wichtiger ist als ihr demokratischer Beitrag.
Der jüngste Fall: die Funke Mediengruppe aus Essen, die in Thüringen drei Zeitungstitel und damit eine marktbeherrschende Stellung hat. Da lohnt es sich natürlich, auch eine eigene Druckerei zu betreiben. Oder besser gesagt: lohnte. Denn Funke will das traditionsreiche Druckzentrum in Erfurt, in dem 270 Mitarbeiter beschäftigt sind, schließen. Künftig sollen die Zeitungen in Braunschweig gedruckt werden.
Carsten Schneider ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Bundestag. Er wurde 1976 in Erfurt geboren, wuchs in der Nähe von Weimar auf und vertritt den Wahlkreis Erfurt – Weimar – Weimarer Land II im Bundestag.
Dem Konzern scheint die Verantwortung für die Leser, an denen man jahrzehntelang gut verdient hat, und der eigene Beitrag zur politischen Meinungsbildung egal zu sein. So egal, dass es wohl eher eine zufällige bittere Pointe ist, dass dem ehemals stolzen Traditionshaus Funke gerade im 30. Jahr der Deutschen Einheit die Verantwortung aus der jungen Geschichte der demokratischen Selbstermächtigung offenbar so wenig wert ist.
Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. Damals zur Wendezeit.
Die Demonstrationen im Herbst 1989 führten in Erfurt auch am Redaktionsgebäude der SED-Zeitung "Das Volk" vorbei. Die Menge skandierte damals "Schreibt die Wahrheit". Eine Gruppe Redakteure erkannte die Zeichen der Zeit. Als erste Bezirkszeitung sagte sie sich von der SED los und erschien am 13. Januar 1990 unter dem Titel "Thüringer Allgemeine". Dieser in den Endtagen der DDR noch immer mutige Schritt wäre verpufft, hätten sich nicht die Drucker der Zeitung mit der Redaktion verbündet.
"Die ganzen alten Leser auch"
In der Anfangszeit machte das Team um den gewählten Chefredakteur Sergej Lochthofen vieles richtig. Die Beschäftigten gründeten eine Mitarbeitergesellschaft und führten Verhandlungen mit potenziellen Partnern. Große westdeutsche Verlage gaben sich die Klinke in die Hand. Das Rennen machte schließlich die WAZ aus Essen. Der Konzern versprach redaktionelle Unabhängigkeit und große Investitionen.
Die WAZ sicherte sich auch zwei weitere Titel im Land, die "Thüringische Landeszeitung" und die "Ostthüringer Zeitung". Im Osten wurde das WAZ-Modell kopiert – autarke Redaktionen, die beim Anzeigengeschäft, der Werbung oder beim Druck von gemeinsamen Service-Gesellschaften betreut wurden. Bei einem Besuch soll der damalige Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt den Chefredakteur gefragt haben: "Stimmt es, dass Sie noch die ganzen alten Redakteure haben?" Sergej Lochthofen antwortete: "Ja. Was noch schlimmer ist – die ganzen alten Leser auch."
In der Tat hielt die Leserschaft ihrer Zeitung zunächst in großer Zahl die Treue. Doch von Anfang an ging die Auflage zurück. Die gedruckte Auflage war bei etwa 340.000 Exemplaren gestartet und sackte Jahr für Jahr um einige Prozentpunkte ab. Heute ist nur noch ungefähr ein Drittel der ursprünglichen Leseranzahl übrig. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Thüringer Bevölkerung geschrumpft ist. Heute lebt im Freistaat rund eine halbe Million Menschen weniger als vor 30 Jahren.
Die Auflagenverluste wurden in den Anfangsjahren durch steigende Abo-Preise mehr als ausgeglichen und die Redaktion konnte weitgehend unbehelligt arbeiten. Personell legte sie sogar leicht zu.
