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Bundestag im Livestream – Steinmeier: "Das Gift des Nationalismus sickert wieder in Debatten"


Gedenkstunde im Bundestag
Steinmeier: "Gift des Nationalismus sickert wieder in Debatten"

Von afp, dpa, dru

Aktualisiert am 29.01.2020Lesedauer: 4 Min.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Hier spricht er im Bundestag anlässlich des Auschwitz-Gedenkens.Vergrößern des Bildes
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Hier spricht er im Bundestag anlässlich des Auschwitz-Gedenkens. (Quelle: Michele Tantussi/reuters)

Anlässlich des 75. Jahrestags der Auschwitz-Befreiung gedenkt der Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus. Bundespräsident Steinmeier mahnte in seiner Rede, das Erinnern wachzuhalten.

Der Bundestag hat am Mittwoch der Millionen Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Aus Anlass des 75. Jahrestags der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen mahnten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Israels Präsident Reuven Rivlin, die Erinnerung an das Geschehene wachzuhalten und im Kampf gegen jede Form von Hass nicht nachzulassen.

Steinmeier dankte zu Beginn seiner Rede Reuven Rivlin für sein Kommen und bezeichnete es als Zeichen der Verbundenheit zwischen Deutschland und Israel. "Ich bin dankbar für dieses Zeichen. Aber mehr noch: Ich verstehe es als Verpflichtung – als Verpflichtung, uns der Hand, die Israel uns gereicht hat, würdig zu erweisen", sagte Steinmeier.

Der Bundespräsident rief dazu auf, die aus den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg erwachsende Verantwortung gegen jede Anfechtung zu verteidigen. Den Holocaust zu verschweigen oder zu verharmlosen hieße, diesen Teil deutscher Geschichte und unsere Identität zu verleugnen. "Die Shoah ist Teil deutscher Geschichte und Identität", betonte er.

Steinmeier mahnte zugleich, es müsse vermieden werden, "dass unser Gedenken zum Ritual erstarrt". Er sprach sich für eine zeitgemäßere Erinnerungskultur aus. "Wir werden neue Formen des Gedenkens finden müssen für eine junge Generation, die fragt, was die Vergangenheit mit ihnen und ihrem Leben heute zu tun hat", sagte er. Zudem müssten Antworten gegeben werden "für junge Deutsche, deren Eltern und Großeltern aus anderen Ländern zu uns gekommen sind".

"Das Gift des Nationalismus sickert wieder in Debatten"

Steinmeier zeigte sich besorgt über das Anwachsen des Antisemitismus und des Nationalismus in Deutschland. Er sprach von einer trügerischen Selbstgewissheit der Deutschen: "Ich wünschte, ich könnte, erst recht vor unserem Gast aus Israel, heute mit Überzeugung sagen: Wir Deutsche haben verstanden. Doch wie kann ich das sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten, wenn das Gift des Nationalismus wieder in Debatten einsickert."

Steinmeier sagte, die Annahme, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen, sei falsch gewesen. "Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision, als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit."

Rivlin: Deutschland darf nicht scheitern

Steinmeiers israelischer Amtskollege Reuven Rivlin mahnte zur Wachsamkeit bei jeder Form von Fremdenfeindlichkeit. Wir lebten zwar nicht in den 30er Jahren und stünden nicht am Anfang einer neuen Shoah, sagte er. "Aber wir können den neuen, alten Antisemitismus nicht ignorieren, den Rassismus und den Hass auf Fremde, der sich besonders gegen Juden, Muslime und Ausländer richtet." Rivlin hob hervor, das Beispiel des Angriffs von Halle zeige, dass Judenhass oft umschlage in Hass gegen Muslime.

Rivlin mahnte die Bundesregierung, im Kampf gegen den Hass nicht zu verzagen. "Wenn Deutschland in seinem Kampf scheitert, das Unglück zu verhindern, dann wird der Kampf auch andernorts scheitern. Wenn Juden nicht mehr an dem Ort frei leben können, von dem der Holocaust seinen Ausgang nahm, dann können sie nirgendwo in Europa mehr frei leben."

Deutschland falle hier eine besondere Aufgabe zu, sagte Rivlin: "Derselbe Staat, der der Schrecken der freien Welt geworden war, ist nun ein Leuchtturm geworden für demokratische Verantwortung, Liberalismus und moderate Kräfte." Er glaube und hoffe, sagte Rivlin, dass Deutschland und seine Regierung sich auch in den kommenden Jahrzehnten dem Hass entgegenstellen werden.

Der israelische Präsident ging auch auf die Spannungen seines Landes mit Iran ein. Er sagte, Israel stehe nicht im Konflikt mit dem iranischen Volk. Im Gegenteil. Es gebe zwischen beiden enge Verbindungen. Doch leider sei die Bedrohung, die von der Führung in Teheran ausgehe, keine theoretische. "Für uns ist sie eine existenzielle."

Schäuble: "Wer an diesem Fundament rüttelt, wird scheitern"

Zu Beginn der Feierstunde hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vor einer Verharmlosung der Nazi-Verbrechen gewarnt. "Immer wieder gab es Versuche, und es gibt sie immer noch, die Verbrechen kleinzureden. Das wird nicht gelingen", sagte der CDU-Politiker. Es gehöre zum gesellschaftlichen Grundkonsens, diese historische Verantwortung anzunehmen. "Sie ist konstitutiv für das Selbstverständnis unseres Landes. Wer an diesem Fundament rüttelt, wird scheitern."

Schäuble betonte, die Geschichte gebe keine Handlungsanleitungen. Wer sich mit ihr ernsthaft befasse, schärfe aber seine Sensibilität für Entwicklungen in der Gegenwart und könne sie besser deuten. Er mahnte, die Erinnerung an die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg wachzuhalten. "Ein heilsames Schweigen über Auschwitz gibt es nicht", sagte er.

Steinmeier war vergangene Woche auf Rivlins Einladung in Israel und hielt dort als erster Bundespräsident eine Rede in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Am Montag nahmen die beiden Präsidenten an der Zeremonie in der Gedenkstätte Auschwitz teil, von dort reisten sie gemeinsam nach Berlin. Die Gedenkstunde des Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus findet seit 1996 jährlich statt.

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur AFP
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