Erste Zombie-Zeitung der Republik
Nach der Jahrtausendwende trübte sich das Bild merklich ein und die Ausgaben wurden wie so oft zuerst beim Personal gekürzt. Doch mit einer Stelle hier oder da war es bald nicht mehr getan. Im Druckzentrum wurde nachhaltig abgebaut, die ganze Vorstufe verschwand. Havarien gehörten immer häufiger zum Alltag. Mit Geschick und Einfallsreichtum retteten die Drucker Nacht für Nacht die Auflage. Der Leiter des Druckhauses, der auf die Defizite hinwies, flog einfach raus. In Gera wurde die Druckerei schließlich ganz geschlossen.
Auch für den Mutterkonzern (heute Funke Mediengruppe) begannen härtere Zeiten. Das vielgepriesene WAZ-Modell geriet an seine Grenzen. Im Jahr 2013 wurde bis auf den Chefredakteur die ganze Redaktion der "Westfälischen Rundschau" (WR) entlassen. Seitdem wird das Blatt mit Inhalten aus anderen Redaktionen gefüllt, die WR gilt damit als erste Zombie-Zeitung der Republik. Wichtige Entscheidungen, etwa eine Digital-Strategie zu verfolgen, wurden nicht oder nur spät getroffen. Nach der Einführung des Mindestlohns nutzte man zudem die eingeräumte Übergangsfrist für die Zeitungszusteller nur zum Teil. Als es Überlegungen gab, auf die Druckausgabe in den ländlichen Gebieten ganz zu verzichten, versuchte die Konzernzentrale schnell zu beschwichtigen.
Doch nun straften die Funke-Verantwortlichen sich selbst Lügen und kündigten an, das Erfurter Druckzentrum zu schließen. Die Begründung: Investitionen in den Druckstandort Erfurt seien "aufgrund sinkender Druckauflagen" nicht zu verantworten. Das ist ein schlechtes Omen. Von der Schließung der Druckerei ist es nicht mehr weit zur kompletten redaktionellen Gestaltung von Berlin oder Essen aus. Schon jetzt werden wesentliche redaktionelle Inhalte der Thüringer Tageszeitungen andernorts produziert.
Journalismus muss vor Ort stattfinden
Das ist kein Einzelfall, viele große Regionalzeitungsverlage arbeiten so. Und dass, obwohl es für die Leser-Blatt-Bindung und damit auch den wirtschaftlichen Erfolg entscheidend ist, die Empfindungen und Sichtweisen der Menschen im Verbreitungsgebiet einer Zeitung genau zu kennen. Dies gilt nicht nur für die Inhalte, sondern auch für die Prioritäten bei der Themenauswahl. Wer eine regionale Tageszeitung abonniert, darf eine Berichterstattung mit regionalspezifischer Sach- und Kulturkenntnis erwarten.
Beispielsweise interessieren sich Leserinnen und Leser in den ostdeutschen Ländern stärker für soziale Themen, was natürlich auch ökonomische Gründe hat. Oder nehmen wir die internationale Politik: Wer Kommentare veröffentlicht, die ohne Kenntnis der jeweiligen kulturellen Lebenserfahrungen verfasst sind, sollte sich über eine wachsende Distanz zur Leserschaft und über Abokündigungen nicht wundern.
Mit der Schließung der Druckerei werden Erinnerungen an die Zerschlagung der Thüringer Kali-Industrie wieder wach. Das Kali-Werk in Bischofferode war Anfang der Neunzigerjahre zum Symbol der Proteste gegen die Treuhandanstalt geworden. Die Welle der Solidarität erfasste ganz Ostdeutschland. Der Slogan hieß: "Bischofferode ist überall".
Im aktuellen Fall geht es aber um viel mehr als nur um die Arbeitsplätze: Wer jetzt in Thüringen diese Druckerei schließt, nimmt gerade den älteren Menschen eine wichtige Informationsquelle. Für die Glaubwürdigkeit in der Berichterstattung ist die regionale Verankerung entscheidend. Wie wichtig politische Wissensvermittlung ist, können wohl zuerst die erklären, denen das Wahlverhalten der Ostdeutschen unverständlich ist. Bei diesen Entscheidungen in einer westdeutschen Konzernzentrale geht es um nichts geringeres als die Stabilität unseres demokratischen Gemeinwesens. Die Funke-Gruppe täte gut daran, sie zu überdenken.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.